Programm 1 – Wieviel Bewegung braucht ein Bild?
Kaum hat das Auge ein bewegliches Filmbild gefasst, hat es sich schon verändert. Die Fotografie lädt den Betrachter zur Kontemplation und geistigen Versenkung in das Bild ein. Der Fotofilm vereinigt beides. Dieses Programm besteht aus Filmen, in denen die Natur beider Bildformen problematisiert wird. Chris Markers LA JETÉE (F 1962) ist ein legendärer Science-Fiction-Film, der nur aus überblendeten Fotografien besteht: In den Kellern des atomkriegverseuchten Paris experimentieren Überlebende mit einem Gefangenen, um in der Zeit zu reisen. Durch die Erinnerung an ein besonders starkes mentales Bild, das Gesicht einer Frau, gelingt es ihm, in die Vergangenheit zu fliehen und sie zu treffen. Die vergegenwärtigende Wahrnehmungsweise der Erinnerung, die Zeiten und Räume überbrückt, zeigt sich in der einzigen bewegten Filmaufnahme, dem Augenaufschlag der Frau angesichts des Zeitreisenden. In Alain Resnais' VAN GOGH (F 1948) gelingt eine neue Art von Künstlerbiografie, bei der das Leben van Goghs ausschließlich mit Hilfe seiner Gemälde erzählt wird. Resnais will die Innenwelt eines Künstlers dokumentieren und filmt die Gemälde so, als seien sie reale Dekors und Personen eines Spielfilms. Daher kann er auch mit bloßen Fotografien der Gemälde (statt der Originale) arbeiten und hat sich aus Überzeugung für das Schwarz-Weiß und für das Medium Fotografie entschieden. Mit den Debatten um diesen Film eines "Cinéma impur" (Bazin), eines "unreinen Kinos", etabliert sich das Genre des Fotofilms. Hubert Fichtes & Leonore Maus DER TAG EINES UNSTÄNDIGEN HAFENARBEITERS (D 1966) schildert den Tageslauf eines nicht fest angestellten Lohnarbeiters, die auf der untersten Stufe der Hierarchie stehen. Der Kommentar greift z.T. die Sprache der Hafenarbeiter auf und verfugt sich wunderbar mit den schwarz/weiß Fotografien. Beides zusammen ergibt eine präzise gebaute Reportage über Arbeit und Freizeit im Hafenmilieu und ihre sozialen Bedingungen. Drei Bewegt-Film-Sequenzen unterbrechen die Fotofolge und thematisieren die Fotoform. Katja Pratschkes & Gusztáv Hámos' FREMDKÖRPER (D 2002) "erinnert in seiner Ästhetik an die klassischen Fotofilme Chris Markers und die konzeptuellen Liebesfilme der Nouvelle Vague. Doch obwohl man bei der Geschichte der Freunde Jan und Jon und ihrer gemeinsamen Liebe Marie unwillkürlich an Truffauts Jules und Jim denken muss, entpuppt sich die geradezu verschlingend-suggestive Erzählung als ein hochaktueller Exkurs über Genetik und menschliche Identität." (Daniel Kothenschulte). Programm 2 – Der tanzende Fotofilm
Fotografie ist eigentlich Schweigen und Unbeweglichkeit. Doch im Fotofilm werden Töne und Bewegung den Fotografien hinzugefügt, ja durch ausgiebige Montagepraxis scheinen diese zuweilen gar zu tanzen. Dieses Programm untersucht die Funktion von Animationstechniken im Fotofilm: vom Stillstand zur Bewegung, vom Foto zum Bewegungsfluss, von grafischen Strukturen zur Organisation von Zeit.. Sabine Höpfners HYBRID AND SUPERIMPOSITION (D 1997/98) kombiniert Fotos, Fotogramme, Röntgen- und Videobilder mit Hilfe der Fotoanimation. Durch die Mischtechniken entsteht eine Zwitterwesen, ein hybrides Etwas. Besonders eindrücklich jagen die animierten Fotogramme von Bienen über diverse Fotohintergründe. Eine Hommage an die weißen Schatten. Für SALUT LES CUBAINS (F 1963) hat Agnes Varda von einer Kubareise 1500 Fotos mitgebracht, die sie zu einer höchst ausgelassenen Reiseerzählung, kommentiert von Michel Piccoli und ihr selbst, animiert: Fidel und die Musiker, Sozialismus und Cha-Cha-Cha. Wie leben Frauen auf Kuba, in Uniform, mit afrikanischen und katholischen Quellen der kubanischen Musik? Zuweilen werden auch die Fotos zum Tanzen gebracht. Es lebe die Leica! In Paul und Menno de Nooijers AT ONE VIEW (NL 2005) sitzen zwei Männer auf Stühlen vorm Kamin. Sie halten vor ihre Gesichter animierte Porträts ihrer selbst, im Profil, frontal usw., während wir Zitate von Fotografen hören. Ihre widersprüchlichen Botschaften, reflektieren die flüchtige, täuschende und persönliche Natur von Fotografie und Film. Dryden Goodwins Videofilm HOLD (GB 1996) nutzt die Tatsache aus, dass Film aus einzelnen Bildkadern besteht. Pro Frame zeigt er eine neue Person, also jedes 1/18 einer Sekunde. Zuweilen werden einzelnen Personen länger betrachtet, in dem zwischen ihnen hin und her geschnitten wird. Der Ton des Films ist unbarmherzig, keine Lösung wird erreicht, wir bewegen uns einfach weiter vorwärts. Jean-Pierre Jeunets PAS DE REPOS POUR BILLY BRAKKO (Keine Ruhe für Billy Brakko, F 1983) schildert die