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[1] Bezeichnung für die türkische Filmindustrie bis in die 1990er Jahre. Das Zentrum der Filmindustrie lag damals in der Yeşilçam-Straße in Istanbul.

Die Arbeitsmigration nach Deutschland wurde nicht nur im deutschen (oder deutsch-türkischen) Film vielfach thematisiert, sie inspirierte auch viele Filme, die in oder rund um die türkische Yeşilçam-Industrie [1] entstanden und war ein wichtiger Stoff für türkische Filmemacher*innen mit oder ohne biografische Verbindung zu Deutschland – so auch für Korhan Yurtsever. Mit seinem Debütfilm FıRAT’ıN CINLERI (Der böse Geist des Euphrat) war er 1979 zu Gast im Internationalen Forum des Jungen Films. Im gleichen Jahr drehte er in Duisburg und Köln mit einem ausschließlich türkischen Team KARA KAFA (Schwarzkopf), der Duisburger Kulturdezernent Konrad Schilling und Berlins Bürgermeister Dietrich Stobbe unterstützten den Film finanziell. KARA KAFA erzählt von der immer auswegloseren Situation des türkischen Metallarbeiters Cafer, der seine Familie aus einem anatolischen Dorf nach Deutschland holt. Das neue Leben in Deutschland bringt viele Schwierigkeiten für die Familie – der ältere Sohn ist einsam und will nicht in die Schule, die Tochter muss zu Hause bleiben und sich um ihren neugeborenen Bruder kümmern, die Mutter engagiert sich in der Frauenbewegung und verändert sich durch den Einfluss befreundeter Genoss*innen äußerlich und mental. Der Film betrachtet das Leben der sogenannten Gastarbeiter*innen aus einer gesellschaftskritischen Perspektive und beschäftigt sich mit sozialer Gerechtigkeit, Klassenbewusstsein, der Emanzipation von Frauen und den Lebensbedingungen der Gastarbeiter*innenkinder. Vor allem mit seinem linkspolitischen Blick auf Migration und seiner offenen Kritik an der deutschen Gesellschaft hebt KARA KAFA sich von anderen Beispielen des deutsch-türkischen Migrationskinos ab. Der Film hat damit eine besondere filmhistorische Bedeutung und leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der deutschen Migrationsgeschichte.

[2] Nach einer unerwarteten Einladung feierte der Film 2010 seine Premiere auf dem Antalya Film Festival. 2016 fanden zwei Vorführungen im bi’bak (Berlin) mit englischen Untertiteln und in Anwesenheit des Regisseurs statt. Gezeigt wurde eine aus einer Betacam erstellte DVD.

KARA KAFA wurde in der Türkei vollendet und nach seiner Fertigstellung von der damaligen Zensurkommission sofort verboten, mit der Begründung er verletze die Ehre Deutschlands, der befreundeten Nation. 32 Jahre lang durfte er nicht gezeigt werden und lief daher auch nicht auf Filmfestivals. [2] Der Regisseur musste dann wegen der auf den Film folgenden Anklage im laufenden Gerichtsverfahren die Türkei verlassen und floh nach Deutschland, wo er einige Jahre im Exil lebte. Eine letzte Kopie, die von den türkischen Behörden nicht beschlagnahmt werden konnte, nahm er auf seiner Flucht nach Deutschland mit. Diese Kopie ließ er entsprechend der damaligen technischen Möglichkeiten in Hamburg abtasten – wo sie verblieb, ist heute unbekannt. Viele Jahre später konnte Korhan Yurtsever gegen ein Bestechungsgeld eine der beschlagnahmten Kopien von KARA KAFA aus dem Militärgefängnis herausholen. Allerdings waren die geretteten Filmrollen in einem sehr schlechten Zustand, da sie in einem feuchten Keller mit vielen anderen Filmen aus der Zeit zusammengeworfen gelagert worden waren. Noch dazu waren sie unvollständig. Als „schwarzes Schaf“ des Kinos in der Türkei teilt KARA KAFA ein trauriges Schicksal mit vielen anderen Filmen des politischen Kinos der 1970er Jahre: Sie sollten verbannt, beschlagnahmt und wenn möglich vernichtet werden.

[3] bi’bak (türkisch: „schau mal“) ist ein Projektraum in Berlin, der sich mit transnationalen Narrativen, Migration, globaler Mobilität und ihren ästhetischen Dimensionen beschäftigt. Das interdisziplinäre Programm bewegt sich an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Gemeinschaft und umfasst Filmvorführungen und Ausstellungen, Workshops sowie musikalische und kulinarische Exkursionen.

