„Der erste Jahrgang Filmhochschule München. Tabula rasa. Eine lang gespeicherte Sentimentalität beim Filmesehen sollte verschwinden. Universitätswissen in Fetzen zerstieben. Was übrig blieb, war die eigene Arbeit und sehen, sehen, sehen.“ So erinnert sich Ingemo Engström, 1941 als Finnlandschwedin in Jakobstad geboren, in einem von ihr verantworteten Heft der Zeitschrift Filmkritik. Davor hatte sie Literaturwissenschaft und Psychologie studiert, beide Interessen finden sich in ihren Filmen wieder. An der Filmhochschule begann sie 1967 gemeinsam mit Wim Wenders, Werner Schroeter (der die HFF bald verließ und eigene Wege ging) und vor allem Gerhard Theuring, mit dem sie bis heute lebt und arbeitet. Zwischen DARK SPRING (1970), ihrem Abschlussfilm, und MRS. KLEIN (1995) entstanden acht lange Filme. Einen davon, FLUCHTWEG NACH MARSEILLE (1977), drehte sie in Co-Regie mit Theuring, einen anderen, ERZÄHLEN (1975), zusammen mit Harun Farocki. „Ein Leben, in dem aus Arbeitsbeziehungen Liebesbeziehungen wurden, oder umgekehrt, oder beides gleichzeitig. Und diese Beziehungen griffen in das wirkliche Leben ein, waren das Leben selbst. Das gilt für die lebenslange Kooperation mit Gerhard Theuring, auch für die temporäre Zusammenarbeit mit Harun Farocki, der mit seinen Innovationen bis zu seinem Tod auf mich eingewirkt hat.“ Engström nennt sich „Autorenproduzentin“ – das sei ein „etwas verwitterter Begriff“, aber die „Freiheitssucht und Selbstbestimmung“, die sich mit dieser Arbeitsform verbinde, entspreche ihr. „Konzentriert habe ich mich stets auf das einzelne Projekt und so lange gekämpft, bis ich die Finanzierung hatte. Das bedeutete lange Wartezeiten und zeitweise Verarmung.“
Engströms Filme lassen ein eigenes Gefühl von Rhythmus und Dauer entstehen. Sie verbinden sich durch Motive (Autofahrten, Gewässer, Musik) und wiederkehrende Schauspieler*innen (Rüdiger Vogler, Katharina Thalbach, die Tochter Muriel Theuring). Zugleich stellen sie gedanklich-filmische Anschlüsse an die Film- und Ideengeschichte her: ein Weiterdenken in Bildern und Tönen mit Anna Seghers, Klaus Mann, Walter Benjamin und Annemarie Schwarzenbach, Rekurse auf die Psychoanalyse von Melanie Klein und Donald W. Winnicott. Die filmhistorischen Korrespondenzen werden in dieser Retrospektive in Filmen von Kenji Mizoguchi, Alexander Kluge und Robert Bresson und einigen Kurzfilmen aufgegriffen; Chantal Akerman und Jean-Luc Godard wären in einer umfangreicheren Reihe hinzuzufügen.
Das Harun Farocki Institut fühlt sich Ingemo Engström und Gerhard Theuring verbunden und freut sich, die Retrospektive ihrer Filme gemeinsam mit dem Arsenal in Berlin zu zeigen. (Volker Pantenburg)
Die Retrospektive Ingemo Engström entstand im Rahmen von Archive außer sich, einem Projekt des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt. Gefördert im Rahmen von Das Neue Alphabet durch die BKM auf Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.