überdrehte Geschichte seines Protagonisten, der gerne eine Figur in einem Comic gewesen wäre, wo Helden niemals sterben. Ein Film, der Klischee-Bilder wie Stenokürzel verwendet, und ihnen durch das hohe Tempo die Bewegung nimmt. Was bleibt, sind ikonografische Eindrücke. Dan Geesin’s und Esther Rots' DE TUIN (NL 1999) zeigt staccatoartig kleine Zwischenfälle im Stile einer satirischen Soap Opera. Wie in einem Fotoroman strotzt jedes Bild von bedeutsamen Anhaltspunkten. Der Zuschauer beginnt, sich Beziehungen zwischen den Charakteren vorzustellen, Tugenden und Laster vom Blick ihrer Augen oder der Art, wie sie gekleidet sind, herzuleiten - entsprechend den Klischees des Genres. In Franz Winzentsens DER BESENBINDER, DER FOTOGRAF UND DER KOCH (D 1997) begegnet der Erzähler einem Besenbinder, der sich keine Gedanken über die Verwendung seiner Besen macht, die Träume eines Fotografen werden von dessen Dunkelkammertechniken bestimmt, und der Koch einer Hähnchenbraterei verliert sich in seiner Traumwelt, in der Hühnerbrustbeine eine hervorragende Rolle spielen. Virgil Widrichs COPY SHOP (A 2001) erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich solange vervielfältigt, bis die ganze Welt nur mehr aus ihm besteht. Copy Shop besteht aus nahezu 18.000 fotokopierten Filmkadern, welche am Tricktisch animiert und in 35mm abgefilmt wurden. Ein "original Kopierfilm" - weltweit dupliziert. Programm 3 – Erinnern und Gedächtnis
Filme flimmern auf – wie Susan Sonntag anmerkte - und verlöschen wieder. Sie ereignen sich immer jetzt. Fotografie ist stets etwas, das nicht mehr ist. Man erinnert sich an den Moment, aktualisiert die Erinnerung. Beiden Medien wird nachgesagt, dass sie Erfahrungen einfangen oder Beweismaterial vorlegen können. Diese Programm geht dieser Funktion der persönlichen oder geschichtlichen Erinnerung nach. In Thierry Knauffs LE SPHINX (B/F 1985) liest eine sonore Stimme aus Jean Genets Text über das Massaker in dem Palästinenser-Lager Shatila, begleitet nur durch eine diskrete Percussion und summenden Fliegen. Genet beschreibt, ohne Pathos, was er sieht: die Kadaver auf den Straßen. Im Gegensatz zum Wort, das den Tod beschreibt, halten die s/w-Fotografien Porträts von Unbekannten jeden Alters fest, die in einem Brüssler Park vor einer Sphinx-Statue aufgenommen werden. Es herrscht stets eine Kluft zwischen Text und Bild. Distanz und Nähe vermengen sich unentwirrbar. Dazwischen immer wieder das unnahbare Gesicht der Sphinx: Fern von Palästina. Agnès Varda durchforscht in ULYSSE (F 1982) ein Foto, das sie 1954 gemacht hat: Ein nackter Mann in Rückenansicht, ein Kind und eine tote Ziege am Strand. "Ausgehend von diesem Foto habe ich die Protagonisten gesucht und wollte gar den Augenblick dieser Aufnahme wiederfinden. Dabei interessierte mich nicht nur, mein Gedächtnis und die Zeit zu erforschen, sondern das Bild zu befragen, die Darstellung der Erinnerung, die Beziehung der Erinnerung zur Darstellung abzufragen. Und das ist doch das eigentliche Material des Kinos: Zugleich die Zeit, die Bewegung und vor allem das Bild zu befragen." (Varda). In Franz Winzentsens DIE ANPROBE (1938) (D 1985) darf eine Eizelle darf schon einmal einen Blick in ihre zukünftige Welt werfen und findet sich mitten in der Nazi-Zeit wieder. Diese bietet sich als ironische Collage aus Alltäglichem, Privatem und Vertrautem dar. Da wechseln befremdliche Kakteen- und Schmetterlingssammlungen mit aparten Gummimänteln und Blumen auf dem Parteitagsgelände. Im (Alb-) Traum vermischt sich alles und Schmetterlingsformationen überfliegen mit dröhnendem Geräusch die Schnittmusterbögen und schließlich zerstörte Städte. Der Film endet mit der Geburt des Franz Winzentsen. Janusz Majewskis ALBUM FLEISCHERA (Fleischers Album, PL 1962) untersucht Fotos aus dem Album eines Wehrmachtsoffiziers namens Fleischer, die dieser von 1940-1944 in Polen gemacht hat. Verloren auf dem Rückzug, hat Majewski aus den gefundenen 2000 Fotos 200 ausgewählt. Er kommentiert sie, rätselt über die Bildmotive, und versucht sich in die Psyche des Fotografen zu denken. Sergei Eisensteins BEZHIN LUG (Die Beshin Wiese, SU/USA 1935/1967, bearbeitet von Naum Klejman und Sergej Jutkevic) ist ein Fotofilm wider Willen. Nachdem der stalinistische Filmminister Schmujatzki die Arbeiten an dem als formalistisch und subjektivistisch bezichtigten Film einstellen lies und das Negativ verbrannte, blieben nur wenige, probeweise entwickelte Einzelbilder übrig. Jay Leyda rekonstruierte anhand einer Schnittliste mit diesen Standbildern den eigentlich verlorenen Film, der nun für die Filmgeschichte als Gedächtnis und Erinnerung dient. Es ist eine politische Parabel um einen Vater-Sohn-Konflikt, nach Isaak Babel. Der Sohn, Anhänger der Idee kollektiven Besitzes, verrät den von seinem Vater mit anderen Kulaken geplanten Brandanschlag an die Kolchosbauern und wird dafür vom Vater erschossen. Programm 4 – Das filmisch Fotografische