Zwischen den Stühlen

KARA KAFA teilt aber auch ein Schicksal mit Filmen, die sich zwischen den Stühlen befinden. Nämlich mit jenen Filmen, die von nicht-deutschen Filmemacher*innen mit teils nicht-deutschem Team in Deutschland und in nicht-deutscher Sprache gedreht wurden, sich aber explizit mit dem Leben hierzulande beschäftigen.

Diese Filme erzählen Geschichten von Migrant*innen, stellen Fragen zur deutschen Gesellschaft, wurden meist mit sehr geringen Mitteln produziert und konnten oft aus Zensurgründen in ihrem Produktionsland nie öffentlich gezeigt werden – und auch in den deutschen Kinos oder auf Festivals liefen sie aus Geldmangel, aufgrund fehlender Netzwerke oder durch unvorhergesehene Umstände nicht. Weder in Deutschland noch im ihren ursprünglichen Produktionsland konnten sie von einem großen Publikum gesehen werden; als filmische Außenseiter waren sie oft nur für Diaspora- oder Rückkehrer-Communitys und Spezialinteressierte zugänglich.

Hier kann ich beispielsweise ALMANYA ACı VATAN (Deutschland, bittere Heimat, 1979) und POLIZEI (1989) von Şerif Gören nennen, die beide migrantische Lebensgeschichten aus Berlin-Kreuzberg erzählen und glücklicherweise in den letzten Jahren ab und zu im Kino gezeigt zu wurden, allerdings sind weiterhin leider keine angemessen restaurierten Kopien verfügbar. GURBET (Fremde, 1984) von Yücel Uçanoğlu zeigt den dramatischen Zerfall einer türkischen Familie in Süddeutschland, die in einen Kampf gegen die italienische Mafia gerät, die sich am Bodensee angesiedelt hat. Die Komödie YEK ESFAHANI DAR SARZAMINE HITLER (Ein Isfahaner im Lande Hitlers, 1977) von Nosratollah Vahdat basiert auf absurden Begegnungen innerhalb der iranischen Community in München und erreicht ihren Höhepunkt in einer heiteren Tanzszene mit persischen Musik auf dem Oktoberfest. ELLINIKI KOINOTITA HAIDELVERGIS (Griechische Gemeinde in Heidelberg, 1976) und O YORGOS APO TA SOTIRIANIKA (Giorgos aus Sotirianika, 1978) wurden von Lefteris Xanthopoulos in Heidelberg gedreht und beschäftigen sich in dokumentarischer Form mit den Sorgen und Erwartungen der griechischen Migrant*innen, u.a. auch mit der schulischen Situation ihrer Kinder. In NE NAGINJI SE VAN (Nicht hinauslehnen, 1977) baut der Regisseur Bogdan Žižić die filmische Handlung auf dem Abenteuer eines jugoslawischen Neuankömmlings in Frankfurt auf. Auf ABSCHIED und UNTER DENKMALSCHUTZ – beides Kurzfilme, die Želimir Žilnik 1975 während seines Aufenthalts in München drehte – stießen wir dieses Jahr unverhofft im Archiv des Dokumentationszentrums und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD), als wir von bi’bak [3] für ein aktuelles Projekt recherchierten. Solche Überraschungen bringen Freude, haben aber immer auch einen Beigeschmack. Denn es ist eigentlich traurig, ja sogar ärgerlich, dass diese Filme vergessen wurden und all die Jahre nicht gesehen werden konnten. In unserer Arbeit bei bi’bak und für unser Kino SİNEMA TRANSTOPIA befassen wir uns immer wieder mit verschiedenen Archiven: Wir wollen das oft nicht genug beachtete Wissen, das dort vergraben liegt, an die Öffentlichkeit bringen. Wir wollen es zugänglich machen und uns mit ihm auseinandersetzen, in Filmprogrammen, Workshops und diskursiven Veranstaltungen. Ohne Kooperationen und Unterstützung ist diese Arbeit nicht möglich.

Als Programmgestalter frage ich daher: Wie können KARA KAFA oder seine Schicksalsgenossen und die mit ihnen verbundenen Narrative wieder in den öffentlichen Diskurs einfließen? Wir brauchen eine transnationale Erinnerungskultur und ein zeitgemäßes Verständnis des „deutschen Filmerbes“, das diese Perspektiven miteinschließt. Wer kann bzw. sollte also dieDigitalisierung oder Restaurierung dieser Filme finanzieren?

