1Zuerst erschienen in: Florian Ebner, Susanne Gaensheimer, Doris Krystof, Marcella Lista, Centre Pompidou, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (Hg.): „Hito Steyerl. I will survive“, Leipzig: Spector Books, 2020. Mit freundlicher Genehmigung von Spector Books. „Dokumentarische Arbeiten“, hat Hito Steyerl in ihrem Buch Die Farbe der Wahrheit geschrieben, seien „Paläste der Erinnerung, die im Gegensatz zu Archiven, Dokumente nicht im Raum, sondern auch in der Zeit“ ordnen würden. Zweifellos sind ihre frühen Filme – DEUTSCHLAND UND DAS ICH, BABENHAUSEN, DIE LEERE MITTE, NORMALITÄT 1–X – solche Paläste. Das Wort „Palast“ allerdings suggeriert auch Schönheit und Verschwendung – und Betrachtende, die unter „Aahs“ und „Oohs“ durch die Räume schweifen. Solche Assoziationen treffen auf den damaligen Kontext dieser Filme sicher nicht zu. Für jemanden, zumal wenn er die frühen 1990er Jahre miterlebt hat, ist die Erinnerung daran eher klaustrophobisch.
Allerdings hat dieses Jahrzehnt alle Themen aufgeworfen, mit denen wir uns heute noch beschäftigen: die Konstitution von Gemeinwesen, die Auswirkungen von Rassismus und Antisemitismus, den Umgang mit Rechtsradikalismus, den wachsenden Einfluss populistischer Spaltungen, die Homogenisierung der Städte, die Rolle des Militärischen in „identitären“ Auseinandersetzungen, den Wandel von Öffentlichkeit und Medialität, die zunehmende Macht von Bildern und das Problem mit deren Zeugnis und „Wahrheit“. Wenn man so will, leben wir immer noch in einer Konstellation, die wir als „lange 1990er Jahre“ bezeichnen könnten.
Das Hervorbringen lebendiger Personen
Zugleich aber ist die Erinnerung an die damaligen Verhältnisse und Diskurse schwach. Das ist erstaunlich, denn die damalige Zeit war auch die Zeit, in der Aufnahme-, Speicher- und Distributionsmedien in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß zugänglich wurden. Das löste eine populäre Dokumentationswut aus, wodurch die traditionellen Archive durch eine Myriade von ständig verfügbaren, alternativen Wissensdepots ergänzt wurden. Allerdings bedeutet Dokumentieren – Steyerl verweist in Die Farbe der Wahrheit auf Jacques Derridas Gedanken zum Archiv – auch einen Schutz vor der Erinnerung, die es beschützt: Gerade die Aufbewahrung schafft die Möglichkeit zu vergessen. Und gerade weil wir durch das World Wide Web jederzeit zurückgehen und zugreifen können, tut es häufig niemand mehr. In diesem Sinne stehen die Älteren heute oft ratlos vor den Wissenslücken der Jüngeren, die sich diese Lücken erlauben können, weil scheinbar alles Wissen unentwegt zur Verfügung steht.
Die 1990er Jahre lagen aber noch in der Periode vor dem Internet, und die Arbeit des Erinnerns bestand häufig in einem mühsamen Neu-Anlegen von Archiven, in der Schaffung von alternativen Wissensbeständen. Um die Probleme der Zeit zu bearbeiten, waren die traditionellen Archive nur unzureichend ausgestattet. Für die Forschung zu Rassismus etwa gaben die historischen Archive kaum etwas her; sie hatten kein Wissen über Rassismus; die Dokumente waren in völlig anderen Rubriken zu finden oder die entsprechende Archivierung oder Sammlung war gar nicht geleistet worden. Diese Arbeit des alternativen Dokumentierens war Tätigkeit im eigentlichen Sinne, ein schwieriger Vorgang des Verbindens, Suchens und Ordnens. Hito Steyerls frühe Filme sind solche alternativen Dokumentationen, wobei sie zugleich eben die neuen Möglichkeiten der Aufnahmemedien ausschöpften: Dass plötzlich Handkameras und Computer konnten, wozu vorher nur Riesengeräte und Studios fähig waren, bereicherte die Formen des Dokumentierens enorm. In DIE LEERE MITTE betont Steyerl, sie wolle eine „Tradition verlorener Prozesse begründen“ und „dem Namenlosen einen Namen geben“. Es handelt sich um eine Notiz von Siegfried Kracauer, die dem unvollständigen und posthum veröffentlichten Werk History. The Last Things before the Last als Epilog dient. Im Original lautet der Satz: „Focus on the ‚genuine‘ hidden in the interstices between dogmatized beliefs of the world, thus establishing a tradition of lost causes; giving names to the hitherto unnamed.“ Tatsächlich ist die Kombination aus „genuine“, „causes“ und „unnamed“ bestechend. Im Film ist „causes“ als „Prozesse“ übersetzt, aber das Wort umfasst eine Gemengelage aus Angelegenheit, Anliegen, Gegenstand und Ursache. Das Erinnern bringt einst lebendige Personen hervor, aktive Personen mit Wahrheiten und Anliegen, die bislang namenlos geblieben sind. Kracauer selbst ist nicht nur Stichwortgeber, auch er wird in DIE LEERE MITTE zu einer lebendigen Person, wenn berichtet wird, dass er als Jude aus Nazi-Deutschland fliehen musste.