Das Baumaterial des Films ist Fotografie, weshalb eine enge Verbindung zwischen beiden Medien besteht, während sie sich in ihrer Beziehung zur Zeit stark unterscheiden. Das Typische des Films ist nicht so sehr – wie man glauben könnte – die Bewegung, sondern es ist die Organisation von Zeit. Fotografie ist durch ihre optische Qualität determiniert: hell-dunkel Kontraste, Konflikte grafischer Linien, Flächen und Bewegungen. Dieses Programm geht der spezifisch fotografischen Qualität in den Fotofilmen nach. Silke Grossmanns DIE GEFÜHLE DER AUGEN (D 1985/87) verbindet Fotografien (Stills) und Filmfotografie in vier Kapiteln miteinander: 1. Vegetation, 2. der Arbeitsprozess einer Frau an einer Druckmaschine, 3. Nahaufnahmen von Gesichtern eines Mannes und einer Frau, 4. die Bewegung einer Tänzerin. Dieses Experiment vergleicht ganz direkt das Zeitempfinden der filmischen Bewegung mit dem Eindruck von Bewegung in den Fotografien. In Shelly Silvers WHAT I'M LOOKING FOR (USA 2004) macht sich die Autorin in Lower Manhatten zu blind dates auf, begegnet Menschen, um sie zu fotografieren. Es ist wie beim Jagen oder Fischen: Man weiß nicht genau, was man erlegen wird und ob man es haben möchte oder wieder wegwirft. Esaias Baitels preisgekrönter Fotofilm THE ZONE (S 2003) erzählt eine Geschichte über Rock 'n' Roll und Harley Davidsons Träume. Es ist eine Erzählung über die Hell Angels und Nazi Symbole, und über Sex, Drogen, Hass und Gewalt. Der schwedische Fotograf Esaias Baitel verbrachte 1977-81 vier Jahre damit rassistische und antisemitische Straßengangs in den Vorstädten von Paris zu fotografieren. Die Gangmitglieder wussten nicht, dass der Fotograf, der ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte, selbst ein Kind von Holocaust Überlebenden ist. Mit DAS KINO UND DER TOD (D 1988) wollte Hartmut Bitomsky einen Film machen, der aus nicht viel mehr als ihm sprechend vor der Kamera besteht und Photographien, die er von Filmen abgenommen hatte. Keine Filmausschnitte, keine Abschweifungen, keine Ausflüchte..."Das Kino scheint auf gewisse Weise unablässig mit dem Tod, dem Töten und dem sterben beschäftigt zu sein. Der Tod, so kann man sagen, ist ein Axiom des Kinos. Photographie und Film sind des öfteren als Medien des Todes begriffen worden. Bazin nannte sie 'das Leichentuch der Realität'." (Hartmut Bitomsky) Programm 5 - Fotoroman
Die Zeit der Fotografie baut keine Erzählung auf. Kaum schauen wir uns etwas an, wird unser Blick schon zurückgeworfen. Film dagegen ist hypnotisch, eine Art Narkose, in der man sich wiegen lässt, sei es von der Erzählung oder der Schönheit der Bilder. Das Foto im Fotoroman konzentriert sich meist auf einen Augenblick, der über das Jetzt hinausweist, eine Zeitstruktur schon andeutet. Dieses Programm ist solchen Fotoromanen gewidmet, die die Kinogeschichte zitieren und mit narrativen Erzählformen experimentieren. Katja Pratschkes und Guzstáv Hámos' Fotoroman RIEN NE VA PLUS (D 2005) erzählt die Geschichte von Flüchtling Igor und Frau Kah. Sie sterben zur gleichen Zeit. Sie überqueren die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Im Schattenreich der Toten, einer Art Parallelwelt, begegnen sie sich zum ersten Mal – und es ist Liebe auf den ersten Blick. Der Film beobachtet die mühevolle Überwindung von Grenzen zwischen Drinnen und Draußen, hier und dort, Bewegung und Stillstand. In Paul und Menno de Nooijers I SHOULD SEE (NL 1991) legt ein Fotograf einen Film ein und schließt den Fotoapparat. Von diesem Zeitpunkt an sitzt der Zuschauer im Dunkeln des Gehäuses und sieht nur das eingefrorene Geschehen, sobald der Fotograf auslöst. Hubert Fichtes und Leonore Maus DER FISCHMARKT UND DIE FISCHE (D 1968) zeigt Alltag und Leben in dem portugiesischen Fischerdorf Sesimbra, südlich von Lissabon, unter der Diktatur Salazars 1964. Die Fotos von Mau, z.B. in geometrischen Mustern ausgebreitete Fische, und Fichtes Kommentar sekundieren sich gegenseitig. Doch das Wort Kommentar führt in die Irre, beschreibt den poetisch-reportageartigen Text nur ungenügend. Elfi Mikeschs EXECUTION. A STUDY OF MARY (D 1979), eine Studie zur Maria Stuart, markiert die Nahtstelle zwischen Fotografie und Film im Werk der Autorin. "Die Widersprüchlichkeit und die Vielfalt des Materials, mit dem die Person