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„Jemand tritt an den Vorhang. Er bittet das Gespenst, die Hand auszustrecken, denn das ist eine bekannte Situation.“ Dies ist der 27. von „Siebenundzwanzig Gags“, die Luis Buñuel einmal schrieb. PHANTOM (D 2001) von Matthias Müller, eine geisterhafte Choreografie mit Hollywoodstars und Vorhängen, zeigt, dass das Kino sich aus zwei Dingen zusammensetzt: Der Gesellschaft und jenem Unsichtbaren, Namenlosen, das in jeder Filmtheorie unausgesprochen bleiben muss. Das Video eröffnet das Programm noch im Halbdunkel, danach gehen die Lichter aus und die Dinge setzen sich in Bewegung: Uli Sappocks Super8-Film DER PILGERSTROM (1982) entlarvt die Pilgerwanderung von Gegenständen aus einem gutbürgerlichen Haushalt als selbstreferientielle Absurdität, für das Publikum in Szene gesetzt. Nichts anderes erzählt Pier Paolo Pasolinis TEOREMA (I 1968). Eine Mailänder Industriellenfamilie findet sich mit einem rätselhaften Gast konfrontiert, der in die häusliche Ordnung einbricht. Sämtliche Familienmitglieder mitsamt der Haushälterin gehen eine Liebesbeziehung mit ihm ein, die sie nach seinem Verschwinden verändert und verwirrt zurücklässt. Die Tochter verfällt in eine mystische Starre, der Sohn wendet sich vom Studium ab und einer absurden Kunstrichtung zu, die Mutter gibt sich wahllos jungen Männern hin und der Vater schenkt die Fabrik seinen Arbeitern. Nur die Haushälterin erfährt – im Gegensatz zum wandlungsunfähigen Bürgertum – eine „sinnvolle“ Wandlung: Sie kehrt in ihr Heimatdorf zurück, wo sie Kranke heilt und fortan als Heilige verehrt wird. Nicht unähnlich der Situation im Kino, wenn das Publikum auf die Leinwand starrt: WUNDER von Stanislaw Mauch (D 1999) setzt die Blicke der teils gläubigen, teils ungläubigen Bewohner eines ostpolnischen Dorfes und der angereisten Pilger in Szene, die auf eine Marienerscheinung warten. (4. & 11.9.)
„Gespenster im Haus meiner Kindheit. Früher machte mich das sehr bang; jetzt nicht. Jetzt komme ich an dem Haus an; ich steige in den ersten Stock hinauf. Ich stehe im Düstern. Ich sage mir: ‚Ich werde beweisen, dass ich den Spuk verjagen kann, wer immer dahinter steckt.‘ Es herrscht tiefe Dunkelheit. Ich trete ein und schließe die Wohnzimmertür. Ich habe Angst. Plötzlich nehme ich die Gegenwart eines Gespenstes wahr, ein Geräusch, ein Stuhl, ich weiß nicht was. Da sage ich: ‚Los ihr Scheißkerle, zeigt euch …‘ und dergleichen; ich beschimpfe die Gespenster, wobei ich große Angst ausstehe.“ Wieder Buñuel, die Erzählung seines ersten Traums in „Meine Träume“. Kaum ein Regisseur hat das Bedrohliche der erstarrten Gesellschaft und die Möglichkeiten des Kinos und des Surrealismus, dies zum Vorschein zu bringen und anzugreifen, deutlicher begriffen als er, weshalb wir drei seiner Filme zeigen.
Das Gefühl der Beklemmung kommt nirgendwo besser zum Ausdruck als in EL ANGEL EXTERMINADOR (Der Würgeengel, Spanien 1962). In einer Villa feiert eine Gesellschaft reicher Bürger eine Party; wie von geheimnisvollen Kräften gebannt, vermögen sie mehrere Tage lang den Umkreis der vornehmen Salons nicht mehr zu verlassen. Nervosität, Hysterie und Auflösungserscheinungen stellen sich ein; die eben noch vornehmen Anwesenden scheinen nur mehr ein Opfer ihrer Triebe. Das Bekannte wiederholen, um die Geister zu bannen: Für zwei der Künstlerinnen/Kuratorinnen der Ausstellung war dies die Inspiration zu ihrem Video VILLA WATCH (Natascha Sadr Haghighian, Judith Hopf 2005), das wir vorweg zeigen. (5.9.)
In LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE (F/I 1972) schildert Buñuel den Lebensstil des gehobenen Pariser Bürgertums, wobei sich ein Bischof als Gärtner verdingt, in einer Gesellschaft plötzlich ein Toter liegt, ein Botschafter aus dem Fenster mit dem Gewehr auf lästige Passanten zielt, eingeladene Gäste unversehens auf einer Bühne vor Publikum sitzen. Unmittelbar schlagen realistische Szenen ins Phantastische und Visionäre um; durch ein verschobenes Detail wird Alltag zum Traum. Der Film ist mit Ironie gemacht, obwohl die Schärfe der Attacke, die Buñuel gegen das falsche Bewusstsein der Bourgeoisie richtet, dadurch nicht gemildert wird. (7.9. & 22.9.)
Auch in LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ (Das Gespenst der Freiheit, 1974) greift er Episoden des Rätselhaften und Absurden aus der bürgerlichen Gesellschaft auf, die, ineinander verschlungen, die These des Films bilden: Der Ausruf „Es leben die Ketten!“ besagt, dass sich die bürgerliche Gesellschaft aus Unfähigkeit zur Freiheit von selbst in die Gefängnisse des Vorurteils und des falschen Denkens begibt und deshalb alle Manifestationen der Freiheit mit Gewalt bekämpft. (11. & 22.9.) So dachten auch Ula Stöckl und Edgar Reitz, als sie 1971 ihre 23 Geschichten vom Kübelkind produzierten. Kübelkind ist eine Nachgeburt und landet in der Mülltonne. Dort wird sie von einer Frau von der Fürsorge gefunden, die versucht, das Kübelkind in die Gesellschaft einzugliedern. Kübelkind und die Gesellschaft sind jedoch nicht kompatibel und jeder Versuch weckt bei Kübelkind ein neues Begehren, was jede Sozialisierungsmaßnahme (bis hin zur Hexenverbrennung) zum Scheitern verurteilt. Die Episoden wurden seinerzeit auf einer Speisekarte den Gästen eines Münchner Restaurants angeboten und dort auch vorgeführt – etwas Ähnliches werden wir im Kino zur Finissage veranstalten. Schon jetzt geben wir einen Vorgeschmack, indem wir Episode Nr. 1 ALTE MÄNNER als Vorfilm zu LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE und Nr. 13 ALLE MACHT DEN VAMPIREN zu LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ zeigen.
Bereits 1926, während eines Sanatoriumsaufenthaltes zur Behandlung seiner Opiumsucht, schrieb Jean Cocteau das Drama „Orphée, eine moderne Variante des klassischen Orpheus-Mythos. Im Mittelpunkt des 1950 entstandenen Films ORPHÉE (1950) steht die Vorstellung vom mehrfachen Tod, den der Dichter sterben muss, um in die Ewigkeit einzugehen, der Spiegel als Zugang zu einer anderen Welt. Cocteau verschmolz diese Mythen mit der Orpheus-Legende und der modernen, durch Technik bestimmten Lebenswelt. Die „Prinzessin“ ist der Tod Orphées, doch sie verliebt sich in ihn und lässt durch ihre Abgesandten, geheimnisvolle Motorradfahrer, seine Frau Eurydike töten. Orphée gelingt es, ins Jenseits zu kommen und seine Frau von dort zurückzubringen. Der „Tod“ muss sich einer schrecklichen Strafe unterziehen. Bei George Kuchar ist es unklar, was die maskierte Frau, die in das 70er-Jahre-Schlafzimmer eines Hippiepaares (aus heutiger Sicht irgendwie sehr bürgerlich) eindringt, bedeutet: Verführung, Liebe, Tod, Sexualität, Eifersucht oder Rache. Wie auch immer, der Film endet im Paradies: BACK TO NATURE (USA 1976). (6. & 18.9.)
OPENING NIGHT (John Cassavetes, USA 1977) erzählt von einer typischen Cassavetes-Arbeitssituation, der Partygesellschaft in WÜRGEENGEL nicht unähnlich: Ein Schauspieler-Ensemble ist eingepfercht auf engstem Raum, die Egos und Komplexe sind exponiert, die Nerven liegen blank. Der Film wurde seinerzeit verdammt wie das Böse, erst 25 Jahre später kam er wieder in die Kinos. „Es ist ein Film über Theatralik“, so Cassavetes, „ein Film über Leute, die sich nach Aufmerksamkeit sehnen. Und danach, in sich oder anderen etwas zu finden, das ihnen eine Superantwort gibt. Und wenn diese Antwort nur ein paar Minuten Gültigkeit hat, dann gilt sie eben nur ein paar Minuten.“ Ein gefeierter Broadwaystar gerät angesichts der Rolle einer gereiften Dame, die ihr angeboten wird, in einen Zustand des Außer-sich-Seins: Sie streikt, tobt, trinkt, geht zu Wahrsagerinnen und kämpft mit dem für sie realen Wahngebilde eines jungen, äußerst dreisten, indessen toten Mädchens. (10.9.)