Was wird als „deutsches Filmerbe“ gefördert?

Im Januar 2019 startete das „Förderprogramm Filmerbe“ (FFE), das von der Filmförderungsanstalt (FFA) gemeinsam mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und den Bundesländern ins Leben gerufen wurde und auch von ihnen finanziert wird. Das Förderprogramm vergibt zunächst für zehn Jahre jährlich bis zu zehn Millionen Euro für die Digitalisierung von Kinofilmen, aus konservatorischen, kuratorischen oder wirtschaftlichen Gründen. Ein Antrag kann gestellt werden, wenn man ein Auswertungsinteresse belegen kann (der Film wird im Kino oder auf Festivals, als DVD, Blu-ray oder Video-on-Demand wieder zugänglich gemacht), wenn eine konservatorische Notwendigkeit (das Filmmaterial ist gefährdet oder muss gesichert werden) oder ein kuratorisches Interesse besteht.

Zum kuratorischen Interesse schreibt das FFE auf seiner Website [4]: „Hierbei handelt es sich um einen Bedarf aus filmhistorischer Sicht z.B. aufgrund der Nachfrage von Festivals oder Filmmuseen oder um den Erhalt der Vielfalt filmhistorisch bedeutsamer Formen. Mit dem Antrag muss ein kuratorisches Auswertungskonzept eingereicht werden, aus dem das Ziel der öffentlichen Zugänglichmachung sowie die Bedeutung des Films für das nationale Filmerbe hervorgeht. Über die Förderung entscheidet das Gremium ‚Kuratorisches Interesse‘.“

[5] Update zur Position des Kinematheksverbunds zum "Förderprogramm Filmerbe" (2020):

www.filmportal.de/nachrichten/digitalisierung-des-filmerbes-update-zur-position-des-kinematheksverbunds-zum

[6] Das Filmförderungsgesetz (2017) ist abrufbar unter: www.ffa.de/ffg-2017.html

[7] Das Filmförderungsgesetz (1967) und andere Versionen sind zu finden unter:

de.wikipedia.org/wiki/Filmf%C3%B6rderungsgesetz_(Deutschland)

[8] D.h. unter die Paragraphen 41, 42 und 46

Das Förderprogramm Filmerbe ist unbedingt zu begrüßen und die vielen geförderten Projekte (und zahlreichen Bewerbungen) sind ein Zeichen dafür, dass das Programm gut angenommen wird. Aus der Liste der bisher geförderten Projekte ist auch klar zu erkennen, dass das FFE eine gewisse Offenheit an den Tag legt, was den Begriff des „nationalen Filmerbes“ betrifft.

So wurden Digitalisierungen einiger Filme von Sohrab Shahid Saless, Ayşe Polat, Mehrangis Montazami-Dabui, Serap Berrakkarasu, oder der Filme einiger ehemaliger Studierender der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsbergwie Gautam Bora und Hashim Said durch das Programm gefördert. Das ist wichtig für die Sichtbarkeit von deutschen und nicht-deutschen Filmemacher*innen of Color. Doch diese Filme gelten alle ganz eindeutig als deutsche Filmproduktionen.

Ich hatte jedoch die Hoffnung gehabt, dass das Förderprogramm Filmerbe als Förderinstrument auch die Möglichkeit umfasst, obengenannte Filme wie KARA KAFA – also solche, die schlicht keine deutschen Produktionen sind – digitalisieren bzw. restaurieren zu lassen. Denn auch bei diesen Filmen gibt es meines Erachtens einen „Bedarf aus filmhistorischer Sicht oder eine Notwendigkeit, die „Vielfalt filmhistorisch bedeutsamer Formen“ zu erhalten. Auch diese Filme sind Filme mit „Bedeutung für das nationale Filmerbe“, so wie das FFE es einfordert. Können sie zum „nationalen Filmerbe“gezählt werden? Wie wird „nationales Filmerbe“ in Deutschland – einem Einwanderungsland – eigentlich definiert?

Eine klare Auskunft darüber konnte ich in meinen Recherchen bzw. durch eine telefonische Anfrage beim FFE nicht bekommen. Es gibt aber auch noch eine weitere Möglichkeit, antragsberechtig zu sein, nämlich dann, wenn ein Film in die „Liste der filmhistorisch wertvollen und förderungswürdigen Filme des Deutschen Kinematheksverbund“ aufgenommen wird. Eine unabhängige Jury, die vom Kinematheksverbund berufen wird, entscheidet für die Aufnahme in die sogenannte "500er Liste“. Ob hier allerdings nach flexibleren Kriterien entschieden wird, das konnte ich anhand der aktuellen Liste und des Positionspapiers [5] nicht herauslesen.