Marias im Lauf der Zeit umgeben wurde, brachten mich auf den Gedanken, diese 'königliche Geschichte' zu trivialisieren. Ich komprimierte die Informationen zu Bildern der Leidenschaft, Macht, Liebe, Schmerz und Tod." (Mikesch) Raul Ruiz' preisgekrönter Fotofilm COLLOQUE DE CHIENS (Symposion der Hunde, F 1979) erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die Prostituierte wird. Als sie sich verliebt und ihre Vergangenheit hinter sich lassen möchte, löst sie eine Reihe von Ereignissen aus, die zu Betrug, Tragödie und Mord führen. Diese Parodie eines südamerikanischen Fotoromans erforscht die zweideutige Nature von Bild und Sprache, denn bestimmte Sätze und Fotografien wiederholen sich und nehmen, je nach Kontext, verschiedene Bedeutungen an, während gleichzeitig ein Gefühl von Schicksal und ewiger Rückkehr entsteht. Programm 6 - Die Plastizität des Moments
Fotografie hält einen Moment fest, gefriert Bewegung ein. Einzelne Augenblicke erhalten so eine ungeheure Plastizität. Fotofilme können den Ablauf des Betrachtens dieses Moments darüber hinaus zeitlich gestalten. Das Programm versammelt Filme, die die Oberfläche des Bildes untersuchen, den gefrorenen Moment umkreisen, in ihn hineinfahren und die Beziehung von Stillstand und Bewegung ausloten. Andrea van der Straatens Studie FAMILIENAUSFLUG 1933 (D 1983) untersucht 6 Fotos eines sommerlichen Familienausflugs im Jahr 1933. Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass sich erste Zeichen der politischen Wende im Alltag finden. In Paul und Menno de Nooijers preisgekrönten TRANSFORMATION BY HOLDING TIME (NL 1976) lichtet ein Fotograf ein weibliches Modell mit einer Polaroidkamera ab. Diese sich nach und nach entwickelnden 15 Polaroids werden kontinuierlich auf eine unsichtbare Glasplatte direkt vor die Kamera geheftet, bis nur noch dieses neu entstandene Bild zu sehen ist: Ein Mosaik der Frau. Tim Macmillans FERMENT (GB 1999) beginnt mit der Bewegtfilm-Aufnahme eines ruhigen Platzes in der Stadt. Ein Mann hat einen Herzanfall und fällt zu Boden und die Zeit still steht. Die Kamera gleitet nun weg von diesem Ort, quer durch die Stadt, durch Strassen, Gebäude, Zimmer und Flure, vorbei an eingefrorenen Situationen (gedreht mit Macmillanss einzigartiger Time-Slice-Camera), flüchtige Blicke und Tonfetzen einfangend, so wie sie in diesem einen Augenblick gleichzeitig existieren. Das Ende zeigt die Geburt eines Babys. Zeit beginnt wieder zu laufen. Hubert Fichtes und Leonore Maus DIE SPANISCHE TREPPE (D 1970) erforscht den gleichnamigen Schauplatz in Rom. Fotografien und Kommentar laufen fast vollständig getrennt nebeneinander her. Die Fotografiefolge nähert sich den abgebildeten Menschen und entfernt sich wieder. Daraus entsteht ein Pulsieren, ein An- und Abschwellen im Ablauf. Eine angefügte Filmsequenz gliedert sich in den Film ein. Sie reflektiert die Form des Fotofilms, denn das durchgeblätterte Comicbändchen verwandelt sich durch die Bewegung der Finger in ein Daumenkino. Sirkka-Liisa Konttinens vielfach preisgekrönter Fotofilm THE WRITING IN THE SAND (GB 1991) lebt vom fotografierten Augenblick, von Schnappschüssen an Stränden Nordenglands. "Lärmende Rituale, immer die gleichen und immer überraschend: Sprünge in die Brandung, körperlose grinsende Köpfe im Sand, Meerjungfrauen verschmelzen mit den Fluten am Ende eines Tages. Und all das passiert wieder am nächsten Tag und im nächsten Sommer und lange, nachdem ich meine Fotos gemacht habe." (Sirkka-Liisa Konttinen) John Smiths Fotofilm WORST CASE SCENARIO (GB 2004) beginnt als Serie von Einzelphotographien, die Alltagsleben an einer Wiener Straßenecke zeigen. Der Film sortiert eine Auswahl dieser Bilder und manipuliert sie. Im weiteren Verlauf kommt langsam und schleichend Leben in die statische Welt. Als Sigmund Freud seinen langen Schatten über die Stadt wirft, kommt eine zunehmend unwahrscheinliche Ereignis- und Beziehungslawine ins Rollen. Öffentliche Tagung Fotofilm am 25. & 26.11. - Eintritt freiSa, 25. November
10.30 Begrüßung durch Ludger Derenthal (Museum für Fotografie, Berlin) und die Kuratoren Hámos, Pratschke und Tode.
10.40 Film: Yunobogi No Nikki (The Diary of Yunobogi Boy; Jap 1967, 24 min, OmE) von Nagisa Oshima
11.00 Thomas Tode (freischaffender Filmemacher und Filmwissenschaftler, Hamburg): "Fotofilme – Plädoyer für die Bastardisierung"
12.00 Kaffeepause
12.15 Raymond Bellour (Film- und Literaturwissenschaftler, CNRS, Paris): "Zwei Minuten der Unsicherheit in Menschen am Sonntag" / "Deux minutes d'incertitude dans Menschen am Sonntag" (Vortrag in französisch mit deutscher Kopfhörer-Übersetzung).
