Eine umfassende Verunsicherung auf mehreren Ebenen ruft Michael Hanekes spannender Thriller Caché (F/D/A/I 2005) hervor. Ein Ehepaar aus der Pariser intellektuellen Bourgeoisie erhält anonyme Videoaufnahmen, Außenansichten seines Hauses, ohne offensichtliche Bedrohung oder gar Forderung. Dennoch beginnt unter dem Druck der Videos die Fassade ihres Lebens zu bröckeln, Erinnerungen, individuelle Schuldgefühle und kollektiv Verdrängtes treten zutage. Die immer beunruhigenderen Rätsel des Films betreffen nicht nur die beiden Protagonisten – sie korrespondieren mit der beim Zuschauen sich ausbreitenden Ungewissheit über den Status der Bilder, die man sieht, und mit der Erfahrung, dass den Bildern in CACHÉ nicht zu trauen ist und man im Unklaren bleibt. (13. & 16.7.)
Eine völlig anders geartete Konfrontation mit der Vergangenheit unternimmt ein frisch allein stehender, lakonischer, alternder Don Juan in Jim Jarmuschs unsentimentalem Film Broken Flowers (USA 2005): Nachdem ein anonymer Brief verkündet, dass er Vater eines erwachsenen Sohnes sei, sucht er die verflossenen Lieben seiner Vergangenheit, die als Mütter in Frage kommen, auf, um Klarheit zu erlangen. Erst widerwillig, und nur durch seinen Nachbarn mit Detektiv-Ambitionen und einer CD mit äthiopischer Jazz-Musik angetrieben, liest er schließlich immer mehr Zeichen als Hinweise einer Vaterschaft, obwohl es bei allen vier Frauen vor lauter Hinweisen in der Farbe Rosa keine heiße Spur gibt – stattdessen aber sprechende Kater, Hippie-Fotos und ein Lolita-Remake. (14. & 15.7.)
Eine Liebesgeschichte zwischen zwei seelenverwandten, geisterhaften Existenzen erzählt Kim Ki-duk in seinem surrealen Film Bin-Jip (Korea/Japan 2004). Tae-suk bricht in leerstehende Häuser ein, ohne am Stehlen Interesse zu haben; statt dessen lebt er ein paar Tage am fremden Ort, übernimmt in der Art eines guten Hausgeistes Reparaturen und leiht sich gewissermaßen den Alltag der abwesenden Mieter. In einer Villa wird er dabei von einer jungen Frau überrascht, die er vor ihrem prügelnden Mann rettet. Die beiden verstehen sich ohne Worte und ziehen nun gemeinsam los, von einer Wohnung zur nächsten. Als diese wundersame Wanderschaft durch das urbane Korea in der harten Realität an- und somit zu einem Ende kommt, gelingt den beiden nochmals die Flucht – durch nichts geringeres als die Überwindung der Schwerkraft. (18. & 20.7.)
Es gibt Orte, von denen man unzählige Bilder im Kopf hat, ohne je selbst dort gewesen zu sein – und für viele ist Los Angeles ein solcher Ort. Das Kino hat von L. A. eine urbane Mythologie entwickelt, einen Fantasie-Stadtplan erfunden, den der Filmemacher Thom Andersen in seinem filmischen Essay LOS ANGELES PLAYS ITSELF (USA 2003) nachzeichnet, durchkreuzt und neu zusammensetzt. Die Stadt spielt die Hauptrolle, spielt sich selbst, in einem vielschichtigen Puzzle aus Szenen, Filmausschnitten und Aufnahmen, die das Kino in zahllosen Filmen überliefert hat. 200 Filme aus 90 Jahren dienten als Fundus für ein Porträt der „Stadt der Engel“. (22. & 24.7.)