Die Förderrichtlinien des FFE beinhalten aber noch ein weiteres formales Kriterium, auf das ich hier ein eingehen will: Für die Förderung einer Digitalisierung sind nur deutsche Produktionen vorgesehen d.h. Filme, die mit einer Bescheinigung des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle oder einem „Ursprungszeugnis gleichwertiger Art“ nachweisen können, dass sie „deutsche Filme“ sind. Falls beides nicht zutrifft, muss nachgewiesen werden, dass hier „künstlerisch eine wesentliche deutsche Beteiligung, ein wesentlicher deutscher Beitrag bzw. eine wesentliche Bedeutung für das nationale Filmerbe erkennbar ist z.B. durch eine entsprechende Stabliste”. [6]

Welcher Film als „deutscher Film“ gelten kann, wird im Filmförderungsgesetz festgehalten, das zuletzt 2017 erneuert wurde. Seine Definition unterscheidet sich nicht wesentlich von der in der ersten Version des Gesetzes von 1967. [7] Nach dem Filmfördergesetz kann eine Förderung (und das betrifft auch das FFE) nur dann gewährt werden, wenn der Film unter diese Definition [8] fällt. Nun möchte ich mich in diesem Text nicht zu ausführlich mit dem Filmfördergesetz beschäftigen, aber ich finde es doch bemerkenswert, wie diese Kriterien, die im Nachkriegsdeutschland etabliert wurden, auch mehr als 50 Jahre nach ihrer Entstehung in dieser Form überdauern konnten.

[9] Später wurde der Satz an das EU-Recht angepasst und ergänzt durch: „oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz besitzt”

[10] S. § 41

„Deutscher Film“, „deutscher Kulturbereich“

Im Filmfördergesetz finden sich beispielsweise Formulierungen wie:
„Die Förderhilfen können gewährt werden, wenn die Regisseurin oder der Regisseur Deutsche oder Deutscher im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes ist oder dem deutschen Kulturbereich angehört [9] , wenn der Film „in deutscher Sprache gedreht oder synchronisiert hergestellt ist“ oder „in deutscher Sprache im Inland oder als deutscher Beitrag im Hauptwettbewerb oder in einer Nebenreihe auf einem Festival welturaufgeführt wird“ [10].

Weitere Voraussetzungen bezüglich der Stablisten sind auch detailliert formuliert und basieren auf der „deutschen“ Herkunft der Beteiligten.

Merkwürdig bleibt für mich der Ausdruck „dem deutschen Kulturbereich angehören“. Was ist der „deutsche Kulturbereich“? Wer darf hier wie dazugehören und wer nicht? Ich finde, dass diese Begriffe und Formulierungen im Filmförderungsgesetz einer dringenden Revision bedürfen. Könnte man den „deutschen Film“ flexibler definieren oder sich sogar ganz von der Definition verabschieden?

Denn weder die Herkunft der Beteiligten noch die Sprache des Films sollte ausschlaggebend für eine Digitalisierung und Restaurierung sein. Filme, die in anderen Sprachen als Deutsch gedreht wurden oder an denen überwiegend Nicht-Deutsche beteiligt waren, werden aufgrund formaler Kriterien direkt ausgeschlossen und nicht einmal einem Fachgremium zur Bewertung vorgelegt. So kommen viele Filme, die für das Selbstverständnis der (post-)migrantischen und transnationalen Gesellschaft Deutschlands bedeutsam sind, nicht ans Licht. Sie können nicht auf den öffentlichen Diskurs einwirken und bleiben in Gefahr, als künstlerische und kulturgeschichtliche Zeugnisse für immer verloren zu gehen.

Diese Mechanismen benachteiligen die Narrative, Lebensrealitäten und kulturellen Praxen von Migrant*innen und Deutschen of Colour – zwei eh schon vulnerablen Gruppen.

Transnationale Archivarbeit

Wie können sich neue Ansätze zum Umgang mit Archiv und Filmerbe etablieren, die unabhängig von einer Definition des „nationalen Filmerbes“ sind und nicht ausschließlich auf dem begrenzten Selbstverständnis eines Nationalstaates beruhen? Dass manches in dieser Hinsicht möglich gemacht werden kann, zeigen einige Projekte, die in der letzten Dekade entstanden sind.

