Bert Rebhandl: Hallo allerseits. Ich würde gerne damit beginnen, kurz die Teilnehmer:innen vorzustellen: Aus Kalifornien Nina Menkes, Filmemacherin und Filmwissenschaftlerin. Sie ist mit ihrem neuen Film BRAINWASHED: SEX-CAMERA-POWER im Programm der 72. Berlinale vertreten, in der Panorama-Sektion. Aus Wien Djamila Grandits, sie ist Filmkuratorin und Programmberaterin bei verschiedenen Filmfestivals. Heute ist sie aus Dakar im Senegal zugeschaltet. Aus Buffalo, New York, USA haben wir Girish Shambu, er ist Filmkritiker, Blogger und unterrichtet auch. Und schließlich aus Deutschland Christoph Hochhäusler, Filmemacher, Professor für Filmregie an der DFFB in Berlin. Er ist auch Co-Herausgeber der Filmzeitschrift Revolver und hat ein Blog, auf dem er über Filme schreibt. Ich bin Bert Rebhandl, ich moderiere das Gespräch, ich bin Filmkritiker.
Wir wollen darüber sprechen, wie sich unser Blick auf die Filmgeschichte durch neuere Entwicklungen in Gesellschaft und Politik verändert hat. Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, Filmgeschichte als ein weites Feld mit vielen möglichen Entdeckungen zu sehen, oder noch anders gesagt: Filmgeschichte einfach aus einer Fanperspektive wahrzunehmen. Filme kommen immer aus einem bestimmten Entstehungskontext, sie vermitteln zeitspezifische Stereotypen, und sind oft unbewusst oder sogar absichtlich rassistisch oder sexistisch. Cristina Nord, die Leiterin des Berlinale Forums, gab letztes Jahr in einem Artikel ein Beispiel: Sie musste bei einem Wiedersehen des Films THIEF von Michael Mann, den sie davor sehr geschätzt hatte, feststellen, dass sie über die problematische Darstellung des Geschlechterverhältnisses nun nicht mehr hinwegsehen konnte. Michael Mann hat viele Fans, er wird gern als großer Stilist des Kinos gesehen oder auch als ein Formalist. Seine Filme sind ein gutes Fallbeispiel dafür, wie sich die Wertschätzung verändert hat. Bewegungen wie #MeToo oder Black Lives Matter oder postkoloniale Diskurse haben diese Wahrnehmung grundlegend verändert. Ich würde gern zu Beginn Nina bitten, ein paar Worte über ihren Film zu sagen und darüber, wie sie heute Filmgeschichte wahrnimmt.
Nina Menkes: Mein Film heißt BRAINWASHED: SEX-CAMERA-POWER. Er enthält 175 Filmclips von 1896 bis 2021. Ich schaue mir an, wie Einstellungen gegendert sind und wie die Objektivierung von Frauen eine Epidemie von sexueller Belästigung und sexuellen Angriffen und Beschäftigungsdiskriminierung befördert hat, die wir besonders in Hollywood, aber nicht nur in Hollywood zu verzeichnen haben. Ich habe diese Filme nie gemocht. Ich hatte nie ein Problem mit Godards Haltung gegenüber Frauen, weil ich seine Filme nie gemocht habe. Ich muss meine Sicht auf die Filmgeschichte nicht verändern. Das Mainstream-Bewusstsein von Filmgeschichte wurde von weißen, heterosexuellen, vielleicht einigen schwulen Männern kontrolliert, vielleicht war das in Europa ein kleines bisschen besser. Festivals, Verleih, Produktion waren in ihrer Hand. Ich hatte immer schon eine intuitive Abscheu vor diesen Filmen.
Mein erster Film MAGDALENA VIRAGA, auf 16mm für 5.000 Dollar gedreht, handelt von einer Prostituierten, die ihre Arbeit hasst. Man sieht nur ihr Gesicht, nie ihren Körper, sie zieht sich nie aus. Das war für die damalige Zeit sehr radikal. Ich war wohl nicht komplett gehirngewaschen. Ich habe RAGING BULL nie gemocht, THIEF von Michael Mann habe ich nie gesehen. Viele der großen Namen des Kinos kommen in BRAINWASHED vor. Hitchcock mag ich, da muss ich keine Meinung ändern. Er spielt mit diesem Problem. Frauen sind immer sexualisierte Objekte, und das gilt unabhängig von der Kategorie race, also auch bei Spike Lee, Gordon Parks Jr., Park Chan-wook, das ist bei allen gleich. Eine schockierende Wiederbegegnung hatte ich mit L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD von Alain Resnais, der mich in der Schule mächtig beeindruckt hatte: die Montage, die Zeitsprünge, die Kameraarbeit. Aber der ganze Soundtrack besteht darin, dass ein Mann über seine Obsession für die Frau redet, und Delphine Seyrig ist das obskure Objekt des Begehrens, sie hat kaum eine Persönlichkeit, sie ist nur schön. Ich habe mich von Filmen nie hineinlegen lassen.
Djamila Grandits: Es stimmt, die Dinge haben sich geändert. Das ist durchaus befreiend. Ich gehöre einem Kurator*innen-Kollektiv an, in dem es unterschiedliche Vorstellungen gibt, was wir teilen und wie wir Film vermitteln wollen. Es geht uns darum, Zugänglichkeit und Filmvermittlung neu zu denken. Wir machen ein Open Air-Kino an einem zentralen Ort in Wien, wir wollen die Barrieren für den Zugang heruntersetzen. Der Eintritt ist gratis. Und wir fragen uns: Wessen Geschichte stellen wir in der Mitte der Stadt in den Mittelpunkt? Wie starten wir einen Dialog mit dem Publikum?
Beim Programmieren für Festivals gibt es viele Aspekte, die aus dem Betrieb kommen: Man sucht nach neuen Filmen, nach Diversität, nach einer Vielfalt an Produktionsländern, was gar nicht einfach ist, weil sehr oft Frankreich oder Belgien als Koproduzenten dabei sind. Die Verantwortung ist groß, man muss aber auch pragmatisch sein. Man muss danach trachten, möglichst viele Einreichungen zu ermöglichen, gerade auch von Menschen, die noch nicht so gut in die Filmbranche integriert sind. Das Wort Entdeckungen mag ich nicht, da steckt mir zu viel koloniales Denken dahinter. Die Sensibilität für Rassismus, Diskriminierungen, Gender-Rollen und Diversität ist sicher gewachsen. #MeToo und Black Lives Matter haben viel verändert. Institutionen begreifen nun, dass sie ihre Perspektive verändern müssen, aber sie hinterfragen häufig ihre Motivation dafür noch nicht. Warum wollen wir eigentlich diversen Content? Manchmal wird das einfach mit den Mitteln des „Diversity Managements“ angegangen, da ist man schnell bei tokenism. Das ist gut gemeint, reproduziert aber im Grunde Gewalt.