Konstitutiv für das Kino von Doillon sind zum einen die Dialoge und das Sprechen im Film generell. Neben der großen Aufmerksamkeit in der mise en scène für sprachliche und körperliche Gesten, der Komposition von Gesten, Blicken und Worten steht Doillons außerordentliches Talent im Einfangen von Gebärden und plötzlich aufbrechenden Emotionen. Seine Bildsprache ist außerdem gekennzeichnet durch den häufigen Einsatz von Plansequenzen. Doillons besonderes Interesse gilt der Welt von Kindern und Jugendlichen, der Zeit des Übergangs zum Erwachsenwerden sowie Dreiecksbeziehungen und der Beziehungskonstellation von Vater und Tochter. Das zweite konstitutive Element für das Kino von Doillon ist darüber hinaus ein ganz besonderes Verständnis und Verhältnis von Autorschaft und Schauspiel. "Die Thematik der Filme Doillons entspricht der Form ihrer Realisierung, was die Figuren im Film suchen, dem, was Doillon zusammen mit seinen Schauspieler/innen sucht. Die Isolation der Figuren entspricht der Isolation des Teams während der Dreharbeiten, das ausschließliche Interesse der Figuren füreinander entspricht dem ausschließlichen Interesse des Regisseurs für seine Darsteller/innen und dem, was sich ereignet, wenn sie in Beziehung treten, zueinander, zum Text und zu ihm." (Anja Streiter) Die spezifische Ausformung des Autorenkinos von Jacques Doillon gründet insofern vor allem im Prozeß des Schauspiels, gewissermaßen in einer Produktionsgemeinschaft von Autor und Schauspieler/innen. Dies bildet den Fokus der Filmwissenschaftlerin Anja Streiter in ihrem jüngst erschienenen Buch "Jacques Doillon – Autorenkino und Filmschauspiel". Anläßlich der Publikation dieser ersten deutschsprachigen Studie zum Kino von Jacques Doillon im Verlag Vorwerk 8 zeigen wir im April 15 Filme von Doillon. Ganz besonders freuen wir uns, dass Jacques Doillon am Eröffnungswochenende persönlich im Kino Arsenal zu Gast sein wird. Zur Eröffnung am 1. April zeigen wir als Berliner Erstaufführung Doillons neuesten Film RAJA (F 2003), der beim Filmfestival in Venedig Premiere hatte. RAJA erzählt von einer Liebe, die nie sicher ist: Raja ist eine junge, arme Marokkanerin, die im Hause eines reichen, älteren Franzosen in Marrakesch arbeitet. Er hat es auf sie abgesehen, sie will sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihren Lebensumständen zu entkommen – doch statt der Eindeutigkeit eines Tauschhandels von Geld gegen Sex läßt Doillon eine komplizierte Gefühlslage entstehen: ein komplexes Geflecht von Abhängigkeiten, Begehren, dem Ringen mit den Verhältnissen und der Frage, ob dem anderen zu trauen ist. Das Missverstehen ist auf allen Ebenen vorprogrammiert: Das ungleiche Paar muss notwendigerweise immer aneinander vorbei reden, da es auf jede erdenkliche Weise nicht die gleiche Sprache spricht. "Keine Sekunde wären die Macht-, Geld-, Geschlechter-, Kolonialverhältnisse nicht im Spiel. Doillon aber konterkariert die Abstraktion durch die genaueste Aufmerksamkeit für jede Geste seiner Darsteller, vor allem der Laiendarstellerin der Raja: wie die Konkretion und die Abstraktion hier im und als Missverstehen zueinander finden und passen, das ist ein wahres Wunder." (E. Knörer) (1.4., in Anwesenheit von Jacques Doillon) Doillons erster langer Spielfilm LES DOIGTS DANS LA TÊTE (Die Finger im Kopf, F 1974) wurde als "kinematographisches Ereignis" (J. Collet) gefeiert, die Qualität der Dialoge und der Schauspielführung sowie die stilistische Strenge und außergewöhnliche Präsenz der Inszenierung hoch gelobt. Wie viele von Doillons späteren Filmen spielt bereits dieser in einem geschlossenen Raum, und wie später noch häufig dreht Doillon mit Laien. Auch sein besonderes Interesse für die Welt von und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen kommt bereits hier zum Tragen. Nachdem der Bäckerlehrling Chris gefeuert wurde, weil er zu spät zur