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Karyn Sandlos, Autorin, Filmemacherin und Kuratorin aus Toronto präsentiert das Kurzfilmprogramm "Waiting … And Wanting". Es basiert auf einem von Freud benannten Dilemma: Lernprozesse implizieren stets ein Moment der Verschiebung. Der Moment des Lernens ist verbunden mit der vorausgegangenen traumatischen Erfahrung des Nichtverstehens und dem Wunsch nach Bedeutung. Diese Gleichzeitigkeit von zu früh und zu spät sieht Sandlos als bedeutungsvoll für die Arbeit des Kuratierens: Kann zwischen der Erweckung eines Begehrens und seiner Erfüllung ein Erkenntnismoment liegen? Für ihr Programm hat sie Arbeiten ausgewählt, die mit dieser Zeitverzögerung spielen: MOOHEAD (Deirdre Logue, CA 1999), W.C. (Ana Mazhari, Kolumbien 2001), CONTEMPORARY ARTIST (Ximena Cuevas, Mexiko/USA 1999), ANAL MASTURBATION AND OBJECT LOSS (Steve Reinke, CA 2002), FAMILY OUTING (Mark Bradley, CA 2001), HER GLACIAL SPEED (Eve Heller, USA 2001), WEIGHING … AND WANTING (William Kentridge, Südafrika 1997), RED BUFFOLO SKYDIVE (Jude Norris, CA 2001), CHRISTIAN PORN (Roy Mitchell, CA 2000) und CINEMA AND VISUAL PLEASURE (Annie MacDonell, CA/F 2001). (2.11.) Der Vortrag von Sabine Nessel (J.-W. Goethe-Universität Frankfurt/M) trägt den Titel "Feministische Filmtheorie und Psychoanalyse: von den 70er Jahren bis zu LOVE ME". "'Stimmt es', fragt sie, 'dass dem Kino zugunsten der Betrachtung des Filmtexts eine nachgeordnete Bedeutung eingeräumt wird?' Nessel überführt diese theoriehistorische Spurensuche in eine Beschreibung des Films LOVE ME von Laetitia Masson (F 1999), den sie als Film nach dem Kino schildert, der dieses jedoch wie einen Wiedergänger in sich trägt." (Madeleine Bernstorff ). LOVE ME ist der dritte Teil einer Trilogie von Laetitia Masson. Sandrine Kiberlain spielt darin eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst und der Liebe. Im Film überlagern sich verschiedene Bewusstseinsebenen, Traum und Realität vermischen sich.
„Massons Film entfaltet in einer Ansammlung von Bildern, deren Grammatik bis zuletzt undurchsichtig bleibt, die Seelenlandschaft der Figur Gabrielle Rose (Sandrine Kiberlain), bevölkert von Phantasmen, Träumen, realen Bildern, die im Moment der Filmwahrnehmung (in einer geplant chaotischen Weise) zusammenkommen. Als wäre das Unbewusste der Figur mitsamt der Gespenster, die es bevölkern – sie selbst als 15jährige, ihre Mutter, der Psychoanalytiker, der Rockstar Lennox, der Matrose, sie selbst – nach Außen gestülpt worden.“ (Sabine Nessel) (4.11.) Winfried Pauleit (Universität Bremen) hält einen einführenden Vortrag über einen Klassiker des feministischen Theoriefilms aus dem Jahre 1977: "Der Titel des Films, RIDDLES OF THE SPHINX, kündigt das Konzept von Laura Mulvey und Peter Wollen bereits als Counter-Strategie an: Hier ist nicht Ödipus der Held, sondern die Sphinx steht im Zentrum, deren Geschichte im Verlauf des Films weiter erläutert wird. Thema des Films ist darüber hinaus eine komplexe Analyse der patriarchalen Gesellschaft, die sowohl die griechischen Mythen als auch den Alltag der 1970er Jahre umfasst. Mulvey und Wollen beziehen sich mit diesem Film auf die Schriften Freuds und insbesondere auf dessen Interpretation des Ödipus Mythos, im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes im familiären Dreieck." (10.11.) Zudem zeigen wir Yvonne Rainers JOURNEYS FROM BERLIN /1971 (USA 1980): Ein melancholischer und kühler Film, der Gespräche und Statistiken über politische Gewalt in Deutschland einer psychoanalytischen Sitzung gegenüberstellt, in der sich eine Frau schrittweise an ihren Selbstmordversuch in Berlin 1971 erinnert. Auf der einen Seite werden innere Fantasien und private Traumata in einem unpersönlichen Raum zu Tage gebracht, auf der anderen Seite werden brennende soziale Fragen am Küchentisch verhandelt. Rainers Hauptthema der Beziehung zwischen der öffentlichen und privaten Sphäre wird in einen direkten politischen Kontext gestellt. (6.11.) Im Dunkel des Kinos lassen wir den Projektionen freien Lauf: Zehn Programme übersetzen Unbewusstes in traumartige Kinoerfahrungen. Assoziationen, verdrängte Erinnerungen, Träume