Archive außer sich, ein Projekt des Arsenal – Institut für Film und Videokunst in Kooperation mit diversen Partnerorganisationen, versteht das Archiv ­– ausgehend von der Idee eines „lebendigen Archivs“ ­– als Ort der Produktion und schließt damit an das Vorgängerprojekt Living Archive an. In verschiedenen Forschungs-, Veranstaltungs- und Ausstellungformaten beschäftigt sich das Projekt jenseits von nationalstaatlichen oder anderen Ordnungskriterien mit kulturellem Erbe. Archive außer sich postuliert: „Erforschung, Digitalisierung und/oder Restaurierung von Archivinhalten sind Teil einer partizipativ verstandenen künstlerischen und kuratorischen Gegenwartspraxis”.

So setzt sich auch das Teilprojekt re-selected, kuratiert von Tobias Hering im Auftrag der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, kritisch mit dem Wesen des Archivs auseinander und schlägt vor, Filmgeschichte als Kopiengeschichte zu betrachten. Filmkopien werden als Geschichtsträger und „tragbare Erinnerungsorte“ (Sylvie Lindeperg) verstanden: „Das Projekt ist der Versuch, Filmgeschichte als eine Geschichte der Rezeption von Kopien zu betrachten, die individuelle Werdegänge haben und sich physisch unterscheiden.“ 

Ein für 2021 geplantes Projekt von bi’bak in Kooperation mit dem DOMiD nimmt die 60 Jahre des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei zum Anlass, um die Filmkopien-Bestände des DOMiD-Archivs neu zu betrachten und zu kontextualisieren. Mit wenig bekannten Filmen aus der Türkei, Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien, Gesprächsrunden und Vorträgen schaut die Reihe, die im SİNEMA TRANSTOPIA stattfinden wird, auf die sogenannten Gastarbeiter*innen. Dabei nimmt sie stereotype Narrative und bestehende Bildpolitiken auseinander, lädt zu neuen Blicken auf die Geschichte der Arbeitsmigration ein und plädiert für eine transnationale Erinnerungskultur.

Für erinnerungskulturelle Narrative einer Gesellschaft ist nicht nur die Frage „Was ist oder wird Teil eines Archivs?“ relevant. Eine entscheidende Rolle spielt auch, wie und ob die Archivbestände gepflegt und zugänglich gemacht werden.  

Im letzten Jahr erschien das Buch Bitte Zurückspulen bei Archive Books als Ergebnis eines von mir geleiteten künstlerischen Forschungsprojekts mit dem gleichen Titel. Das Projekt und die Publikation widmen sich der Wiederentdeckung der deutsch-türkischen Film- und Videokultur in Berlin – einem Kapitel, das viel mehr Aufmerksamkeit in der deutschen Film- und Mediengeschichte verdient.

In Berlin lebt eine große deutsch-türkische Community, die heute ein fester Bestandteil des Berliner Kulturlebens ist. Mit dieser Community etablierte sich über die Jahre auch eine türkische Filmkultur in Berlin. Angefangen mit Vorführungen türkischer Filme in Berliner Kinos eroberte in den 1980er Jahren das türkischsprachige Video als willkommene Alternative zu den ausschließlich deutschen Fernsehsendern den Markt. Eine zentrale Rolle spielten dabei die zahlreichen Videotheken, in denen diese Filme angeboten wurden, ebenso wie der „Türkische Basar” am U-Bahnhof Bülowstraße. In den Familien wurden die Videoabende zu wichtigen sozialen Events, zu denen Nachbar*innen und Freund*innen eingeladen wurden. Neben der gesamten Palette der Yeşilçam-Produktionen mit seinen Komödien, Melodramen und Actionfilmen fanden u.a. auch in Deutschland produzierte türkische Filme Anklang, die Migrationserfahrungen und Gefühle der Entfremdung von Herkunftsregion oder Herkunftsland thematisierten und Fragen zu Identität, Religion und Familie aufwarfen. Diese Filme und ihre Ästhetik haben eine ganze Generation anerkannter deutscher Filmemacher*innen wie Thomas Arslan, Fatih Akin, Ayşe Polat u.a. geprägt. Ihre Geschichte jedoch fehlt bisher fast gänzlich in den Diskursen zum postmigrantischen Film.