Dahinter steckt die Idee des Dibbuk, der nach jüdischem Glauben den Fall darstellt, dass die Seele eines Sünders nach dem Tode in den Körper eines lebenden Menschen eintritt, um vor den Verfolgungen böser Geister Ruhe zu finden, wodurch der betreffende Mensch „besessen“ erscheint. Manchmal wird der Eindringling selbst als böser Geist bezeichnet. Nur ein Exorzist kann den Geist austreiben. DER DIBEK / DYBUK (Michal Waszynski, Polen 1937) spielt in einer jüdischen Kleinstadt in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Zwei befreundete Väter geloben, dass ihre Kinder, sofern verschiedenen Geschlechts, in Zukunft heiraten würden. Der Vater der Tochter überlegt es sich schließlich anders, obwohl zwischen den beiden Kinder tatsächlich eine große Liebe entflammt. Vor Kummer stirbt der Geliebte, im Sterben spricht er eine kabbalistische Beschwörung aus, so dass das Mädchen von seinem Geist, dem Dybuk, besessen wird. Bei der Austreibung sie, in der Ewigkeit mit ihrem Geliebten vereint. (13.9.)
Über den Ausstellungszeitraum verteilt, präsentieren wir zudem vier von den Kuratoren moderierte Doppelprogramme, jeweils aufgeteilt in ein Kurzfilmprogramm und einen Langfilm. Wie im Gesamtprogramm geht es dabei um die Gespenster der Gesellschaft und des Kinos und die Möglichkeiten des Films, sich ihre Mittel zueigen zu machen. Dass das alles nur schwer greifbar ist, zeigt der Beitrag von Richard Serra. Das Programm, das sich ansonsten um den Versuch dreht, Unsichtbares sichtbar und Sichtbares unsichtbar zu machen, im einzelnen: VORMITTAGSSPUK (Hans Richter, D 1928); NEGATIVE MAN (Cathy Joritz, BRD 1985), MUMMY (Isabelle Spengler, Uli Ertl, D 2006), FILM (Alan Schneider, Buch: Samuel Beckett, USA 1965), HAND CATCHING LEAD (Richard Serra, USA 1968), LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN (Germaine Dulac, F 1927).
Im Anschluss zeigen wir ENTR’ACTE (René Clair, F 1924), den Klassiker des cinéma pur und ein Fantasma über den Dächern von Paris, kulminierend in einer heiteren Leichenzug-Verfolgungsjagd, zusammen mit LA REGLE DU JEU (Jean Renoir, F 1939, 106 min), der ein ähnliches Schicksal hatte wie OPENING NIGHT: 20 Jahre nach seiner Entstehung musste der Film rekonstruiert werden, nachdem er zuvor durch zahllose Zensurvorgänge nahezu zerstückelt wurde. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs gedreht und anschließend als demoralisierendes Werk verboten, zeigt auch dieser Film starke Parallelen zu Buñuels WÜRGEENGEL: Auf einem Jagdschloss hat Monsieur zu einer Treibjagd geladen, und nun kommen die Damen und Herren aus der guten Gesellschaft, um für ein paar Stunden die Spielregeln der Wohlanständigkeit bis hin zum Totentanz zu vergessen. „Mit den beunruhigendsten Mitteln des Films, dem Wechsel harter und sfumatohafter s/w-Kontrastierung, Verschiebung von Schärfen, dem opulenten Spiel zwischen subjektiver Kamera und theatralischer Objektivität gelingt es ihm, einen Reigen von Amouren, Ritualen, Tändeleien und hübschen Nichtigkeiten in eine Welt am Abgrund zu verwandeln.“ (v. Achatz v. Müller, Die Zeit) Die Grabrede des Schlossherren zeigt, dass man von allem, was passierte, nichts gelernt hat.
Das Programm wird im Oktober und November fortgesetzt.
„No Matter how Bright the Light, the Crossing Occurs at Night“, kuratiert von Anselm Franke, Natascha Sadr Haghighian, Judith Hopf, Ines Schaber. Vom 3.9.–12.11.06 im KW – Institute for Contemporary Art, Auguststr. 69, www.kw-berlin.de

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