Arbeit kam, soll er sein Zimmer räumen. Doch statt dessen verbarrikadiert er sich mit seinem Freund Léon, der schüchternen Rosette und der forschen schwedischen Tramperin Liv, in die er sich verliebt hat, in seiner Mansarde und verlangt Lohnnachzahlungen. Die vier jungen Leute verbringen mehrere Tage und Nächte zusammen auf engem Raum und sprechen über ihre Wünsche, Träume und Ängste ... (2.4., in Anwesenheit von Jacques Doillon & 5.4.) Auch LA DRÔLESSE (Ein kleines Luder, F 1979) hat Doillon mit Kindern und jugendlichen Laien realisiert. Der 20-jährige Außenseiter François lebt auf dem elterlichen Bauernhof im Streit mit seiner Mutter und dem Stiefvater. Die 12-jährige Mado mag ihre Mutter nicht, und einen Vater gibt es nicht. Als François sie entführt und in seine Kammer auf dem Dachboden des Bauernhofs bringt, erlebt man keine Gewalttat, sondern wie zwei in Einsamkeit Ertrinkende sich nach und nach gegenseitig das Schwimmen beibringen. Zwischen beiden entwickelt sich eine liebevolle Beziehung, die mehr und mehr eheähnliche Züge annimmt. Schritt für Schritt rekonstruieren und erproben die beiden die Gesten, Worte und Regeln eines gemeinsamen Lebens. (3. & 6.4.) Doillons erste Zusammenarbeit mit Jane Birkin in LA FILLE PRODIGUE (Die verlorene Tochter, F 1980) widmet sich einem komplizierten Verhältnis zwischen Tochter und Vater. Anne (Jane Birkin) hält es in ihrem Leben nicht mehr aus, nicht mit sich und nicht mit ihrem Ehemann. Besorgt holen ihre Eltern sie zu sich, und Anne wird wieder zum Kind. Als ihre Mutter abreist, um sich um Annes Schwester zu kümmern, die ein Kind erwartet, beschließt Anne, das Drama ihrer Kindheit noch einmal zu durchleben. Sie kämpft um die Liebe ihres Vaters (Michel Piccoli). Er ist ihr höchstes Ziel und zugleich das größte Hindernis auf dem Weg in ihr eigenes Leben ... (7. & 9.4.) In LA PIRATE (Die Piratin, F 1984) steht Jane Birkin im Zentrum einer obsessiven Dreiecksbeziehung, einer maßlosen Leidenschaft, einer gewaltvollen "amour fou", die von den Schauspielern mit ungeheurer Präsenz gespielt wird. Eine junge Frau, Carol (Maruschka Detmers), taucht wieder im Leben ihrer früheren Geliebten, Alma (Jane Birkin), auf. Hals über Kopf verläßt Alma daraufhin ihren Mann, ohne sich jedoch wirklich gegen ihn und für Carol entscheiden zu können. Ein eigenartiges Kind begleitet Carol – unentschieden zwischen den Geschlechtern und den Altersstufen verharrend, betrachtet es halb angewidert, halb fasziniert die Szenen einer Dreiecksbeziehung und treibt die Krise auf ihren Höhepunkt zu. Unterstützt wird es dabei von einem clownesken Privatdetektiv. (8. & 10.4.) Für LA VIE DE FAMILLE (Familienleben/Der Mann, der weint, F 1984) fragte Doillon die 10-jährige Schulkameradin seiner Tochter, ob sie nicht Lust hätte, einen Film mit ihm zu machen. LA VIE DE FAMILLE ist die Geschichte einer Reise nach Spanien und der Versuch eines Vaters, das Kind, das seine Tochter schon bald nicht mehr sein wird, festzuhalten. Jedes Wochenende verlässt Emmanuel (Sami Frey) seine Lebensgefährtin und deren pubertierende Tochter, um im Haus seiner Ex-Frau die Zeit mit seiner 10-jährigen Tochter zu verbringen. Er kämpft um die Beziehung zu der eigenwilligen Elise, die dabei ist, sich von ihm abzuwenden. Aus dem Routinewochenende wird eine Reise mit ungewissem Ausgang. Mit von der Partie sind eine Videokamera, ein Wörterbuch und ein Heft, in das Elise kleine Szenarien schreibt, die so ganz anders sind als das, was der Vater gern von ihr hören und sehen würde. (11. & 12.4.) Eine weitere Vater-Tochter-Beziehung, bei der die Frage nach der Möglichkeit einer Versöhnung im Raum steht, ist der Ausgangspunkt von LA PURITAINE (F 1986). Manon (Sandrine Bonnaire) , die ihren Vater, einen Theaterregisseur (Michel Piccoli), vor einem Jahr wortlos verlassen hatte, kündigt ihm per Telegramm ihre Rückkehr an: "Werde heute abend