Diese Filme und ihre transnationalen Narrative, sowie die dazugehörenden Orte und Akteur*innen sind ein wichtiges Zeugnis deutscher Film- und Kulturgeschichte und müssen so auch erinnert und wahrgenommen werden. Mit diesem Ziel führte ich Interviews mit noch lebenden Zeitzeug*innen, u.a. Videothekbetreiber*innen, und recherchierte in städtischen Archiven. Das Wissen anderer Expert*innen floss ebenfalls in Form von Gesprächen, Texten und Filmreihen mit in das Buchprojekt und das Programm ein.

Im Rahmen des Projekts konzipierte der Filmwissenschaftler Ömer Alkın außerdem die Filmreihe Ideologie im türkischen Kino: Die Figur der Migration und beschäftigte sich mit den in Deutschland größtenteils unbekannt gebliebenen Filmen von Yücel Çakmaklı, Halit Refiğ und Yılmaz Güney, Repräsentanten dreier ideologisch konträrer Positionen. Die migrantischen Protagonist*innen fungieren als Träger des ideologischen Programms dieser Filme und so sagen sie vieles über die deutsche Migrationsgeschichte aus. Mit kommentierten Vorführungen und einer eigens erstellten englischsprachigen Untertitelung eröffnete die Filmreihe einer breiteren Öffentlichkeit Zugang zu einem entscheidenden Depot migrationskulturellen Gedächtnisses. Der Filmemacher Cem Kaya, der selber mit den Filmen aus türkischen Videotheken in Deutschland aufwuchs, war mit seinem Dokumentarfilm Remake, Remix, Rip-off (2014) und einer anschließenden Diskussion Teil des Programms. Der Film zeichnet die Kopierpraxis („copy culture“) der türkischen Filmemacher*innen von den Anfängen des türkischen Kinos bis hin zu den heutigen Fernsehserien nach. Trotz dieser Vielzahl an Beiträgen, die im Rahmen von Bitte Zurückspulen entstanden sind, steht man am Ende eines solchen Projekts eigentlich erst am Anfang einer Forschungsreise, die unbedingt rasch fortgesetzt werden muss. Denn zeitgeschichtliche Forschungen sind immer ein Wettlauf gegen die Zeit, und in diesem speziellen Kontext umso mehr, da nicht nur das Film-, Video- und Bildmaterial sondern auch die Orte, Zeitzeug*innen und ihre Erzählungen schon im Schwinden begriffen sind. Das liegt auch daran, dass Archive in Deutschland bisher zu wenig zu Alltagspraxen marginalisierter Gruppen in der Gesellschaft geforscht und gesammelt haben. Das hätte anders sein können, wären Schwerpunkte des öffentlichen Interesses anders gesetzt worden. Hier tritt deutlich zutage, dass die Arbeit von und mit Archiven auch eine politische Praxis ist. 

Perspektiven auf Deutschland

Das im Rahmen des Berlinale Forums stattfindende Zusatzprogramm Fiktionsbescheinigung. 16 filmische Perspektiven auf Deutschland beinhaltet auch einige wichtige Filme, die lange in Archiven ruhten und zu selten öffentlich vorgeführt wurden.

18 MINUTEN ZIVILCOURAGE von Rahim Shirmahd (1991) ist ein Zeugnis rassistischer Gewalt und kommt nach langer Zeit endlich wieder auf die Leinwand. Der Film beschäftigt sich mit dem gewaltsamen Tod des Asylbewerbers Kiomar Javadi, der 1987 von einem Supermarktangestellten in Tübingen 18 Minuten lang gewürgt wurde, nachdem er des Diebstahls bezichtigt worden war. Shirmahd studierte damals in Tübingen und hat die Proteste, die auf den Tod Javadis in der Stadt folgten, miterlebt. Der Film wurde ohne Filmförderungen selbst produziert: Das Filmmaterial für den Dreh und eine alte Krasnogorsk-Filmkamera konnte Rahim Shirmahd dank einer kleinen Unterstützung der Stadt anschaffen. Für die Postproduktion durfte er die Medienabteilung der Universität nutzen, aber die Editorin musste für den Film vorerst ehrenamtlich arbeiten. Das Geld war so knapp, erzählt er, dass er am Tag der Premiere nur noch ein paar Salzkartoffeln zu essen hatte. Nach einigen Aufführungen auf Festivals interessierte sich das EZEF (Evangelisches Zentrum für entwicklungsbezogene Filmarbeit) für den Film und nahm ihn in ihren Katalog auf. Das EZEF übernahm die Vorführrechte und verlieh den Film. So gingen Kopien z.B. an Landesbildstellen, Landeszentralen für politische Bildung, aber auch an Gewerkschaften und Schulen. Von diesen 16-mm-Kopien sind heute nur noch sehr wenige erhalten. Die letzten bekam der Regisseur zurückgeschickt, als diese nicht mehr gelagert werden konnten. Es existiert zwar noch eine Sichtungskopie auf DVD, aber eine zeitgemäße Digitalisierung bzw. Restaurierung ist vorerst nicht geplant.