13.15 Mittagspause
14.30 Film: Wellengang (D 2005, 5 min) von Dörte Eißfeldt
14.35 Hubertus von Amelunxen (Fotohistoriker, Rektor der European School of Visual Arts, Angoulême / Poitiers): "Foto-Film, vor und zurück und auf der Stelle. Eine kleine Schwellenkunde"
15.35 Kaffeepause
16.00 Abschlussdiskussion mit den Vortragenden & Hartmut Bitomsky (Direktor DFFB, Berlin) & Christa Blümlinger, Moderation: Gusztáv Hámos So, 26. November
10.30 Film: Fremdkörper (D 2002, 28 min) von Katja Pratschke & Gusztáv Hámos
11.00 Katja Pratschke (Medienkünstlerin, Berlin) & Gusztáv Hámos (Medienkünstler, Gastprofessor an der Hochschule für Film- und Fernsehen, Potsdam-Babelsberg): "Bewegt oder nicht bewegt, das ist die Frage"
11.45 Kaffeepause
12.00 Christa Blümlinger (Filmwissenschaftlerin, Université de la Sorbonne Nouvelle, Paris): "Agnès Varda: Filme als Ansichtskarten"
13.00 Mittagspause
14.15 Filme: Der Tag eines unständigen Hafenarbeiters; Der Fischmarkt und die Fische von Hubert Fichte & Leonore Mau (insgesamt 22 min)
14.35 Ole Frahm (freischaffender Literaturwissenschaftler und Publizist, Hamburg): "Agadir, Rom, Hamburg. Zum Verhältnis von Text und Bild in den Filmen von Fichte/Mau"
15.35 Kaffeepause
16.00 Abschlussdiskussion mit den Vortragenden & Elfi Mikesch (Filmemacherin, Berlin) & Ludger Derenthal, Moderation: Thomas Tode
Kaum hat das Auge ein bewegliches Filmbild gefasst, hat es sich schon verändert. Die Fotografie lädt den Betrachter zur Kontemplation und geistigen Versenkung in das Bild ein. Der Fotofilm vereinigt beides. Dieses Programm besteht aus Filmen, in denen die Natur beider Bildformen problematisiert wird. Chris Markers LA JETÉE (F 1962) ist ein legendärer Science-Fiction-Film, der nur aus überblendeten Fotografien besteht: In den Kellern des atomkriegverseuchten Paris experimentieren Überlebende mit einem Gefangenen, um in der Zeit zu reisen. Durch die Erinnerung an ein besonders starkes mentales Bild, das Gesicht einer Frau, gelingt es ihm, in die Vergangenheit zu fliehen und sie zu treffen. Die vergegenwärtigende Wahrnehmungsweise der Erinnerung, die Zeiten und Räume überbrückt, zeigt sich in der einzigen bewegten Filmaufnahme, dem Augenaufschlag der Frau angesichts des Zeitreisenden. In Alain Resnais' VAN GOGH (F 1948) gelingt eine neue Art von Künstlerbiografie, bei der das Leben van Goghs ausschließlich mit Hilfe seiner Gemälde erzählt wird. Resnais will die Innenwelt eines Künstlers dokumentieren und filmt die Gemälde so, als seien sie reale Dekors und Personen eines Spielfilms. Daher kann er auch mit bloßen Fotografien der Gemälde (statt der Originale) arbeiten und hat sich aus Überzeugung für das Schwarz-Weiß und für das Medium Fotografie entschieden. Mit den Debatten um diesen Film eines "Cinéma impur" (Bazin), eines "unreinen Kinos", etabliert sich das Genre des Fotofilms. Hubert Fichtes & Leonore Maus DER TAG EINES UNSTÄNDIGEN HAFENARBEITERS (D 1966) schildert den Tageslauf eines nicht fest angestellten Lohnarbeiters, die auf der untersten Stufe der Hierarchie stehen. Der Kommentar greift z.T. die Sprache der Hafenarbeiter auf und verfugt sich wunderbar mit den schwarz/weiß Fotografien. Beides zusammen ergibt eine präzise gebaute Reportage über Arbeit und Freizeit im Hafenmilieu und ihre sozialen Bedingungen. Drei Bewegt-Film-Sequenzen unterbrechen die Fotofolge und thematisieren die Fotoform. Katja Pratschkes & Gusztáv Hámos' FREMDKÖRPER (D 2002) "erinnert in seiner Ästhetik an die klassischen Fotofilme Chris Markers und die konzeptuellen Liebesfilme der Nouvelle Vague. Doch obwohl man bei der Geschichte der Freunde Jan und Jon und ihrer gemeinsamen Liebe Marie unwillkürlich an Truffauts Jules und Jim denken muss, entpuppt sich die geradezu verschlingend-suggestive Erzählung als ein hochaktueller Exkurs über Genetik und menschliche Identität." (Daniel Kothenschulte). Programm 2 – Der tanzende Fotofilm
Fotografie ist eigentlich Schweigen und Unbeweglichkeit. Doch im Fotofilm werden Töne und Bewegung den Fotografien hinzugefügt, ja durch ausgiebige Montagepraxis scheinen diese zuweilen gar zu tanzen. Dieses Programm untersucht die Funktion von Animationstechniken im Fotofilm: vom Stillstand zur Bewegung, vom Foto zum Bewegungsfluss, von grafischen Strukturen zur Organisation von Zeit.. Sabine Höpfners HYBRID AND SUPERIMPOSITION (D 1997/98) kombiniert Fotos, Fotogramme, Röntgen- und Videobilder mit Hilfe der Fotoanimation. Durch die Mischtechniken entsteht eine Zwitterwesen, ein hybrides Etwas. Besonders eindrücklich jagen die animierten Fotogramme von Bienen über diverse Fotohintergründe. Eine Hommage an die weißen Schatten. Für SALUT LES CUBAINS (F 1963) hat Agnes Varda von einer Kubareise 1500 Fotos mitgebracht, die sie zu einer höchst ausgelassenen Reiseerzählung, kommentiert von Michel Piccoli und ihr selbst, animiert: Fidel und die Musiker, Sozialismus und Cha-Cha-Cha. Wie leben Frauen auf Kuba, in Uniform, mit afrikanischen und katholischen Quellen der kubanischen Musik? Zuweilen werden auch die Fotos zum Tanzen gebracht. Es lebe die Leica! In Paul und Menno de Nooijers AT ONE VIEW (NL 2005) sitzen zwei Männer auf Stühlen vorm Kamin. Sie halten vor ihre Gesichter animierte Porträts ihrer selbst, im Profil, frontal usw., während wir Zitate von