Transnationale Archivarbeit
Wie können sich neue Ansätze zum Umgang mit Archiv und Filmerbe etablieren, die unabhängig von einer Definition des „nationalen Filmerbes“ sind und nicht ausschließlich auf dem begrenzten Selbstverständnis eines Nationalstaates beruhen? Dass manches in dieser Hinsicht möglich gemacht werden kann, zeigen einige Projekte, die in der letzten Dekade entstanden sind.
Archive außer sich, ein Projekt des Arsenal – Institut für Film und Videokunst in Kooperation mit diversen Partnerorganisationen, versteht das Archiv – ausgehend von der Idee eines „lebendigen Archivs“ – als Ort der Produktion und schließt damit an das Vorgängerprojekt Living Archive an. In verschiedenen Forschungs-, Veranstaltungs- und Ausstellungformaten beschäftigt sich das Projekt jenseits von nationalstaatlichen oder anderen Ordnungskriterien mit kulturellem Erbe. Archive außer sich postuliert: „Erforschung, Digitalisierung und/oder Restaurierung von Archivinhalten sind Teil einer partizipativ verstandenen künstlerischen und kuratorischen Gegenwartspraxis”.
So setzt sich auch das Teilprojekt re-selected, kuratiert von Tobias Hering im Auftrag der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, kritisch mit dem Wesen des Archivs auseinander und schlägt vor, Filmgeschichte als Kopiengeschichte zu betrachten. Filmkopien werden als Geschichtsträger und „tragbare Erinnerungsorte“ (Sylvie Lindeperg) verstanden: „Das Projekt ist der Versuch, Filmgeschichte als eine Geschichte der Rezeption von Kopien zu betrachten, die individuelle Werdegänge haben und sich physisch unterscheiden.“
Ein für 2021 geplantes Projekt von bi’bak in Kooperation mit dem DOMiD nimmt die 60 Jahre des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei zum Anlass, um die Filmkopien-Bestände des DOMiD-Archivs neu zu betrachten und zu kontextualisieren. Mit wenig bekannten Filmen aus der Türkei, Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien, Gesprächsrunden und Vorträgen schaut die Reihe, die im SİNEMA TRANSTOPIA stattfinden wird, auf die sogenannten Gastarbeiter*innen. Dabei nimmt sie stereotype Narrative und bestehende Bildpolitiken auseinander, lädt zu neuen Blicken auf die Geschichte der Arbeitsmigration ein und plädiert für eine transnationale Erinnerungskultur.
Für erinnerungskulturelle Narrative einer Gesellschaft ist nicht nur die Frage „Was ist oder wird Teil eines Archivs?“ relevant. Eine entscheidende Rolle spielt auch, wie und ob die Archivbestände gepflegt und zugänglich gemacht werden.
Im letzten Jahr erschien das Buch Bitte Zurückspulen bei Archive Books als Ergebnis eines von mir geleiteten künstlerischen Forschungsprojekts mit dem gleichen Titel. Das Projekt und die Publikation widmen sich der Wiederentdeckung der deutsch-türkischen Film- und Videokultur in Berlin – einem Kapitel, das viel mehr Aufmerksamkeit in der deutschen Film- und Mediengeschichte verdient.
In Berlin lebt eine große deutsch-türkische Community, die heute ein fester Bestandteil des Berliner Kulturlebens ist. Mit dieser Community etablierte sich über die Jahre auch eine türkische Filmkultur in Berlin. Angefangen mit Vorführungen türkischer Filme in Berliner Kinos eroberte in den 1980er Jahren das türkischsprachige Video als willkommene Alternative zu den ausschließlich deutschen Fernsehsendern den Markt. Eine zentrale Rolle spielten dabei die zahlreichen Videotheken, in denen diese Filme angeboten wurden, ebenso wie der „Türkische Basar” am U-Bahnhof Bülowstraße. In den Familien wurden die Videoabende zu wichtigen sozialen Events, zu denen Nachbar*innen und Freund*innen eingeladen wurden. Neben der gesamten Palette der Yeşilçam-Produktionen mit seinen Komödien, Melodramen und Actionfilmen fanden u.a. auch in Deutschland produzierte türkische Filme Anklang, die Migrationserfahrungen und Gefühle der Entfremdung von Herkunftsregion oder Herkunftsland thematisierten und Fragen zu Identität, Religion und Familie aufwarfen. Diese Filme und ihre Ästhetik haben eine ganze Generation anerkannter deutscher Filmemacher*innen wie Thomas Arslan, Fatih Akin, Ayşe Polat u.a. geprägt. Ihre Geschichte jedoch fehlt bisher fast gänzlich in den Diskursen zum postmigrantischen Film.
Diese Filme und ihre transnationalen Narrative, sowie die dazugehörenden Orte und Akteur*innen sind ein wichtiges Zeugnis deutscher Film- und Kulturgeschichte und müssen so auch erinnert und wahrgenommen werden. Mit diesem Ziel führte ich Interviews mit noch lebenden Zeitzeug*innen, u.a. Videothekbetreiber*innen, und recherchierte in städtischen Archiven. Das Wissen anderer Expert*innen floss ebenfalls in Form von Gesprächen, Texten und Filmreihen mit in das Buchprojekt und das Programm ein.
Im Rahmen des Projekts konzipierte der Filmwissenschaftler Ömer Alkın außerdem die Filmreihe Ideologie im türkischen Kino: Die Figur der Migration und beschäftigte sich mit den in Deutschland größtenteils unbekannt gebliebenen Filmen von Yücel Çakmaklı, Halit Refiğ und Yılmaz Güney, Repräsentanten dreier ideologisch konträrer Positionen. Die migrantischen Protagonist*innen fungieren als Träger des ideologischen Programms dieser Filme und so sagen sie vieles über die deutsche Migrationsgeschichte aus. Mit kommentierten Vorführungen und einer eigens erstellten englischsprachigen Untertitelung eröffnete die Filmreihe einer breiteren Öffentlichkeit Zugang zu einem entscheidenden Depot migrationskulturellen Gedächtnisses. Der Filmemacher Cem Kaya, der selber mit den Filmen aus türkischen Videotheken in Deutschland aufwuchs, war mit seinem Dokumentarfilm Remake, Remix, Rip-off (2014) und einer anschließenden Diskussion Teil des Programms. Der Film zeichnet die Kopierpraxis („copy culture“) der türkischen Filmemacher*innen von den Anfängen des türkischen Kinos bis hin zu den heutigen Fernsehserien nach. Trotz dieser Vielzahl an Beiträgen, die im Rahmen von Bitte Zurückspulen entstanden sind, steht man am Ende eines solchen Projekts eigentlich erst am Anfang einer Forschungsreise, die unbedingt rasch fortgesetzt werden muss. Denn zeitgeschichtliche Forschungen sind immer ein Wettlauf gegen die Zeit, und in diesem speziellen Kontext umso mehr, da nicht nur das Film-, Video- und Bildmaterial sondern auch die Orte, Zeitzeug*innen und ihre Erzählungen schon im Schwinden begriffen sind. Das liegt auch daran, dass Archive in Deutschland bisher zu wenig zu Alltagspraxen marginalisierter Gruppen in der Gesellschaft geforscht und gesammelt haben. Das hätte anders sein können, wären Schwerpunkte des öffentlichen Interesses anders gesetzt worden. Hier tritt deutlich zutage, dass die Arbeit von und mit Archiven auch eine politische Praxis ist.