Die Filmemacherin und Schauspielerin Sema Poyraz ist mit zwei Filmen im Programm vertreten: GÖLGE (1980) ist Sema Poyraz’ Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) und entstand in Zusammenarbeit mit ihrem griechischen Kommilitonen Sofoklis Adamidis. Der Spielfilm handelt von der jungen Gölge, die mit ihrer jüngeren Schwester und ihren aus der Türkei stammenden Eltern in einer beengten Zweizimmerwohnung in Berlin-Kreuzberg lebt und Schauspielerin werden möchte. GÖLGE wurde vom Sender Freies Berlin (SFB) koproduziert; die Erstausstrahlung erfolgte im August 1980 in der Reihe „Projektionen“ unter dem Fernsehtitel Zukunft der Liebe. Der Film lief auch auf einigen Festivals. Poyraz, erzählt sie mir, erinnert sich heute noch an einem Kommentar aus dem Publikum nach einer der Vorführungen: „Die Mutter trägt nicht mal ein Kopftuch“ war das Urteil, das nur ansatzweise zeigt, mit welchen Zuschreibungen und Erwartungen eine deutsch-türkische Filmemacherin damals zu kämpfen hatte.

Poyraz machte weiter Filme, wählte aber zunehmend die dokumentarische Form. Immer wieder wurde ihr nahegelegt, sich thematisch mit dem (türkisch-)migrantischen Leben in Berlin zu beschäftigen. Obwohl sie diese Projekte gerne realisierte, bedauert sie heute noch immer, dass alle ihre anderen Filmvorhaben, mit denen sie sich aus dem engen Themenkreis zu befreien versuchte, keine Förderungen erhielten bzw. von Redaktionen abgelehnt wurden.

Der zweite Film von Poyraz, der im Programm zu sehen ist, ist der Kurzdokumentarfilm Die Türhüter (1987). Auch er wurde vom SFB produziert. In kurzen Interviews äußern sich hier Deutsch-Türk*innen über die Berliner Mauer, an der sie täglich vorbeilaufen, aber auch über die unsichtbaren Mauern, die kulturellen und sprachlichen Grenzen, die schwer zu überschreiten sind. Das Voiceover aus dem Off, das Kafkas Vor dem Gesetz liest, irritierte die deutsche Redakteurin damals. „Wie kommen Sie denn auf Kafka?“ war diesmal der Kommentar, den Poyraz sich anhören musste, und dessen unterschwellig rassistischen Vorurteile, so erzählt sie, sie verletzten. DIE TÜRHÜTER ist eine frühe dokumentarische Position zur Berliner Mauer aus migrantischer Perspektive, die die nach der Wiedervereinigung ausbrechende, massive rechtsextreme Gewalt bereits vorausahnt. Es ist ein Film, der trotz der Relevanz seines Sujets leider sehr unbekannt geblieben ist.

Ebenso aus einem langen Schlaf im Archiv erwacht, liefert BLACK IN THE WESTERN WORLDvon Wanjiru Kinyanjui (1992) anhand von Interviews eine scharfe Kritik an rassistischen Strukturen, von denen Schwarze Menschen in Deutschland betroffen sind. Der Film, der während Kinyanjuis Studiums an der DFFB entstand, analysiert auf kühle Art die deutsche Alltagskultur und zeigt, wie sehr diese auf rassistischen Reproduktionen fußt und an kapitalistische Strukturen gebunden ist. Es ist heute nicht nur immer noch relevant, sondern unbedingt nötig, dass dieser Film gesehen wird. Wieder fragt man sich – und bedauert zugleich–, warum ein solcher anti-rassistischer Film für eine breite Öffentlichkeit nicht zugänglich ist.

