Blicke auf die Realität. Trümmer des Imperiums. Virtuelle Welten. Programmübersicht von Ulrich Gregor |
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Dies ist der Versuch, einige Schneisen durch das weitgefächerte Programm des Internationalen Forums 1996 zu schlagen. Bekanntlich bemüht sich das Forum, aus der Weltfilmproduktion jene Werke herauszufiltern, die uns herausfordern, neue Horizonte suchen, die Filmsprache bereichern oder unserer Zivilisation einen kritischen Spiegel vorhalten. Wir hoffen, jenen Filmemachern eine Chance zu geben, die vielleicht das Kino von morgen verkörpern, aber auch solche Filme zu zeigen, die Erfahrungen der Geschichte verarbeiten, die das nie Gesehene auf die Leinwand bringen oder durch die Montage ein neues Weltbild zusammensetzen. Das Forum recherchiert ein ganzes Jahr hindurch in alle Himmelsrichtungen, doch ist die "Trefferquote" nach Regionen und Kontinenten durchaus verschieden. Ob man es nun begrüßt oder nicht, so muß doch festgehalten werden, daß auch auf dem Sektor des "unabhängigen" Films, im Bereich der sogenannten "Independents" unter Einschluß des dokumentarischen oder experimentellen Kinos die USA sich eine führende Position erarbeitet haben. Was die jungen Regisseure aus diesem Land unter schwierigen Produktionsbedingungen zuwegebringen, ist nicht selten imponierend; bei 190 qualitativ oft interessanten Einsendungen (und einem dementsprechend hohen Anteil von US-Filmen in unserem Programm) aus diesem Land hat es uns um manchen Film leidgetan, der im Programm keinen Platz mehr finden konnte. Dabei sprechen wir nur von wirklichen Autorenfilmen und nicht von solchen Werken, die lediglich ein "Produkt" auf dem "Markt" plazieren wollen. Erwähnenswert unter den US-Beiträgen sind zunächst die Spielfilme, so WELCOME TO THE DOLLHOUSE von Todd Solondz, die Geschichte eines "häßlichen" jungen Mädchens in der Umgebung einer "idealen" US-Familie. 93 MILLION MILES FROM THE SUN von Paul Budnitz beschreibt die nächtlichen Wanderungen und Begegnungen einer Gruppe von Personen im "Mission District" von San Francisco; FRISK von Todd Verow ist eine Studie abnormen Verhaltens, von Gewalt und Obsession, ein Film, der vielleicht erschreckt, aber auch ein Film von großem Ernst, interessanter Erzähltechnik und visueller Verdichtung. Daneben stehen die autobiographischen Bekentnnisse von Barbara Hammer, TENDER FICTIONS, die eine Parallele finden in den ELECTRONIC DIARIES von Lynn Hershman (in der Videoabteilung des Forums). PARADISE LOST - THE CHILD MURDERS AT ROBIN HOOD HILLS von Joe Berlinger und Bruce Sinofsky berichtet von einem Prozeß im Staate Tennessee, bei dem es um die Ermordung von drei Kindern geht; der Film ist so spannend, daß man keine Sekunde die Augen von der Leinwand wenden kann, ob aber die mutmaßlichen Schuldigen die Tat wirklich begangen haben, bleibt bis zum Schluß offen. THE BATTLE OVER CITIZEN KANE von Thomas Lennon und Michael Epstein sowie THE CELLULOID CLOSET von Rob Epstein und Jeff Friedman beschäftigen sich mit Themen der US-Filmgeschichte: der erste vergleicht die Biographien von Randolph Hearst und Orson Welles (Hearst gab das Modell für "Citizen Kane" ab und bekämpfte den Film mit allen Mitteln), letzterer untersucht das Thema "Homosexualität im US-Spielfilm" anhand einer intelligenten und witzigen Montage von Filmausschnitten. Die in USA lebende gebürtige Vietnamesin Trinh T. Min-ha, die sich durch ihre ethnographischen und essayistischen Filme einen Namen gemacht hat, artikuliert in ihrem ersten Spielfilm A TALE OF LOVE anhand einer fiktiven Geschichte das Thema Einwanderung und Identität in einer fremden Umgebung; mit den gleichen Fragen beschäftigt sich in dokumentarischer Manier A.K.A. DON BONUS von Spencer Nakasako