im Theater sein. Verzeihung möglich." Gemeinsam mit seiner neuen Lebensgefährtin (Sabine Azéma) öffnet der Vater die Türen zu seinem barocken Theaterhaus. Als die Tochter auf sich warten läßt, nutzt der Vater die Mittel des Theaters, um spielerisch herauszufinden, was zwischen ihm und seiner Tochter nicht stimmt: Er läßt einzelne Aspekte der Beziehung zu ihr von jungen Darstellerinnen verkörpern. Es dauert lange, bis Manon, die Puritanerin, bereit ist, ins Licht der Bühne zu treten. (13. & 18.4.) Verschiedene Kombinationen von Verliebtheit, Begehren, Verführung, Eifersucht, Eroberungen und Enttäuschungen, die ein Beziehungsdreieck zwischen einem jugendlichen Paar und dem Vater des Jungen zuläßt, werden in LA FILLE DE QUINZE ANS (Eine Frau mit 15, F 1988) durchgespielt. Juliette (Judith Godrèche) ist 15 und hat Angst davor, eines Tages so unschöne Liebesgeschichten leben zu müssen wie die Erwachsenen. Mit ihrem 14-jährigen Freund kostet sie die letzten Momente des Kindseins aus. Gemeinsam mit dessen Vater (Jacques Doillon) fahren sie in Urlaub. Der Vater betrachtet das Schauspiel der Jugend. Seinen Blick findet Juliette empörend. "Ich bin nicht an Ihnen interessiert," sagt sie ihm. "Das bleibt zu beweisen", antwortet der. Juliette plant ein Spiel und benennt die Regeln. "Das Ende muss schön sein", sagt sie. (14. & 17.4.) Eine Dreiecksgeschichte um zwei Frauen und einen Toten ist LA VENGEANCE D'UNE FEMME (Die Rache einer Frau, F 1989). Suzy (Béatrice Dalle) muß plötzlich an ihren Geliebten denken, von dem sie sich vor über einem Jahr trennte. Sie kehrt in das Hotel zurück, in dem sie sich mit ihm traf. Dort begegnet sie Cécile (Isabelle Huppert), der Frau ihres Geliebten. Einst hatten sie für kurze Zeit zusammengewohnt, in einem Traum vom Leben zu dritt. Jetzt eröffnet ihr Cécile, daß ihr Mann vor einem Jahr bei einem Autounfall starb. Weiß Cécile von dem Verhältnis? War der Autounfall ein Selbstmord? Ist Suzy schuldig? Will Cécile sich rächen? Sie reden über die Liebe zu einem Phantom und über das Phantom der Liebe. (15. & 19.4.) Ein als Entführungsdrama getarntes Kammerspiel mit drei Personen ist LE PETIT CRIMINEL (Der kleine Gangster, F 1990). Als der 15-jährige Marc zufällig erfährt, dass er eine ältere Schwester hat, und entdeckt, dass sein Stiefvater eine Pistole im Wäscheschrank aufbewahrt, überfällt er eine Drogerie. Als ein Polizist ihn anhält, zieht er die Waffe und verlangt, im Polizeiauto zu seiner Schwester gebracht zu werden. Diese steigt mit ins Auto. In diesem fahrenden Glashaus (gefilmt in Cinemascope) sind der Junge, das Mädchen und der Polizist gezwungen, sich einander zuzuwenden, blitzschnell wechseln die Konstellationen und die Machtverhältnisse, die Waffe wandert von Hand zu Hand und für Momente könnte man meinen, eine kuriose Familie mache Urlaub in Südfrankreich. (16. & 24.4.) Reden, reden, reden – im Maschinengewehrfeuer der Dialoge wird in AMOUREUSE (F 1991) erneut eine Liebe zu dritt verhandelt. Marie (Charlotte Gainsbourg) lebt seit sechs Monaten mit Antoine (Thomas Langmann) zusammen. Als Journalistin interviewt sie einen Regisseur aus Kanada, Paul (Yvan Attal), der sich in sie verliebt und sie stürmisch umwirbt. Wieder zu Hause, erklärt sie Antoine, daß sie ein Kind von ihm will. Messerscharf schließt der auf eine Affäre und macht ihr eine Szene. Bald glaubt Marie, daß sie schwanger ist, ohne zu wissen, von wem das Kind ist. Paul lädt Marie nach Montreal ein. Kaum dort angekommen, ruft Marie Antoine an ... (21. & 26.4.) In W. – LE JEUNE WERTHER (Der junge Werther, F 1992), Doillons Adaptation von Goethes Briefroman, ist Werther schon tot. Der Selbstmord von Guillaume löst in seiner Klasse Bestürzung aus. Der 14-jährige Ismaël und einige Jungen und Mädchen seiner Klasse versuchen zu verstehen, was passiert ist, warum sich ihr Schulfreund umgebracht hat. Ihre Nachforschungen, ihre