Unser Verhältnis zur Natur ist heutzutage kompliziert. Im Internetzeitalter liest man täglich neue Schlagzeilen über Umweltzerstörungen auf der ganzen Welt. Gleichzeitig dienen die Geräte, über die sich solche Nachrichten verbreiten, auch dazu, sich die dazugehörigen Bilder – brennende Wälder, weggeschwemmte fruchtbare Böden oder vom Aussterben bedrohte Tiere – hartnäckig vom Leib zu halten, es sei denn, man ist unmittelbar davon betroffen. Wenn man in der Stadt lebt, wo oft noch das kleinste Stück ungenutzter Fläche von Wohnungsbau, Infrastruktur oder Handel aufgefressen wird, verkümmert der alltägliche Kontakt zur Natur und ihren zahlreichen nichtmenschlichen Entitäten (Tiere, Pflanzen, Steine). In Zeiten, in denen es kaum dringlicher sein könnte, den Folgen jahrhundertelangen menschlichen Einwirkens auf die Umwelt zu begegnen oder zu versuchen, sie rückgängig zu machen, ist es ein Paradox – und ein Problem –, dass vielen von uns in der westlichen Welt die Natur so weit weg vorkommt: Diese seltsame Abgetrenntheit wirkt oft lähmend. Wie können wir wieder mit den Rhythmen der Natur in Einklang kommen? Wie erschließen wir uns die Perspektiven der Tiere, Pflanzen und Steine, die diese Welt wie wir bewohnen, und was können wir von ihnen lernen? Wie lässt sich die Tatsache begreifen, dass unsere eigene Position nur eine von vielen ist? Was folgt daraus für unser Handeln?
Auch wenn die Abhängigkeit von Bildschirmen Teil des Problems ist, hat die große Leinwand im Kino schon immer anders funktioniert: als Fenster zu unzähligen anderen Welten, die Welt der Natur eingeschlossen. Als Reaktion auf unser zunehmend gestörtes Verhältnis zur Natur und angesichts anhaltender Debatten in der Gesellschaft zum Leben im Anthropozän haben zahlreiche zeitgenössische Filmemacher*innen und Künstler*innen aus aller Welt die einzigartigen Möglichkeiten des Kinos genutzt, um uns in ganz konkrete Umweltkontexte hinein zu versetzen. Dabei lassen sie das Tierische, Mineralische und Pflanzliche in den Vordergrund treten und verwischen gezielt die so strikt erscheinende, doch in Wirklichkeit überraschend durchlässige Grenze, die uns von der Natur trennt. Die Nutzung des Mediums Kino für solche Anliegen ist indes nicht neu. In der Filmgeschichte finden sich zahllose Filme, die sich mit der Natur und ihren verschiedenen Wesen auseinandergesetzt und sich dabei auf eine beindruckend breite Palette unterschiedlicher Traditionen und Verfahren bezogen haben.
Vor diesem Hintergrund untersucht das Filmprogramm „Animal, Mineral, Vegetable – Natur und Nichtmenschliches im Film“ das komplexe Verhältnis von Mensch und Natur und zeigt auf vielfältige, sinnliche und oft höchst unterhaltsame Art und Weise, was auf der großen Leinwand geschieht, wenn Tiere, Pflanzen und Mineralien in den Mittelpunkt rücken: Kinder, die zu Hunden werden, jahrhundertalte Bäume, bedrohliche Felsformationen, mordlustige Affen, pralle Melonen, bebende Steine, endlose Wiesen voller tanzender Blüten und viel, viel mehr. Die Auswahl besteht aus 30 kurzen, langen und mittellangen Filmen, stellt das zeitgenössische Kino in einen fruchtbaren Dialog mit beinahe 100 Jahren Filmgeschichte und versammelt Spiel-, Genre-, Dokumentar-, Essay- und Experimentalfilme aus allen Kontinenten. Auf diese Weise versucht die Reihe, die immense Vielfalt der Natur durch eine ähnliche Diversität filmischer Formen abzubilden.
Das Programm umfasst Werke filmhistorischer Größen (Maya Deren, Robert Bresson, Víctor Erice, George A. Romero, Joaquim Pedro de Andrade, Toshio Matsuomoto) ebenso wie Filme von einigen der faszinierendsten Regisseur*innen des Gegenwartskinos (Deborah Stratman, Mark Jenkin, Michelangelo Frammatino, João Salaviza & Renée Nader, Shambhavi Kaul). Dazu kommen Arbeiten von Filmemacher*innen, die sich immer wieder mit der Natur und ihren nichtmenschlichen Wesenheiten auseinandergesetzt haben (Rose Lowder, Apichatpong Weerasethakul, Pierre Creton, Artawasd Peleschjan). Einige Filme der Reihe laufen als Berliner Premiere sowie als neue Restaurierungen. Wir freuen uns, dass die Filme sowie deren Themen und kinematografische Ansätze weitere Kontextualisierungen durch Einführungen von und Gesprächen mit Filmschaffenden (Rose Lowder, Shambhavi Kaul), Künstler*innen/Wissenschaftler*innen (Deborah Stratman, Emilio Varavella) und einer Schriftstellerin (Joanna Pocock) erfahren werden.
Das Programm findet in einer Jahreszeit statt, in der sich die Natur von ihrer üppigsten Seite zeigt, und lädt dazu ein, im Kinosaal auf verschiedenste Art mit dieser Natur in Kontakt zu treten. Man kann all den unterschiedlichen Kreaturen begegnen, die unmittelbar unter uns leben (THE PRIVATE LIFE OF A CAT, NIGHT COLONIES, 33 ZVĒRI ZIEMASSVĒTKI VECĪTI), von der Weisheit der Esel und Nachtigallen lernen (AU HASARD BALTHAZAR, LA VOIX DU ROSSIGNOL) und die Welt buchstäblich mit den Augen von Tieren sehen (MONKEY SHINES, ANIMAL CINEMA). Man kann Unterhaltungen zwischen Menschen und Pflanzen beiwohnen (USUZUMI NO SAKURA), beängstigt beobachten, wenn Flechten auf menschlichem Fleisch wachsen (ENYS MEN), und das volle erotische Potenzial von Wassermelonen und botanischen Zeichnungen entdecken (VEREDA TROPICAL, UN PRINCE). Man kann die wahre Dimension geologischer Zeit begreifen (LAST THINGS, PICNIC AT HANGING ROCK), beobachten, wie Mineralien entstehen und den menschlichen Körper formen (ARAYA, ISHI NO UTA), und spüren, wie die Erde unter uns bebt und zittert (LA NATURE, SLOW SHIFT). Außerdem können wir spezifisch indigene Perspektiven auf Natur und Landschaft kennenlernen (CROWRÃ, FAINTING SPELLS, CERRO SATURNO), durch Landstriche wandern, in denen die Grenze zwischen Mensch und Natur völlig verschwimmt (TERRA MATER, QUIPROQUO), und über die spezifische Darstellung der Natur und ihrer Wesenheiten im Kino und darüber hinaus nachdenken (THE SKY ON LOCATION, LA SOURCE DE LA LOIRE, EL SOL DEL MEMBRILLO). (James Lattimer)
Das Programm wurde kuratiert von James Lattimer und vom Hauptstadtkulturfonds gefördert. Mit Dank an Salvador Amores, Erika Balsom, Cecilia Barrionuevo, Burak Çevik, Jesse Cumming, Jeronimo Rodriguez und Gustavo Vinagre.