und Sokly Don Bonus Ny. In diesem amerikanischen Film gab man einem jungen Einwanderer aus Kambodscha eine Hi8-Kamera und ließ ihn sein eigenes Leben filmen; dabei entstand ein höchst faszinierender und sehr authentischer Erfahrungsbericht. A.K.A. DON BONUS zeigt das Forum zusammen mit dem Spielfilm KAKI BAKAR von U-Wei Bin HaajiSaari (einer Faulkner-Verfilmung !), der die Erfahrungen einer indonesischen Familie in Malaysia schildert, die dort nicht heimisch werden kann. Dies ist ein Beitrag aus dem Filmland Malaysia, das sich bisher vornehmlich als weißer Fleck auf der filmischen Weltkarte darstellte, und einer der überraschendsten und aufregendsten neuen Spielfilme aus Asien überhaupt. Mit einer außereuropäischen Thematik beschäftigt sich auch THE GATE OF HEAVENLY PEACE : die Autoren Carma Hinton und Richard Gordon analysieren minutiös die Geschichte und Vorgeschichte der chinesischen Studenten- und Demokratiebewegung, die zu dem Massaker am Tiananmen-Platz führte. Einen weiteren großen Schwerpunkt im diesjährigen Forums-Programm bilden die Filme aus Asien. Insbesondere in Japan und im chinesischen Bereich (Taiwan, Hongkong, China) war die Ausbeute des Jahres besonders reichhaltig. Aus Japan kommen vier Beiträge, es sind drei Spielfilme - OKAERI, PICNIC und THE GIRL OF SILENCE -, die alle durch ihre erlesene Bildsprache und ihren scharfen Blick auf die Realität Japans beeindrucken. PICNIC bewegt sich in einem surrealen Bereich und schildert den Ausbruch von zwei Patienten einer psychiatrischen Klinik. HEAVEN-6-BOX von Oki Hiroyuki entstand als Auftragsarbeit einer kleinen Provinzstadt und ist eine Folge frei assoziierter Bilder von traumhafter Schönheit und Leichtigkeit. Ebenfalls bemerkenswert sind die neuen Filme aus China, in denen sich eine jüngere Generation von Regisseuren artikuliert. Ning Ying - sie war schon einmal Gast des Forums - schildert in MINJING GUSHI (Auf Streife) auf ironische Weise und in pointillistischer Beobachtung den Alltag einer Polizeistation in Beijing, während WU SHAN YUN YU (Regenwolken über Wu Shan) Geschichten aus einer kleinen Stadt am Fluß Yang Tse Kiang berichtet; der Held des Films ist Signalwächter und muß den Schiffsverkehr regeln. Beiden Filmen gemeinsam ist das Bemühen um die Darstellung von Alltag, der besondere Sinn für Poesie und Ironie und für das Verrinnen von Zeit. Ein Hongkong-finanzierter chinesischer Film ist DER KÖNIG DER MASKEN, die legendenhafte Geschichte eines alten Maskenkünstlers. Die Kino-Szene in Hongkong hat sich ihre Dynamik auch im Hinblick auf die kommende Verschmelzung mit China durchaus bewahrt. Wong Kar Wais Film FALLEN ANGELS, den das Forum in europäischer Erstaufführung zeigt, ist eine wahre Explosion an kinematographischen Ideen, die - anhand einer bewegten und verschlungenen Kriminalgeschichte - das Lebensgefühl im heutigen Hongkong einfängt. Eine absolute Uraufführung ist der Film von Shu Kei, HU-DU-MEN. Shu Kei, Filmkritiker und Filmemacher, ist eine der Zentralfiguren der Filmszene Hongkongs. Sein neuer Film spielt im Milieu der Kanton-Oper und erzählt die Geschichte einer berühmten Schauspielerin, die am Wendepunkt ihres Lebens steht. Star des Films ist Josephine Siao Fong-Fong (sie spielte letztes Jahr die Hauptrolle in Ann Huis Film "Summer Snow"). Im Mitternachtsprogramm laufen einige weitere Hongkong-Filme der neueren Produktion. Aus Taiwan kommt SUPER CITIZEN KO von Wan Jen, eine Aufarbeitung der Geschichte Taiwans, denn der Film berichtet von dem "weißen Terror", der in den fünfziger Jahren in Taiwan gegen vermeintliche Kommunisten und Dissidenten ausgeübt wurde. Die Handlung erzählt von einem alten Mann, seinerzeit Mitglied der linken Bewegung, der heute noch einmal die Spuren der Vergangenheit