Fotografen hören. Ihre widersprüchlichen Botschaften, reflektieren die flüchtige, täuschende und persönliche Natur von Fotografie und Film. Dryden Goodwins Videofilm HOLD (GB 1996) nutzt die Tatsache aus, dass Film aus einzelnen Bildkadern besteht. Pro Frame zeigt er eine neue Person, also jedes 1/18 einer Sekunde. Zuweilen werden einzelnen Personen länger betrachtet, in dem zwischen ihnen hin und her geschnitten wird. Der Ton des Films ist unbarmherzig, keine Lösung wird erreicht, wir bewegen uns einfach weiter vorwärts. Jean-Pierre Jeunets PAS DE REPOS POUR BILLY BRAKKO (Keine Ruhe für Billy Brakko, F 1983) schildert die überdrehte Geschichte seines Protagonisten, der gerne eine Figur in einem Comic gewesen wäre, wo Helden niemals sterben. Ein Film, der Klischee-Bilder wie Stenokürzel verwendet, und ihnen durch das hohe Tempo die Bewegung nimmt. Was bleibt, sind ikonografische Eindrücke. Dan Geesin’s und Esther Rots' DE TUIN (NL 1999) zeigt staccatoartig kleine Zwischenfälle im Stile einer satirischen Soap Opera. Wie in einem Fotoroman strotzt jedes Bild von bedeutsamen Anhaltspunkten. Der Zuschauer beginnt, sich Beziehungen zwischen den Charakteren vorzustellen, Tugenden und Laster vom Blick ihrer Augen oder der Art, wie sie gekleidet sind, herzuleiten - entsprechend den Klischees des Genres. In Franz Winzentsens DER BESENBINDER, DER FOTOGRAF UND DER KOCH (D 1997) begegnet der Erzähler einem Besenbinder, der sich keine Gedanken über die Verwendung seiner Besen macht, die Träume eines Fotografen werden von dessen Dunkelkammertechniken bestimmt, und der Koch einer Hähnchenbraterei verliert sich in seiner Traumwelt, in der Hühnerbrustbeine eine hervorragende Rolle spielen. Virgil Widrichs COPY SHOP (A 2001) erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich solange vervielfältigt, bis die ganze Welt nur mehr aus ihm besteht. Copy Shop besteht aus nahezu 18.000 fotokopierten Filmkadern, welche am Tricktisch animiert und in 35mm abgefilmt wurden. Ein "original Kopierfilm" - weltweit dupliziert. Programm 3 – Erinnern und Gedächtnis
Filme flimmern auf – wie Susan Sonntag anmerkte - und verlöschen wieder. Sie ereignen sich immer jetzt. Fotografie ist stets etwas, das nicht mehr ist. Man erinnert sich an den Moment, aktualisiert die Erinnerung. Beiden Medien wird nachgesagt, dass sie Erfahrungen einfangen oder Beweismaterial vorlegen können. Diese Programm geht dieser Funktion der persönlichen oder geschichtlichen Erinnerung nach. In Thierry Knauffs LE SPHINX (B/F 1985) liest eine sonore Stimme aus Jean Genets Text über das Massaker in dem Palästinenser-Lager Shatila, begleitet nur durch eine diskrete Percussion und summenden Fliegen. Genet beschreibt, ohne Pathos, was er sieht: die Kadaver auf den Straßen. Im Gegensatz zum Wort, das den Tod beschreibt, halten die s/w-Fotografien Porträts von Unbekannten jeden Alters fest, die in einem Brüssler Park vor einer Sphinx-Statue aufgenommen werden. Es herrscht stets eine Kluft zwischen Text und Bild. Distanz und Nähe vermengen sich unentwirrbar. Dazwischen immer wieder das unnahbare Gesicht der Sphinx: Fern von Palästina. Agnès Varda durchforscht in ULYSSE (F 1982) ein Foto, das sie 1954 gemacht hat: Ein nackter Mann in Rückenansicht, ein Kind und eine tote Ziege am Strand. "Ausgehend von diesem Foto habe ich die Protagonisten gesucht und wollte gar den Augenblick dieser Aufnahme wiederfinden. Dabei interessierte mich nicht nur, mein Gedächtnis und die Zeit zu erforschen, sondern das Bild zu befragen, die Darstellung der Erinnerung, die Beziehung der Erinnerung zur Darstellung abzufragen. Und das ist doch das eigentliche Material des Kinos: Zugleich die Zeit, die Bewegung und vor allem das Bild zu befragen." (Varda). In Franz Winzentsens DIE ANPROBE (1938) (D 1985) darf eine Eizelle darf schon einmal einen Blick in ihre zukünftige Welt werfen und findet sich mitten in der Nazi-Zeit wieder. Diese bietet sich als ironische Collage aus Alltäglichem, Privatem und Vertrautem dar. Da wechseln befremdliche Kakteen- und Schmetterlingssammlungen mit aparten Gummimänteln und Blumen auf dem Parteitagsgelände. Im (Alb-) Traum vermischt sich alles und Schmetterlingsformationen überfliegen mit dröhnendem Geräusch die Schnittmusterbögen und schließlich zerstörte Städte. Der Film endet mit der Geburt des Franz Winzentsen. Janusz Majewskis ALBUM FLEISCHERA (Fleischers Album, PL 1962) untersucht Fotos aus dem Album eines Wehrmachtsoffiziers namens Fleischer, die dieser von 1940-1944 in Polen gemacht hat. Verloren auf dem Rückzug, hat Majewski aus den gefundenen 2000 Fotos 200 ausgewählt. Er kommentiert sie, rätselt über die Bildmotive, und versucht sich in die Psyche des Fotografen zu denken. Sergei Eisensteins BEZHIN LUG (Die Beshin Wiese, SU/USA 1935/1967, bearbeitet von Naum Klejman und Sergej Jutkevic) ist ein Fotofilm wider Willen. Nachdem der stalinistische Filmminister Schmujatzki die Arbeiten an dem als formalistisch und subjektivistisch bezichtigten Film einstellen lies und das Negativ verbrannte, blieben nur wenige, probeweise entwickelte Einzelbilder übrig. Jay Leyda rekonstruierte anhand einer Schnittliste mit diesen Standbildern den eigentlich verlorenen Film, der nun für die Filmgeschichte als Gedächtnis und Erinnerung dient. Es ist eine politische Parabel um einen Vater-Sohn-Konflikt, nach Isaak Babel. Der Sohn, Anhänger der Idee kollektiven Besitzes, verrät den von seinem Vater mit anderen Kulaken geplanten Brandanschlag an die Kolchosbauern und wird dafür vom Vater erschossen. Programm 4 – Das filmisch Fotografische
