Wir beginnen mit einem Klassiker des Expressionismus, Paul Lenis WACHSFIGURENKABINETT (1924), einem für die Zeit typischen Episodenfilm mit Conrad Veidt in der Rolle Iwans des Schrecklichen. William Dieterle spielt in der Rahmenerzählung den jungen Dichter, der sich die einzelnen Geschichten ausdenkt (auch Sultan Harun al-Raschid und Jack the Ripper kommen vor). Dies war übrigens der Film, der 1963 in der ersten Veranstaltung der Freunde der Deutschen Kinemathek gezeigt wurde; wir bemühen uns, eine rekonstruierte Kopie des Films aus der Cineteca di Bologna zu beschaffen. Wir zeigen außerdem einige Klassiker von F.W. Murnau, Fritz Lang und G.W. Pabst, so DER LETZTE MANN (1924, Triumph der „entfesselten Kamera“) und TARTÜFF (1926, nach Molière, mit Emil Jannings und Werner Krauss) – zwei Meisterwerke in Regie, Kamera und Dekor; ferner die zweiteiligen NIBELUNGEN (Fritz Lang, 1923/24) und METROPOLIS (Fritz Lang, 1927 – man muss diese Filme kennen; Langs Visionen, seine fantastischen und monumentalen Dekors sind zur Legende geworden). Auch zwei Filme von G. W. Pabst gehören in dieses Kapitel: DIE FREUDLOSE GASSE (1925) mit Greta Garbo und Asta Nielsen sowie der psychoanalytische Film GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926, bemerkenswert durch seine expressionistischen Traumsequenzen). DIE WEBER (Friedrich Zelnik, 1927, nach Gerhard Hauptmanns Drama) ist charakteristisch für das Vordringen sozialkritischer Inhalte im deutschen Stummfilm der späteren 20er Jahre – unter dem Eindruck der „Russenfilme“. Die skandinavischen Stummfilmklassiker sind uns besonders lieb und teuer, leider sind die Filme von Victor Sjöström und Mauritz Stiller, die bereits ab 1917 Zeugnis ablegen vom hohen Entwicklungsstand und der visuellen Fantasie des frühen schwedischen Films, nur schwer zu beschaffen. Wir zeigen u.a. Ingmar Bergmans Lieblingsfilm KÖRKARLEN (Der Fuhrmann des Todes) von Victor Sjöström aus dem Jahre 1921 nach einer Erzählung von Selma Lagerlöf, sowie Berg Ejvind och hans hustru (Der Geächtete und sein Weib, 1917) und KLOSTRET I SENDOMIR (Das Kloster von Sendomir, 1919). Der dänische HÄXAN von Benjamin Christensen (1922), eine Chronik der Hexen-Verfolgung durch die Jahrhunderte, ist ein Klassiker des Surrealismus und ein gefeierter Kultfilm bis heute. In drei Programmen zeigen wir einen Querschnitt durch die europäische Filmavantgarde der 20er Jahre – eine Bewegung, die viele Impulse aus der bildenden Kunst aufnahm und auf die Kunstszene sowie auf das Kino in allen Bereichen zurückwirkte. Da sind zunächst die abstrakten deutschen Filme von Viking Eggeling, Hans Richter und Walter Ruttmann; die französische Avantgarde ist vertreten mit Werken von René Clair, Fernand Léger, Marcel Duchamp und Man Ray, ebenfalls im Programm sind Werke der Surrealisten und Impressionisten Louis Delluc, Germaine Dulac und Dimitri Kirsanoff. Besonders interessant ist die Entwicklung von Germaine Dulac von LA SOURIANTE MADAME BEUDET (1923, einer Satire über den Alltag einer Ehefrau) über INVITATION AU VOYAGE (1927, ein psychologisch-poetisches Kammerspiel) bis zu LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN (1927, mit Antonin Artaud, ein skandalträchtiger surrealistischer Essay mit Zerrspiegeln). Darauf folgen Stummfilme von Jean Epstein, einem herausragenden Stilisten des französischen Stummfilms, der einmal eine eigene Retrospektive verdient hätte. Abel Gances monumentaler NAPOLEON (1927) gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang (4 Stunden, am Schluss mit der dreigeteilten Leinwand des „triple écran“). Eine besondere Empfehlung verdient Alberto Cavalcantis Dokumentarfilm RIEN QUE LES HEURES (Nichts als Stunden, 1926), ein assoziativer Querschnittsfilm über einen Tag in Paris. Zum französischen Kino der Stummfilmzeit gehört auch Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D’ARC (Der Leidensweg der Johanna von Orleans, 1928), ein Film, der durch seine expressiven Grossaufnahmen des Gesichts der Schauspielerin Falconetti gleichsam die ganze Epoche überstrahlt, wie eine unvergessliche Ikone. Godard verwendete Ausschnitte aus Dreyers Film in Vivre sa vie (1962). Insgesamt sind die 20er Jahre im französischen Film, die wir nur ausschnittsweise dokumentieren konnen, ebenso reich an Meisterwerken wie die entsprechende Periode des deutschen Kinos. Am Schluss des Kapitels gehen wir noch auf die realistische Spätphase des deutschen Stummfilms ein, zu der die Werke von Ruttmann, Piel Jutzi und G.W. Pabst gehören und die mit dem in Berlin entstandenen Kollektivfilm MENSCHEN AM SONNTAG (1930) ihren Abschluss fand. Ein besonderes Juwel aus dieser Zeit ist Ernö Metzners kurzer, aber halluzinatorischer Film POLIZEIBERICHT ÜBERFALL, dem Kracauer in seinem Buch „Von Caligari zu Hitler“ eine eigene Analyse widmet. Eunice Martins wird in diesem Monat folgende Filme am Klavier/Flügel begleiten: DER LETZTE MANN (5.12.), KÖRKALEN (13.12.), Berg-Eyvind och hans hustru (14.12.), EROTIKON (14.12.), BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (29.12.)