Frederick Wiseman (*1930) ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Filmemacher der vergangenen sechs Jahrzehnte. Seit 1967 entstanden bislang 45 Filme, die sich unterschiedlichen, zumeist amerikanischen Institutionen, Stadtvierteln und Kleinstädten widmen.
Diese umfangreiche Chronik, „a natural history of the way we live“ (David Eames), orientiert sich nicht an einzelnen Biografien oder berühmten Persönlichkeiten. Im Zentrum der Filme stehen die Interaktionen zwischen Individuen und ihrer jeweiligen Gesellschaft, wie sie sich in Form von institutionellen Rahmenbedingungen manifestiert. Diese Institutionen werden als Mikrokosmen gezeigt – oder in den Worten von Wiseman: als „kulturelle Fährten“ –, in denen sich größere Teile der (amerikanischen) Gesellschaft wiederfinden lassen.
Die Fragen, um die Wisemans Dokumentarfilme kreisen, thematisieren vielfältige Aspekte des Lebens: Wie werden Menschen in ihrem Kontakt mit Behörden geformt, wie entsteht Autorität, wie wird diese ausgeübt? Wie verhalten wir uns gegenüber der Polizei, wie begegnen wir Ärzt*innen, wie Lehrer*innen? Wie funktioniert das Zusammenleben in einem Stadtviertel?
Frederick Wiseman arbeitete zunächst als Jurist in Paris und unterrichtete an der Boston University. 1963 produzierte er Shirley Clarkes New American Cinema-Klassiker The Cool World, 1967 folgte sein erster Film TITICUT FOLLIES. Schonungslos dokumentiert er darin die schockierenden Bedingungen, unter denen Straftäter mit psychischen Störungen in der Bridgewater-Anstalt leben müssen. In der Folge entstand fast jedes Jahr ein neuer Film, Arbeiten, die ein breites Spektrum abdecken: Schulen (HIGH SCHOOL, HIGH SCHOOL II und DEAF), Sozialhilfe (WELFARE), die Intensivstation eines Krankenhauses (NEAR DEATH), ein Benediktinerkloster (ESSENE), das Ballett (BALLET), die Ausbildung der Atomstreitkräfte (MISSILE) sowie unterschiedliche Orte und Stadtviertel (ASPEN, BELFAST, MAINE und IN JACKSON HEIGHTS).
Die mit TITICUT FOLLIES formulierten Grundsätze besitzen bis heute ihre Gültigkeit: keine gefilmten Interviews, kein erklärender Kommentar, keine zusätzliche Musik sowie eine Montage, die das Gezeigte nicht anhand einer sonst üblichen chronologischen Narration strukturiert, sondern die einzelnen Sequenzen anhand rhetorischer Argumente ordnet. Die Filme gleichen so der „Struktur eines Mosaiks“ (Bill Nichols), und in ihrer Summe ergeben sie einen einzigen langen Film, in dem die Einzelteile untereinander im Dialog stehen, sich kommentieren und ergänzen.
Die von Hannes Brühwiler kuratierte Retrospektive zeigt 21 Filme, darunter Klassiker wie WELFARE, HIGH SCHOOL oder BELFAST, MAINE, aber auch Werke, die seltener zu sehen sind, wie CANAL ZONE und MODEL, die für das Gesamtwerk jedoch von großer Bedeutung sind. Am Eröffnungsabend wird es ein Gespräch mit Frederick Wiseman geben, an dem auch Jean Perret, langjähriger Leiter des Schweizer Festivals Visions du Réel teilnehmen wird.
Die Retrospektive wurde durch den Hauptstadtkulturfonds gefördert.