sucht. Dieser Film wird ergänzt durch das Video "WHy DONīT WE SING SONGS?", produziert von Hou Hsiao-hsien, der den gleichen Abschnitt der taiwanesischen Geschichte mit den Mitteln des Dokumentarfilms analysiert. Schließlich kommen einige interessante Filme des Forum-Programms aus Südostasien. Eine Rarität ist der Spielfilm aus Singapur, MEE POK MAN von Eric Khoo, der im Milieu eines Nudel-Restaurants spielt; UND DER MOND TANZT aus Indonesien von Garin Nugroho thematisiert den Konflikt zwischen Tradition und Moderne. Schließlich muß auch der schon erwähnte Film KAKI BAKAR aus Malaysia im Zusammenhang der Asien-Flme des Forums gesehen werden sowie die kleine Gruppe von Filmen aus Burma, die nur unter besonderen Schwierigkeiten beschafft werden konnten. Was Europa betrifft, so stehen Deutschland und die deutschsprachigen Länder im Kontext des Forums nicht schlecht da. Je zwei Filme kommen aus der Schweiz (Daniel Schmids THE WRITTEN FACE, ein fiktiv/dokumentarisches Porträt des Kabuki-Schauspielers Tamasaburo Bando und ein Werk blendender Schönheit, sowie Andreas Hoesslis DEVILS DON'T DREAM - NACHFORSCHUNGEN ÜBER JACOBO ARBENZ GUZMAN über den ehemaligen Präsidenten Guatemalas) und aus Österreich: CHARMS ZWISCHENFÄLLE von Michael Kreihsl, eine surrealistische Hommage auf den russischen Dichter Daniil Charms, und EMIGRATION N.Y. von Egon Humer, Porträts und Schicksale von aus Österreich emigrierten und heute in New York ansässigen Juden. Dies ist ein bewegender und herausfordernder Film, exemplarisch in seiner strengen Machart, unglaublich und bewegend in dem, was er zutage fördert. Aus Deutschland zeigt das Forum Gordian Mauggs neuen Spielfilm DIE KAUKASISCHE NACHT, er berichtet von den Abenteuern eines deutschen Unternehmers, der nach Minsk und Weißrußland reist, um dort Geschäfte zu machen; sowie drei Dokumentarfilme: LANGE NACH DER SCHLACHT von Eduard Schreiber und Regine Kühn befaßt sich mit dem Abzug der russischen Truppen aus Deutschland, DIE ÜBERLEBENDEN von Andres Veiel berichtet von einer Schulklasse, aus der sich drei junge Männer das Leben genommen haben, und DIE GESCHICHTE VOM ONKEL WILLY AUS GOLZOW von Barbara und Winfried Junge ist das vorerst letzte Kapitel aus dem langen Zyklus "Die Kinder von Golzow". Weiteres aus Europa : das junge französische Kino beweist seine Vitalität mit zwei Filmen von Frauen, LE JOURNAL DU SEDUCTEUR ("Das Tagebuch des Verführers", nach Kierkegaard) und EN AVOIR (OU PAS) ("Haben oder Nichthaben") von Laetitia Masson. Weiter aus Frankreich kommen der Experimentalfilm ROME DESOLEE von Vincent Dieutre und Robert Kramers WALK THE WALK, eine sehr persönliche Erforschung der Veränderungen, die in Osteuropa um sich gegriffen haben. Kramer arbeitet gleichzeitig mit den Mitteln des Dokuments, der Fiktion, der Autobiographie und des Essays. Einige Sequenzen des brillant photographierten Films sind auf der berühmten Treppe in Odessa gedreht, die auch Eisenstein für seinen PANZERKREUZER POTEMKIN verwendete. Das italienische Kino ist mit LO ZIO DI BROOKLYN (Der Onkel aus Brooklyn) vertreten, einer frechen, witzigen, scharfen und makabren Satire auf Palermo, der in Italien heftige Auseinandersetzungen erzeugte, und I BUCHI NERI, einem vergnüglichen und temperamentvollen Film von Papi Corsicato, wiederum mit der Hauptdarstellerin Iaia Forte, wie schon in LIBERA. Ein wichtiger Beitrag aus Italien ist auch Marco Bellocchios Video SOGNI INFRANTI (Zerbrochene Träume), der sich mit der Geschichte der "Roten Brigaden" beschäftigt. Eine interessante filmische Hinterlassenschaft sowie Zeugnisse des neuen Aufbruchs fand das Forum in Osteuropa, speziell in Rußland und einigen der ehemaligen asiatischen Sowjetrepubliken wie Turkmenistan, Tadshikistan und Aserbaidshan. Man