Die Filme von Bora und Vora stehen für verschiedene dokumentarische Ansätze
EIN HERBST IM LÄNDCHEN BÄRWALDE beginnt mit Morgenstimmung bei Meinsdorf. Bis an den Horizont erstreckt sich das Feld. Ein Traktor fährt pittoresk ins Bild. „Ländchen Bärwalde nennen die Einwohner dieses Landstrichs ihre Heimat. Meine ist 9000 Kilometer entfernt.“ Der aus Nordindien stammende angehende Regisseur Gautam Bora sieht in dem Feld und dem Traktor einen Traum fortschrittlicher landwirtschaftlicher Produktion verwirklicht. Eine Produktionsweise, die er – wie er im Kommentar sagt – bislang nur von Fotos kannte. Boras Film porträtiert am Beispiel von drei Generationen der Familie Balke die Landwirtschaft der DDR. Zwei Drittel des halbstündigen Films stellt Bora etwas uninspiriert die Familienangehörigen vor: Er lässt die Großeltern wortkarg, wie sich das in Brandenburg gehört, von den Beschwernissen ihrer Jugend erzählen; gönnt Großvater Gustav einen kurzen Triumph über seinen Enkel Bernd, als es darum geht, mit einem Handpflug das Feld zu pflügen; dann widmet er sich der Generation der Enkel. Der 19-jährige Bernd fährt wie sein älterer Bruder Detlef lieber Traktor. Die Balkes sind eine Familie von Mechanisatoren, die Berufsverkörperung der Industrialisierung der Landwirtschaft in der DDR. Dem älteren Enkel Detlef kommt als eifrigem Vorzeige-Mechanisator die Rolle des Helden in dem Film zu. Bora vergleicht die Entwicklung der Landwirtschaft in der DDR mit den Lebenswirklichkeiten indischer Bauern. In diesem Vergleich erscheint die industrialisierte Landwirtschaft, deren Umweltfolgen zum Zeitpunkt der Entstehung des Films bereits sichtbar wurden, als Fortschritt.
EIN HERBST IM LÄNDCHEN BÄRWALDE und Chetna Voras OYOYO sind zwei grundverschiedene Filme. Wo sich Vora an die Lebensbedingungen der Studierenden im Wohnheim herantastet, steht für Bora die Rollenverteilung durch das dichotome Fortschrittsverständnis schon im Vornherein fest. Chetna Voras Hauptprüfungsfilm hat eine strikte Struktur. Die Gespräche finden in den Zimmern statt, zwischen den Gesprächen gibt es Aufnahmen des Flurs. Als würde der Flur die Studierenden, ihre Lebenswege und Perspektiven verbinden und in Bezug zueinander setzen. Voras Film erzählt mit Bildern ebenso wie mit dem, was in den Gesprächen zu Tage tritt. Zu diesem Vertrauen auf die Bilder mag beigetragen haben, dass Vora mit Ulrich Weiß einen der bildbewusstesten DEFA-Regisseure als dramaturgischen Berater an ihrer Seite hatte. Mindestens ebenso wichtig dürfte gewesen sein, dass sie auf ihren Kameramann vertrauen konnte. Die Aufnahmen zu dem Film stammen von Voras Ehemann Lars Barthel, dem Vater einer gemeinsamen Tochter, die zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt ist.
„Die Erfahrungen der Studierenden in der DDR sind in OYOYO nicht frei von Reibungen, in EIN HERBST IM LÄNDCHEN BÄRWALDE fungiert die DDR als Ideal der Entwicklung.“
Die Gespräche der Studierenden in OYOYO wirken spontan, sowohl die untereinander wie auch jene mit der Filmemacherin. Nur selten lenkt Vora mit ihren Fragen die Richtung der Gespräche. Umso mehr fällt eine Intervention nach etwa zwei Dritteln des Films auf. Auf Nachfragen Voras erzählt die junge Carmen Mara Barbosa e Sá aus ihrer Familiengeschichte. Als die junge Frau aus Bissau überlegt, was sie noch erzählen soll, fängt sie an, über die DDR zu sprechen. Aus dem Off unterbricht Vora und bittet sie, stattdessen von ihrem Herkunftsland zu erzählen.
Die DDR und ihre weißen Einwohner*innen bleiben unsichtbar in OYOYO. Nur in zwei Episoden, die Tungalag Sodnomgombyn erzählt, werden Begegnungen mit ihnen kurz zum Thema. Einmal spricht sie mit Freundinnen über die Materialverbrauchsrentabilität. Als die Freundinnen bezweifeln, dass es so etwas gibt, verweist sie auf ein Gespräch mit „diesem unmöglichen Mann“, anscheinend einem Dozenten. Später spricht sie mit Chetna Vora über die Unterschiede im Zeitverständnis zwischen der Mongolei und der DDR und das große Unglück, dass Menschen in Deutschland empfinden, wenn sich ihre selbst gemachten Alltagspläne nicht erfüllten. Die Erfahrungen der Studierenden in der DDR sind in OYOYO nicht frei von Reibungen, in EIN HERBST IM LÄNDCHEN BÄRWALDE fungiert die DDR als Ideal der Entwicklung. Das zweite Bild dürfte den (film-)politisch Verantwortlichen geschmeichelt haben.