Vermutungen und Gespräche führen sie aus der Konfrontation mit dem Tod mitten ins Leben. Bald ist Ismaël überzeugt, daß sein Freund an gebrochenem Herzen starb. Als er auf Miren trifft, ist Ismaël sicher, dass Guillaume sich aus Liebe zu ihr umgebracht hat – und verliebt sich selbst in sie ... (22. & 27.4.) Einen Diskurs über den Tod und den Verlust setzt auch PONETTE ( F 1996) in Gang, in dem der für Doillons Filme charakteristische Ausdruck intensiver Empfindungen einen Höhepunkt erreicht. Die 4-jährige Ponette hat einen Autounfall überlebt. Ihre Mutter starb an den Verletzungen. Der Vater schimpft über die Mutter und bringt das Kind zu einer Tante und deren Kindern. Ponette wartet auf die Rückkehr der Mutter. Alle, Erwachsene und Kinder, erklären ihr, was der Tod ist. Jeder anders. Es gibt Gott im Himmel, Untote, die aus dem Grab zurückkehren, atheistische Wutanfälle des Vaters und über allem das Schweigen der Mutter. Doch Ponette weigert sich beharrlich, den Tod zu akzeptieren – sie stellt die Abwesenheit der Mutter in Abrede und stapft mit Rucksack und Lieblingspuppe los, um die tote Mutter zu treffen. (20.4., mit Buchpräsentation & 23.4.) Am 20. April präsentieren wir das im Verlag Vorwerk 8 neu erschienene Buch "Jacques Doillon – Autorenkino und Filmschauspiel" in Anwesenheit von Anja Streiter. Ihre Studie zum Kino von Doillon leistet nicht nur eine filmgeschichtliche und filmtheoretische Einordnung seines Œuvres, sondern entwickelt auch ein differenziertes Verständnis von filmischer Autorschaft und filmischem Schauspiel. Durch die neue Verknüpfung beider wird die emotionale wie gedankliche Sprengkraft eines im offenen Prozess des Schauspiels gründenden Autorenkinos deutlich. En passant entsteht eine neue Sicht der Geschichte des französischen Nachkriegsfilms. (20.4.) Drei Menschen im Kampf mit widersprüchlichen Gefühlen und ihre Schwierigkeit, diese mitzuteilen zeigt CARRÉMENT À L'OUEST (Ich habe Dich nicht um eine Liebesgeschichte gebeten, F 2000). Alex ist ein kleiner, chaotischer Drogendealer. Ihm gehen die Bürgerkinder auf die Nerven, mit denen er zu tun hat. Die 20-jährige Fred (Lou Doillon, die Tochter des Regisseurs) ist mit so einem Bürgersohn liiert und findet den gleichaltrigen Dealer interessant, obwohl er gerade ihren Freund verprügelt hat. Aus einer Abendverabredung wird eine Nacht zu dritt in einem Hotelzimmer: Fred, Alex und Sylvia, die sie in einer Bar aufgegabelt haben. Allmählich verführen die Frauen Alex, führen ihn, wortreich und spielerisch, aus seiner hektischen Welt der Geschäftemacherei auf das Feld der Liebe. (25. & 29.4.) Isolierte, spannungsgeladene Gemeinschaften, die die Regeln ihres Miteinanders verhandeln, sind eine Konstante bei Doillon – in PETITS FRÈRES (F 1998), einem Film mit 10-14-jährigen Immigrantenkindern in einem ghettoartigen Pariser Vorort macht sich hinter der Fiktion auch die gesellschaftliche Realität bemerkbar. Die 13-jährige Talia würde ihren Stiefvater, der ihre kleine Schwester missbraucht, am liebsten umbringen. Mit ihrem zahmen Pitbull trifft sie auf Iliès, Mustapha, Nassim und Rachid und freundet sich mit ihnen an. Liebevoll geben sie ihr den Namen "Tyson". Aber heimlich stehlen sie Talias Hund, um ihn den großen Brüdern für ihre Kampfhundwettkämpfe zu verkaufen. Talia ist verzweifelt und dennoch kämpferisch, und diese Mischung berührt die "kleinen Brüder", die nun versuchen, alles wieder gut zu machen. Doillon verweigert wie immer den Schritt in die Soziologie: Jenseits von Sozialtristesse wird am Ende dieses leichten, sonnigen Films Hochzeit gefeiert – in einem geklauten Brautkleid ... (28. & 30.4.) Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Bureau du cinéma/Botschaft von Frankreich. Dank an Laurence Lochu-Louineau und Anne Vassevière. Ein besonderes Dankeschön für die engagierte Unterstützung des Projekts gilt Anja Streiter.