ist versucht, die Auswahl dieser Titel unter das Motto "Trümmer des Imperiums" zu stellen. Die Filme aus den asiatischen Republiken sind teils bohrende Erforschungen gegenwärtiger Bewußtseinslage ( ANWESENHEIT aus Tadshikistan), Persiflagen der Moderne mit vielen Kinoeffekten ( DAS AROMA DER WÜNSCHE, Turkmenistan) oder der Versuch, Geschichte neu zu schreiben ( YUK, Aserbaidsan). Aus Rußland lagen uns eine Fülle von Filmen vor. Ausgewählt wurden DIE ANKUNFT EINES ZUGES, vier Episoden junger Regisseure nach Motiven der Brüder Lumière, SUBS, ein Film aus Wladiwostok, der einen Roman des amerikanischen Autors Jack Kerouac (zu dem der russische Regisseur offenbar eine geistige Verwandtschaft empfindet) ins heutige Rußland überträgt, ein höchst interessanter Versuch kultureller Grenzüberschreitung, und DER PRINZIPIELLE UND MITLEIDSVOLLE BLICK, eine moderne Tschechow-Variation. Besonders eigenwillig ist der Versuch Oleg Kowalows, in SERGEJ EISENSTEIN. AWTOBIOGRAFIJA aus vielen disparaten Filmfragmenten das Leben Eisensteins neu zusammenzusetzen. Das Forum hat in jedem Jahr einen Film, der in seinen Dimensionen vollkommen aus dem Rahmen fällt: diesmal ist es der schwedische Dokumentarfilm DIE KINDER AUS JORDBRO von Rainer Hartleb. In fünf Episoden, die zusammen sechs Stunden lang sind, berichtet der Film die Chronik einiger Familien aus einem Vorort von Stockholm über einen Zeitraum von 1971 bis heute. Der Film ist mit bewegter Kamera, sehr sensibel und einfühlsam gemacht; er zeichnet das komplexe Bild einer "Wohlstandsgesellschaft", die zum guten Teil auch aus Einwanderern besteht, in ihren unscheinbaren und alltäglichen Aspekten. Das Programm des Internationalen Forums 1996 versammelt Filme ganz verschiedener Stilrichtungen, Beispiele des narrativen ebenso wie des essayistischen, des dokumentarischen oder experimentellen Kinos. Von verschiedenen Ansatzpunkten visieren die Regisseure und Autoren unsere heutige Wirklichkeit an. Der aktuelle Realitätsbezug ist das Kennzeichen der meisten Filme unseres Programms. Vielfach wird in ihnen auch das Metaphorische oder Emblematische gesucht, das Schlüssel-Bild oder der Schlüssel-Begriff zur Deutung unserer Welt. Um dieses Bild zu finden, begeben sich manche Filme auf den Weg der surrealen Übersteigerung ( PICNIC) oder der Groteske ( LO ZIO DI BROOKLYN), sie erforschen Abgründe ( FRISK), oder sie tauchen ein in die Geschichte ( EMIGRATION N.Y., SUPER CITIZEN KO). Was sich in diesem Forum verändert hat: anstatt des Murnau-Saals im Haus der Kulturen der Welt laufen die Filme des Forums (neben den gewohnten Spielorten Delphi, Arsenal, Akademie der Künste und Babylon/Zeughauskino) nunmehr im Kino 7 des Zoo-Palastes, wo die Sichtverhältnisse auf jeden Fall besser sind als im Murnau-Saal. Unserem Katalog haben wir nun endlich einen englischen Teil beigegeben, damit die Leserschaft sich nicht nur auf die beschränkt, die des Deutschen mächtig sind. Er wird aber auch weiterhin Interviews, Kritiken und Hintergrundinformationen zu den Filmen enthalten. Und schließlich nützen wir zum ersten Mal die Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten des Internet, indem wir den Forum eine eigene "Website" zuteilen, die über die Adresse http://www.fdk-berlin.de/ erreichbar ist. Eine Kooperation ist auch angestrebt zwischen unserer eigenen "Website" und dem "virtuellen Filmfestival", das Peter Wintonick in Kanada entwickelte und das er auch in Berlin mit Hilfe des Forums vorstellen wird ( http://www.virtualfilm.com/ ). Virtuelle Welten veranschaulicht übrigens auch ein Forums-Filmbeitrag, der amerikanische Film SYNTHETIC PLEASURES - je nachdem, wie man den Film betrachtet, als Vision oder als Alptraum.
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