und Fantasien werden als Grundelemente des Kinos verstanden und projiziert, analysiert – oder erzeugt. Oder aufgrund ihrer Sprengkraft (NATTLEK) wiederum verdrängt: ein Symptom der Filmgeschichtsschreibung, das wir bekämpfen. Projektion #1 – Sternenhimmel: DIE BLAUE DISTANZ (Elfi Mikesch, BRD 1983) basiert auf Briefen von Unica Zürn. Eine Reisende erlebt die schmerzliche Trennung von einer Liebe und die Begegnung mit ihrem Alter Ego, das ihr im Zugabteil gegenübersitzt. So stellt STERNENSCHAUER – SCATTERING STARS (Matthias Müller, D 1994) eine verglühende Fantasie da und erinnert an Kenneth Angers "Fireworks". „In SLEEPY HAVEN verstrickt Müller Bilder von Schiffen, Häfen, Matrosen und Meeren zu einer maritimen Traumwelt, die nach und nach unser Bewusstsein flutet und in der jede Sehnsucht in den Tod mündet. Man fühlt sich, als tauche man in den unruhigen Traum eines Melville- oder Conrad-Lesers ein." (M. Althen) Danach kehrt STERNENSCHAUER – SCATTERING STARS noch einmal zurück und führt zur Erinnerung an einen älteren Film: „In L’INVITATION AU VOYAGE (1927), der uns in das Nachtleben einer Frau eintauchen lässt, beschäftigt sich Germaine Dulac mit der Wahrnehmung im Kino und dem Verhältnis von Identifikation und Begehren. Das Bild wird in einen musikalischen und poetischen Zusammenhang gestellt, der durch eine assoziative, diskontinuierliche und rhythmische Kombination von Einstellungen entsteht. Das imaginäre innere Bild der Zuschauerinnen und Zuschauer wird mitgedacht. Die Gegenseitigkeit von objektivem auf die Leinwand projiziertem und subjektiv fantasiertem Bild verdichtet sich in ihrem Bewegungskonzept zur 'Essenz des Kinos'". (Catherine Silberschmidt) (1.11.) Projektion #2 – Heimweh: Noch einmal Müller: HOMESTORIES (1990) gleicht einer Heimsuchung durch wiederkehrende Figuren des Hollywood-Melodrams, einer assoziativ-analysierenden Choreografie aus Blicken und Gesten. Und mit DIE URSZENE (Christine Noll Brinckmann, BRD 1981) fing es an: "Der Zuschauer, der im dunklen Raum sitzt und ungestraft und ungesehen alles betrachten darf, was sich auf der Leinwand enthüllt, erscheint als Voyeur. In diesem Zusammenhang wird immer wieder Freud zitiert, der allen Voyeurismus auf die menschliche Urerfahrung der 'Urszene' – der Beobachtung des Beischlafs der Eltern durch das Kind – zurückgeführt hat. Der Film DIE URSZENE versucht dieser Beziehung zwischen Film und Voyeurismus auf seine Art nachzugehen. (…) Er gibt auch einen Überblick über die stilistische Vielfalt der Schlafzimmer im Frankfurter Raum". BACK TO NATURE (George Kuchar, USA 1976) lässt einen trotz aller Symbolhaftigkeit im Ungewissen darüber, was die maskierte Frau, die in ein 70er-Jahre-Schlafzimmer eindringt, bedeutet: Verführung, Liebe, Tod, Sexualität, Eifersucht oder Rache. So gilt auch: SIGMUND FREUD'S DORA: A CASE OF MISTAKEN IDENTITY (1979). Anthony McCall, Claire Pajaczkowska, Andrew Tyndall und Jane Weinstock greifen aus einer Freudschen Fallstudie Dialoge zwischen Analytiker und Patientin heraus und beleuchten die Rolle weiblicher Sexualität und den phallozentrischen Diskurs durch den Einsatz von TV-Werbespots und Pornoclips. (2.11.) Projektion #4 (#3 ist Waiting … And Wanting) – Labyrinthische Identifikationsprozesse: ALPSEE (Matthias Müller, 1994) lässt eine Kindheit in den 60ern aufleben: "Ein Herz schlägt im Schrank. Stimmen regnen auf die Stadt. Ein Baum wächst auf dem Mars. Es ist ein Wunder." Mike Hoolbooms IN THE FUTURE (1998) thematisiert Irrwege zwischen Bildern und Wirklichkeit.Ein Kind spricht aus dem Off: "Last night I had a dream: that the movies I had seen even in my womb were a prophecy. They were my future." Mit ähnlichen Fragen beschäftigt sich ganz anders Abigail Child. Als Teil der Serie "Is This What You Were Born For?" entstand 1987 MAYHEM, ein orgiastisches Bombardement mit schattenhaften Frauen und finsteren Männergestalten, eine Verschmelzung von Formen, eine erotische Parodie aus Slapstick und einer berauschenden Dosis kulturellen Neinsagens und weiblicher Gehorsamsverweigerung. Auch Birgit und Wilhelm Hein ging es nicht um weitere, sondern um andere Bilder, und dazu musste das Filmbild zunächst zerstört