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"Was ist wirklich?", fragen die Filme des ersten Programms in diesem Monat. SAILBOAT (Joyce Wieland, Kanada 1968) lässt in weiter Ferne grobkörnig ein Segelboot erahnen. Um sicher zu gehen, wird es buchstabiert. In AIXÃO NACIONAL (CHOQUE METABÓLICO IRREVERSÍVEL) (National Passion or Irreversible Metabolic Shock, Karim Aïnouz, Brasilien/CA/USA 1994) flieht ein junger Brasilianer aus seinem Land. Im Frachtraum eines Flugzeugs erfriert er. Aus dem Off erinnert er sich an die sexuelle Ausgrenzung, die er in seinem Heimatland erfahren hat. Seine Erinnerungen vermischen sich mit den Träumen eines Touristen, der sich das gleiche Land als Sexparadies vorstellt. Über ihre Arbeit S. JE SUIS, JE LIS À HAUTE VOIX [passing for] (2005) sagt Brigitta Kuster, sie "fragt nach dem Begehren, das sich dort auf die Figur des Authentischen richtet; es ist eine Figur, die das Sprechen über Migration so oft heimsucht: die MigrantIn. Das Video nähert sich dieser Figur in der Gestalt des passings: Sie interviewen wollen, ihre Geschichten sammeln wollen, sie einfangen wollen, sie sein wollen …" DEAD WEIGHT OF A QUARRELHANGS (Walid Raad, USA 1998) ist ein 3-teiliges Videoprojekt der gemeinnützigen Stiftung Atlas Group zur Erforschung der audio-visuellen Spuren des libanesischen Bürgerkrieges. "Mit diesem Projekt suchen wir Objekte, die uns helfen, die Geschichte(n) der Libanesischen Bürgerkriege zwischen 1975 und 1990 zu reflektieren und über sie zu schreiben. Bislang konnten wir einige Objekte sicherstellen, darunter Notizbücher, Filme, Videos und Fotografien". (Fouad Boustani) SOUTH OF TEN (Liza Johnson, USA 2006, angefragt) zeigt die Ruhe nach dem Sturm: Nach einem Orkan kann nur eines die Zerstörung und den Verlust erträglich machen: eine irgendwie geartete Normalität. Und der Film XÉNOGÉNÈSE (Akihido Morishita, Japan 1982) weiß nicht so recht, was Kino ist und versteckt sich deshalb in den Laufmaschen des Filmmaterials. (1.11.) Das passiert auch dem amerikanischen Seemann Philip Gale (Horst Buchholz) in DAS TOTENSCHIFF (Georg Tressler, D/Mexiko 1959): Er verpasst nach einer Nacht in einem Freudenhaus, in dem ihm sämtliche Papiere gestohlen worden sind, sein Schiff, die Borghese. Ohne Seemannskarte erhält er keine neue Heuer. Die Antwerpener Polizei schiebt ihn über die Grenze nach Holland ab. Der amerikanische Konsul in Rotterdam versucht zwar, ihm zu helfen, doch Philip Gale kann nicht beweisen, dass er Philip Gale ist. Er versucht auf eigene Faust, nach Amerika zu kommen, und landet auf der Yorikke. Dort freundet er sich mit dem polnischen Kohlenschlepper Lawski an, der Philip aufklärt, dass die Yorikke ein Totenschiff ist: ein Schiff, das eines Tages hochversichert mit wertloser Ladung sinken soll. Vorher allerdings geht die Fahrt nach Afrika, um dort Aufständische mit Waffen zu versorgen. (1.11.) So wie auch die fantasierten Mondlanschaften in George Méliès' Expedition LE VOYAGE DANS LA LUNE (1902) verführerische Träume hervorrufen, erzählt Kenneth Angers RABBIT'S MOON die poetische Geschichte des Pantomimen Pierrot, der sich nach der Nähe zum Mond und nach der hübschen Columbine sehnt. Beides scheint jedoch unerreichbar, und Ingrid Bergman weint in NECROLOGUE (Christoph Girardet/Matthias Müller, D 1999) darüber eine geisterhafte Träne, die gleichzeitig in die Zukunft und in die Vergangenheit gerichtet ist. In jenem Vakuum bewegen sich ein Mann und eine Frau in MESSAGE TO THE HABITAT (Florian Wüst, NL 2002). Die Sauerstoffversorgung ist niedrig, unsichtbare Geräte unterhalten die Lebensfähigkeit. Die beiden Personen interagieren nicht, sie bleiben eigenartig isoliert, bis durch eine Radiomitteilung versteckte Erinnerungen geweckt werden. So an Einhörner oder Pferde, vertrauensvolle, große und starke Tiere, die in der Kindheitserinnerung zu Flucht verhelfen konnten, wie in MY NAME IS OONA (Gunvor Nelson, USA 1969), in dem mit wehenden Gewändern und einer Beschwörungsformel das eigene Ich geschützt wird. Denn auch die entfernte Herkunftsgeschichte der eigenen Familie kann zu Science-Fiction werden: Gariné Torossian beschwört mit GIRL FROM MOUSH (CA 1993) übermittelte Bilder aus Armenien, begleitet von einer Telefonstimme, deren Sprache wir nicht verstehen. Zum Abschluss des Science-Fiction- Abends kehren in die Dunkelheit des Kinos das Licht und der Rauch zurück. (9.11.) In Hollis Framptons NOSTALGIA (USA 1971) führt die Betrachtung alter Fotos zu ihrer Vernichtung, denn ihre Geschichte findet immer zu einer anderen Zeit statt. Bei der Betrachtung der Vergangenheit entsteht viel Rauch – und der muss nicht unbedingt verschleiern, sondern kann auch etwas sichtbar machen, nämlich das, was Kino ist: Ein Lichtschleier, der sich in Raum und Zeit ausbreitet, so geformt, wie der Künstler es will, und der viel schneller verschwindet, als er gekommen ist. LINE DESCRIBING A CONE (Anthony McCall, USA 1973) lässt den Zuschauer glauben, er sei dem Film zum Anfassen nahe. Dabei wird das Unbegreifliche zur unmittelbarsten und körperlichsten Kinoerfahrung überhaupt: Er greift ins Nichts, höchstens ins weiße Licht, und das ist im gleichen Moment schon verschwunden. (9.11.) Das gesellschaftlich konstruierte Jenseits hatten Ula Stöckl und Edgar Reiz im Auge, als sie 1970 ihre 22 GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND produzierten. Kübelkind (Kristine De Loup) ist eine Nachgeburt und landet deshalb in der Mülltonne. Dort wird sie von einer Frau von der Fürsorge gefunden, die versucht, das Kübelkind in die Gesellschaft einzugliedern. Kübelkind und die Gesellschaft sind jedoch nicht kompatibel, und jeder Versuch weckt bei Kübelkind ein neues Begehren, was jede Sozialisierungsmaßnahme zum Scheitern verurteilt. Die Episoden wurden seinerzeit auf einer Speisekarte den Gästen eines Münchner Restaurants angeboten und dort auch vorgeführt – etwas Ähnliches werden wir im Kino zur Finissage veranstalten. (11.11.)

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