Archive öffnen

Begrüßenswert sind aber die wertvollen Bemühungen der letzten Jahre, die den Filmen ausländischer Studierender an deutschen Filmhochschulen eine Sichtbarkeit verliehen haben. Der ausführliche Text von Madeleine Bernstorff zur DFFB legt anhand einer Archivrecherche dar, wie transnationales Lernen an der Filmschule ausgesehen haben könnte. Filme von Studierenden der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg wie Ibrahim Shaddad, Kais Al-Zubaidi oder Emile Itolo, die alle in der DDR-Zeit entstanden sind, konnten in den letzten Jahren in unterschiedlichen Programmen öffentlich gezeigt werden.[11] Die Filmreihen „In deutscher Gesellschaft“ (2018) im Zeughauskino und „Freundschaft auf Zeit“ (2019) im bi’bak waren nicht nur Gelegenheiten, um die Filme der ehemaligen ausländischen Filmstudent*innen wie Irena Vrkljan, King Ampaw und Chetna Vora, sondern auch „hidden gems“ aus dem Archiv der öffentlich-rechtlichen Sender zu entdecken. Ich möchte hier gerne betonen, dass eigentlich alle Filmprogramme, die sich auf die eine oder andere Weise mit den deutschen TV-Archiven beschäftigen, eine besondere Beachtung verdienen. Denn der Zugang zu den Archiven der öffentlich-rechtlichen Sender wird durch große Hürden erschwert, die das Kuratieren und Programmieren von Filmreihen direkt beeinträchtigen wenn nicht manchmal gar unmöglich machen (siehe dazu das Symposium Recht auf Öffentlichkeit). Die Einsicht in viele Archive ist schwer zugänglich, die Bearbeitungsgebühren sind unangemessen hoch, die Abläufe sind intransparent. Meistens versperrt die komplexe Rechtslage den Weg für öffentliche Vorführungen.

Wir brauchen Archive, die lebendig sind

Wir müssen öffentliche Archive, Fördersysteme und Filminstitutionen neu denken. Wir müssen sie an die transnationale und (post-)migrantische Gesellschaft, in der wir leben, anpassen. Dafür ist es nötig, dass sich die Institutionen aus ihrer „comfort zone“ heraus bewegen. Sie müssen den Mut haben, ihre Strukturen (wirklich) zu ändern. Wir brauchen dringend mehr Diversität, die ernst gemeint ist und nicht auf Quoten basiert; mehr Zugänglichkeit, Öffentlichkeit und Mitbestimmung, die die Interessen verschiedener sozialer Gruppen (ernsthaft) berücksichtigt. Es braucht mehr Flexibilität, mehr Transparenz und flache Hierarchien, in denen wir konstruktiv und produktiv handeln können. Dazu gehört auch die Bereitschaft, Bestände und Sammlungen zu entkolonialisieren und ausschließlich eurozentrische (weiße) Sichtweisen aufzubrechen.

Die Filmkultur wird davon profitieren, wenn Filme nicht als Waren und Kinos nicht als Showrooms gesehen werden und beide nicht nach ihrer Wirtschaftlichkeit bewertet werden. Wir brauchen mehr Räume für Filmkultur, die aus öffentlicher Hand gefördert werden. Wir müssen mehr Räume schaffen, in denen an und mit Filmen geforscht werden kann, in denen Filme gesehen, diskutiert und gemacht werden können. Wir brauchen Archive, die lebendig sind. Wir müssen noch weiter Filme sehen, entdecken und diese mit anderen teilen.

Ich konnte in meinem Text vielleicht nur die Spitze des Eisbergs zeigen. Es gibt noch eine Vielzahl an Filmen von Filmemacher*innen of Color bzw. nicht-deutschen Filmemacher*innen in Deutschland, die auf ihre Wiederentdeckung warten und auf eine angemessene Digitalisierung bzw. Restaurierung hoffen. Alle werden sicherlich nicht auf einmal herauskommen können. Diese Arbeit braucht Zeit, Energie und Mittel, und nicht selten auch Glück. Das wichtigste aber ist die Bereitschaft und die Offenheit der Menschen und Institutionen. Denn Fiktionen brauchen keine Bescheinigung.

Danke an Madeleine Bernstorff, Malve Lippmann, Sema Poyraz und Rahim Shirmahd

Can Sungu ist freier Künstler, Kurator und Forscher. Er unterrichtete Film- und Videoproduktion und kuratierte verschiedene Reihen zu Film und Migration. Er nahm an zahlreichen Ausstellungen teil, u.a. am Künstlerhaus Wien und am REDCAT Los Angeles. 2014 war er Mitgründer von bi’bak in Berlin, wo er als künstlerischer Leiter arbeitet. Seit 2020 betreibt er das Kino-Experiment SİNEMA TRANSTOPIA im Haus der Statistik in Berlin.

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