werden: 1968 entstand ROHFILM, ein Materialfilm, für den ein Filmstreifen mit Teilen von gefundenen Bildern, Filmperforationen, Asche und anderen Abfällen beklebt und zerkratzt wurde. Das Ergebnis wurde durch einen Projektor gezogen, wobei zusätzlich Stellen des Filmmaterials verbrannten, und von der Leinwand abgefilmt. Die Empörung, die der Film hervorrief, ist heute kaum vorstellbar und lässt sich vor allem dadurch erklären, dass ROHFILM nur eine subjektive Erfahrung als Erinnerungzulässt und keinerlei objektivierbaren Bilder, wie wir sie zunächst in HALL OF MIRRORS (Warren Sonbert, USA 1966) vermuten. Doch was mit Ausschussmaterial aus einem Hollywoodfilm beginnt, das wie das Home Movie eines bürgerlichen Elternpaares bei einem Ausflug ins Spiegelkabinett daherkommt, endet mit der narzisstischen Selbstinszenierung eines Warhol-Superstars vor einer Spiegelskulptur. (5.11.) Projektion #5 – Die Architektur der Verwicklung: Der Text von GENTLY DOWN THE STREAM (Su Friedrich, 1981) ist ein Folge von 14 Träumen, entnommen aus acht Jahren des Tagebuchs der Filmemacherin. Das Biografische wurde durch Handbearbeitung ins Filmmaterial eingeschrieben. So entsteht eine filmische Textur, die Maya Derens Montage raum zeitlicher Elemente zu einer neuen, irrealen Reihenfolge entspricht: gewoben wird der Stoff, aus dem die Träume sind. Symbolisches und Psychoanalytisches verschmilzt zu einer surrealen Welt, in der sich mehrere Ichs der Protagonistin in traumähnlichen Situationen begegnen. Die assoziative Montagetechnik aus MESHES OF THE AFTERNOON (1943) wird in RITUAL IN TRANSFIGURED TIME (1946) zu einer fließenden Choreografie, die in die Bewegung von Tänzern übergeht und von einem bildlichen Faden zusammengehalten wird. Auch Luis Buñuels UN CHIEN ANDALOU (Der andalusische Hund, 1928) zeigt eine traumhafte Wirklichkeit. Der Film arbeitet mit Schockbildern und filmischen Assoziationen. Ein surreales Standardwerk (berühmt: das durchschnittene Auge und der Flügel mit Eselskadavern), das trotz der kollektiven Aneignung einer assoziativen Bilderwelt niemals zu erstarren droht. (8. & 30.11.) Projektion #8 – 16 TRAUMSTÜCKE: "Sieben Frauen erzählen in Anette Roses Videoessay 16 TRAUMSTÜCKE (2001) von Träumen und Alpträumen. Drei Kameras beobachten sie bei dieser Erinnerung an die surreale Arbeit ihrer Wunschmaschinen." (TIP) Anette Rose erzählt im Anschluss von ihrer Arbeit. (13.11.) Projektion #6, 7, 9, 10 & 11 – der Apparat Kino: Im Mittelpunkt von ORPHÉE (1950) steht die Vorstellung vom mehrfachen Tod, den der Dichter sterben muss, um in die Ewigkeit einzugehen, der Spiegel als Zugang zu einer anderen Welt. (10.11.) BLUE (Derek Jarman, 1993) besteht aus einer blauen Leinwand und einem Ton, der davon erzählt, dass "es mehr gibt, als das Auge trifft". (12.11.) Als Jarman 1986 von seiner HIV-Infektion erfuhr, bezog er ein Cottage in Dungeness. Hier kreierte er seinen paradiesischen Garten, in dem auch Dinge ihren Platz fanden, die das Meer angeschwemmt hatte, und hier entstand THE GARDEN (1990): „Kaum hatte ich diese öde Fischergemeinde gesehen, kam mir der Gedanke, dies wäre ein großartiger Ort für das Leben Christi.“ (15.11.) 1957 setzte Robert Siodmak mit NACHTS, WENN DER TEUFEL KAM die beklemmende Geschichte um einen Massenmörder mit Mitteln des expressionistischen Films in Szene. (16.11.) In Mai Zetterlings NATTLEK (Verschwiegene Spiele, Schweden 1966) jagt ein junger Adliger, krankhaft neurotisch von seiner Mutter abhängig, die Stätte seiner frustrierenden Kindheit in die Luft. Der Film ist eine Attacke gegen die Dekadenz der schwedischen Oberschicht. NATTLEK wurde während der Filmfestspiele in Venedig nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt. (18. & 22.11.) Die Reihe wird im Dezember u.a. mit einem Vortrag von Hermann Kappelhoff (FU Berlin) unter dem Titel "Das Lächeln der Mona Lisa" und einem von Christine Noll Brinckmann kuratierten Programm zu ihrem Film DIE URSZENE fortgesetzt. Ausstellung und Filmprogramm noch bis zum 7.1.07. www.filmmuseum-berlin.de. Veranstaltungen der Psychoanalytischen Fachgesellschaften: www.dpg-psa.de/150freud/.
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