Von Rumänien über Moskau nach Odessa: Kira Muratowas Lebensweg schlug viele unterschiedliche Richtungen ein. 1934 als Tochter einer Rumänin und eines Russen in Rumänien geboren und aufgewachsen, studierte sie an der Moskauer Filmhochschule WGIK und zog anschließend mit ihrem ersten Mann Oleksandr Muratow nach Odessa, wo sie bis zu ihrem Tod 2018 lebte und arbeitete. In den knapp fünf Dekaden ihrer Regietätigkeit entstand ein so eigenwilliges wie unabhängiges Werk, das durch zahlreiche politische und gesellschaftliche Umbrüche und Umwälzungen hindurch die Gegebenheiten ihrer Zeit aufgenommen und künstlerisch transformiert hat. Den Umständen, seien es Zensurversuche oder finanzielle Zwänge, musste sie ihre Filme stets abtrotzen.
Ihr Debüt BRIEF ENCOUNTERS (1967) – entstanden zu Beginn der kulturpolitischen Stagnation nach der relativen Freiheit der Tauwetter-Ära – kam mit nur wenigen Kopien ins Kino und wanderte bald ins Regal. Der zweite Film THE LONG FAREWELL (1971) mit seinem Fokus auf dem „gewöhnlichen“ Alltag einer Frau und Mutter wurde von der Zensur als „kleinbürgerlich“ diffamiert und erst gar nicht freigegeben. Von Muratowa selber ironisch „provinzielle Melodramen“ genannt, sind beide Filme empfindsame Studien über weibliche Sehnsüchte, über Desillusionierung und Einsamkeit, dabei gleichzeitig spielerisch leicht und atmosphärisch dicht. Erst sieben Jahre später konnte sie ihren nächsten Film drehen. Ihr vielleicht berühmtester Film, THE ASTHENIC SYNDROME von 1989, ist in einem ganz anderen Tonfall gehalten und zeigt in apokalyptischen Bildern den inneren Zerfall der sowjetischen Gesellschaft.
In der unabhängigen Ukraine begann für Muratowa eine neue, äußerst produktive Schaffensphase, die bis kurz vor ihrem Tod anhielt und in der sie ihre absurden, fragmentarischen Erzählungen voller exzentrischer, oft grotesker Figuren immer weiterentwickelte. Ihre Filme drehte sie in russischer Sprache, stets mit viel Lust an lokalen und milieuspezifischen Sprachvarianten und -nuancen. Das Spiel mit Wiederholungen, Variationen und Doppelungen (in mehreren ihrer Filme kommen Zwillinge vor) ist überhaupt zentrales Stilmittel. Monologe bzw. sich im Kreise drehende Gespräche demonstrieren die Unmöglichkeit von Kommunikation und echter Begegnung. Die Dekonstruktion herkömmlicher Narration verbindet sich mit der unerschrockenen und unsentimentalen Anklage einer korrupten, moralisch bankrotten Gesellschaft, in der Menschen von jeglicher Rationalität losgelöst handeln. Dissonanzen prägen Muratowas Werk, in dem es immer um die Liebe und den Tod geht. Der Satz „Niemand liebt jemanden“, der in mehreren ihrer Filme geäußert wird, ist dabei weniger Behauptung als Ausdruck einer Sorge um die Fragilität menschlichen Zusammenlebens.
Wir zeigen zehn ihrer 15 zwischen 1967 und 2012 entstandenen Spielfilme. (Annette Lingg)
Mit herzlichem Dank an das Dovzhenko Centre, Kyiv.