Das Baumaterial des Films ist Fotografie, weshalb eine enge Verbindung zwischen beiden Medien besteht, während sie sich in ihrer Beziehung zur Zeit stark unterscheiden. Das Typische des Films ist nicht so sehr – wie man glauben könnte – die Bewegung, sondern es ist die Organisation von Zeit. Fotografie ist durch ihre optische Qualität determiniert: hell-dunkel Kontraste, Konflikte grafischer Linien, Flächen und Bewegungen. Dieses Programm geht der spezifisch fotografischen Qualität in den Fotofilmen nach. Silke Grossmanns DIE GEFÜHLE DER AUGEN (D 1985/87) verbindet Fotografien (Stills) und Filmfotografie in vier Kapiteln miteinander: 1. Vegetation, 2. der Arbeitsprozess einer Frau an einer Druckmaschine, 3. Nahaufnahmen von Gesichtern eines Mannes und einer Frau, 4. die Bewegung einer Tänzerin. Dieses Experiment vergleicht ganz direkt das Zeitempfinden der filmischen Bewegung mit dem Eindruck von Bewegung in den Fotografien. In Shelly Silvers WHAT I'M LOOKING FOR (USA 2004) macht sich die Autorin in Lower Manhatten zu blind dates auf, begegnet Menschen, um sie zu fotografieren. Es ist wie beim Jagen oder Fischen: Man weiß nicht genau, was man erlegen wird und ob man es haben möchte oder wieder wegwirft. Esaias Baitels preisgekrönter Fotofilm THE ZONE (S 2003) erzählt eine Geschichte über Rock 'n' Roll und Harley Davidsons Träume. Es ist eine Erzählung über die Hell Angels und Nazi Symbole, und über Sex, Drogen, Hass und Gewalt. Der schwedische Fotograf Esaias Baitel verbrachte 1977-81 vier Jahre damit rassistische und antisemitische Straßengangs in den Vorstädten von Paris zu fotografieren. Die Gangmitglieder wussten nicht, dass der Fotograf, der ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte, selbst ein Kind von Holocaust Überlebenden ist. Mit DAS KINO UND DER TOD (D 1988) wollte Hartmut Bitomsky einen Film machen, der aus nicht viel mehr als ihm sprechend vor der Kamera besteht und Photographien, die er von Filmen abgenommen hatte. Keine Filmausschnitte, keine Abschweifungen, keine Ausflüchte..."Das Kino scheint auf gewisse Weise unablässig mit dem Tod, dem Töten und dem sterben beschäftigt zu sein. Der Tod, so kann man sagen, ist ein Axiom des Kinos. Photographie und Film sind des öfteren als Medien des Todes begriffen worden. Bazin nannte sie 'das Leichentuch der Realität'." (Hartmut Bitomsky) Programm 5 - Fotoroman
Die Zeit der Fotografie baut keine Erzählung auf. Kaum schauen wir uns etwas an, wird unser Blick schon zurückgeworfen. Film dagegen ist hypnotisch, eine Art Narkose, in der man sich wiegen lässt, sei es von der Erzählung oder der Schönheit der Bilder. Das Foto im Fotoroman konzentriert sich meist auf einen Augenblick, der über das Jetzt hinausweist, eine Zeitstruktur schon andeutet. Dieses Programm ist solchen Fotoromanen gewidmet, die die Kinogeschichte zitieren und mit narrativen Erzählformen experimentieren. Katja Pratschkes und Guzstáv Hámos' Fotoroman RIEN NE VA PLUS (D 2005) erzählt die Geschichte von Flüchtling Igor und Frau Kah. Sie sterben zur gleichen Zeit. Sie überqueren die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Im Schattenreich der Toten, einer Art Parallelwelt, begegnen sie sich zum ersten Mal – und es ist Liebe auf den ersten Blick. Der Film beobachtet die mühevolle Überwindung von Grenzen zwischen Drinnen und Draußen, hier und dort, Bewegung und Stillstand. In Paul und Menno de Nooijers I SHOULD SEE (NL 1991) legt ein Fotograf einen Film ein und schließt den Fotoapparat. Von diesem Zeitpunkt an sitzt der Zuschauer im Dunkeln des Gehäuses und sieht nur das eingefrorene Geschehen, sobald der Fotograf auslöst. Hubert Fichtes und Leonore Maus DER FISCHMARKT UND DIE FISCHE (D 1968) zeigt Alltag und Leben in dem portugiesischen Fischerdorf Sesimbra, südlich von Lissabon, unter der Diktatur Salazars 1964. Die Fotos von Mau, z.B. in geometrischen Mustern ausgebreitete Fische, und Fichtes Kommentar sekundieren sich gegenseitig. Doch das Wort Kommentar führt in die Irre, beschreibt den poetisch-reportageartigen Text nur ungenügend. Elfi Mikeschs EXECUTION. A STUDY OF MARY (D 1979), eine Studie zur Maria Stuart, markiert die Nahtstelle zwischen Fotografie und Film im Werk der Autorin. "Die Widersprüchlichkeit und die Vielfalt des Materials, mit dem die Person Marias im Lauf der Zeit umgeben wurde, brachten mich auf den Gedanken, diese 'königliche Geschichte' zu trivialisieren. Ich komprimierte die Informationen zu Bildern der Leidenschaft, Macht, Liebe, Schmerz und Tod." (Mikesch) Raul Ruiz' preisgekrönter Fotofilm COLLOQUE DE CHIENS (Symposion der Hunde, F 1979) erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die Prostituierte wird. Als sie sich verliebt und ihre Vergangenheit hinter sich lassen möchte, löst sie eine Reihe von Ereignissen aus, die zu Betrug, Tragödie und Mord führen. Diese Parodie eines südamerikanischen Fotoromans erforscht die zweideutige Nature von Bild und Sprache, denn bestimmte Sätze und Fotografien wiederholen sich und nehmen, je nach Kontext, verschiedene Bedeutungen an, während gleichzeitig ein Gefühl von Schicksal und ewiger Rückkehr entsteht. Programm 6 - Die Plastizität des Moments
Fotografie hält einen Moment fest, gefriert Bewegung ein. Einzelne Augenblicke erhalten so eine ungeheure Plastizität. Fotofilme können den Ablauf des Betrachtens dieses Moments darüber hinaus zeitlich gestalten. Das Programm versammelt Filme, die die Oberfläche des Bildes untersuchen, den gefrorenen Moment umkreisen, in ihn hineinfahren und die Beziehung von Stillstand und Bewegung ausloten. Andrea van der Straatens Studie FAMILIENAUSFLUG 1933 (D 1983) untersucht 6 Fotos eines sommerlichen Familienausflugs im Jahr 1933. Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass sich erste Zeichen der politischen Wende im Alltag finden. In Paul und Menno de Nooijers preisgekrönten TRANSFORMATION BY HOLDING TIME (NL 1976) lichtet ein Fotograf ein weibliches Modell mit einer Polaroidkamera ab. Diese sich nach und nach entwickelnden 15 Polaroids werden kontinuierlich auf eine unsichtbare Glasplatte direkt vor die Kamera geheftet, bis nur noch dieses neu entstandene Bild zu sehen ist: Ein Mosaik der Frau. Tim Macmillans FERMENT (GB 1999) beginnt mit der Bewegtfilm-Aufnahme eines ruhigen Platzes in der Stadt. Ein Mann hat einen Herzanfall und fällt zu Boden und die Zeit still steht. Die Kamera gleitet nun weg von diesem Ort, quer durch die Stadt, durch Strassen, Gebäude, Zimmer und Flure, vorbei an eingefrorenen Situationen (gedreht mit Macmillanss einzigartiger Time-Slice-Camera), flüchtige Blicke und Tonfetzen einfangend, so wie sie in diesem einen Augenblick gleichzeitig existieren. Das Ende zeigt die Geburt eines Babys. Zeit beginnt wieder zu laufen. Hubert Fichtes und Leonore Maus DIE SPANISCHE TREPPE (D 1970) erforscht den gleichnamigen Schauplatz in Rom. Fotografien und Kommentar laufen fast vollständig getrennt nebeneinander her. Die Fotografiefolge nähert sich den abgebildeten Menschen und entfernt sich wieder. Daraus entsteht ein Pulsieren, ein An- und Abschwellen im Ablauf. Eine angefügte Filmsequenz gliedert sich in den Film ein. Sie reflektiert die Form des Fotofilms, denn das durchgeblätterte Comicbändchen verwandelt sich durch die Bewegung der Finger in ein Daumenkino. Sirkka-Liisa Konttinens vielfach preisgekrönter Fotofilm THE WRITING IN THE SAND (GB 1991) lebt vom fotografierten Augenblick, von Schnappschüssen an Stränden Nordenglands. "Lärmende Rituale, immer die gleichen und immer überraschend: Sprünge in die Brandung, körperlose grinsende Köpfe im Sand, Meerjungfrauen verschmelzen mit den Fluten am Ende eines Tages. Und all das passiert wieder am nächsten Tag und im nächsten Sommer und lange, nachdem ich meine Fotos gemacht habe." (Sirkka-Liisa Konttinen) John Smiths Fotofilm WORST CASE SCENARIO (GB 2004) beginnt als Serie von Einzelphotographien, die Alltagsleben an einer Wiener Straßenecke zeigen. Der Film sortiert eine Auswahl dieser Bilder und manipuliert sie. Im weiteren Verlauf kommt langsam und schleichend Leben in die statische Welt. Als Sigmund Freud seinen langen Schatten über die Stadt wirft, kommt eine zunehmend unwahrscheinliche Ereignis- und Beziehungslawine ins Rollen. Öffentliche Tagung Fotofilm am 25. & 26.11. - Eintritt freiSa, 25. November
10.30 Begrüßung durch Ludger Derenthal (Museum für Fotografie, Berlin) und die Kuratoren Hámos, Pratschke und Tode.
10.40 Film: Yunobogi No Nikki (The Diary of Yunobogi Boy; Jap 1967, 24 min, OmE) von Nagisa Oshima
11.00 Thomas Tode (freischaffender Filmemacher und Filmwissenschaftler, Hamburg): "Fotofilme – Plädoyer für die Bastardisierung"
12.00 Kaffeepause
12.15 Raymond Bellour (Film- und Literaturwissenschaftler, CNRS, Paris): "Zwei Minuten der Unsicherheit in Menschen am Sonntag" / "Deux minutes d'incertitude dans Menschen am Sonntag" (Vortrag in französisch mit deutscher Kopfhörer-Übersetzung).
13.15 Mittagspause
14.30 Film: Wellengang (D 2005, 5 min) von Dörte Eißfeldt
14.35 Hubertus von Amelunxen (Fotohistoriker, Rektor der European School of Visual Arts, Angoulême / Poitiers): "Foto-Film, vor und zurück und auf der Stelle. Eine kleine Schwellenkunde"
15.35 Kaffeepause
16.00 Abschlussdiskussion mit den Vortragenden & Hartmut Bitomsky (Direktor DFFB, Berlin) & Christa Blümlinger, Moderation: Gusztáv Hámos So, 26. November
10.30 Film: Fremdkörper (D 2002, 28 min) von Katja Pratschke & Gusztáv Hámos
11.00 Katja Pratschke (Medienkünstlerin, Berlin) & Gusztáv Hámos (Medienkünstler, Gastprofessor an der Hochschule für Film- und Fernsehen, Potsdam-Babelsberg): "Bewegt oder nicht bewegt, das ist die Frage"
11.45 Kaffeepause
12.00 Christa Blümlinger (Filmwissenschaftlerin, Université de la Sorbonne Nouvelle, Paris): "Agnès Varda: Filme als Ansichtskarten"
13.00 Mittagspause
14.15 Filme: Der Tag eines unständigen Hafenarbeiters; Der Fischmarkt und die Fische von Hubert Fichte & Leonore Mau (insgesamt 22 min)
14.35 Ole Frahm (freischaffender Literaturwissenschaftler und Publizist, Hamburg): "Agadir, Rom, Hamburg. Zum Verhältnis von Text und Bild in den Filmen von Fichte/Mau"
15.35 Kaffeepause
16.00 Abschlussdiskussion mit den Vortragenden & Elfi Mikesch (Filmemacherin, Berlin) & Ludger Derenthal, Moderation: Thomas Tode