In Between the Devil and the Wide Blue Sea (D 2005) beobachtet Romuald Karmakar kommentarlos die Live-Performances von Bands und DJs aus der elektronischen Musikszene (Tarwater, T. Raumschmiere, Cobra Killer, Rechenzentrum u.a.) und dies mit nur einer Kamera – sozusagen die ästhetische Antithese zu MTV. Das rohe, kaum bearbeitete Material transportiert über die Faszination am Gegenstand hinaus eine überbordende Energie und vibrierende Intensität, die via Bild und Ton direkt den Körper der Zuschauer erreicht. Ein konzentrierter, affizierter Blick auf die Produktion und Präsentation von Musik, auf einen Bereich der Gegenwartskultur. (23. & 31.7.)
Fallstudie eines religiösen Wahns und Geschichte eines scheiternden Emanzipationsversuchs – Requiem (D 2006) von Hans-Christian Schmid ist beides. Eine junge Frau verlässt ihr streng katholisches Elternhaus, um ein Studium zu beginnen. Sie genießt die ersten Schritte in der neuen Freiheit und findet schnell Freunde. Doch sie hat immer öfter mit epileptischen Anfällen und Wahnvorstellungen zu kämpfen und glaubt, von Dämonen besessen zu sein. Schließlich begibt sie sich in die Obhut eines Priesters und stimmt einem Exorzismus zu. Angesiedelt im katholischen Milieu der siebziger Jahre in Süddeutschland, schildert REQUIEM ganz unabhängig davon den Leidensweg einer Frau, die keinen Platz in der Gesellschaft findet, weil sie weder gängigen Vorstellungen von Tradition noch von Modernität entspricht. (26. & 30.7.)
Sud pralad (Tropical Malady, Thailand/D/F 2004) von Apichatpong Weerasethakul entzieht sich herkömmlichen Kategorien: Unerhörtes und Ungesehenes geschieht auf der Leinwand – eine kinematografische Grenzerfahrung im Dschungel, im animistischen Zwischenreich von Mensch, Tier und Natur. Sud pralad beginnt mit zwei verliebten jungen Männern, die in Karaoke-Bars oder ins Kino gehen, bis der eine der beiden plötzlich verschwindet. Er habe sich, so eine alte thailändische Sage, in ein reißendes Tier verwandelt, um über die Lebenden herzufallen. Die Suche führt in den Dschungel, dessen nächtliche Bilder und vor allem auch Töne von nun an den Film bestimmen. „In einem Film wie Tropical Malady stößt unser Bilderverständnis an seine Grenzen. Eine andere, physische Art der Wahrnehmung stellt sich ein, mit der man ewig im Dschungel verharren könnte.“ (Katja Nicodemus) (27. & 29.7.)
Als Zauberwald erscheint der Tiergarten in Christian Petzolds mit nahezu hypnotischer Ruhe fotografiertem Film Gespenster (D 2005): durch das Rascheln der Blätter und das Rauschen des Windes, das klare Licht eines Berliner Sommers, in dem sich die Wege von drei Frauen rund um den magisch aufgeladenen Potsdamer Platz kreuzen. Die trotzig-scheue Nina folgt der impulsiven Toni auf ihren Streifzügen durch die Stadt – sie treffen auf die elegante Françoise, die auf der Suche nach ihrer vor vielen Jahren entführten Tochter ist. Für einen Moment glaubt sie, in Nina ihre Tochter zu erkennen. Alle drei geistern wie Untote durch den Film, in einem eigentümlichen Schwebezustand. Ohne darüber sprechen zu müssen, erzählen sie von Sehnsucht, Verlust, Einsamkeit und Liebe. (3. & 6.8.)
James Bennings Landschaftsfilm One Way Boogie Woogie / 27 Years Later (USA 2005) erzählt ohne Worte viel vom Wandel einer Gesellschaft. Im Jahr 1977 drehte er 60 Einstellungen à 60 Sekunden mit fester Kamera rund um das Industriegebiet von Milwaukee – „mit Freunden, Familie und drei Volkswagen (rot, blau und grün)“. Im Jahr 2004 kehrte er für das Remake 27 Years Later an die Orte von One Way Boogie Woogie zurück und stellte sämtliche Kamerapositionen an den gleichen Orten noch einmal nach, mit den gleichen Leuten, sofern sie noch lebten, auch die Tonspur behielt er bei. So entstand in einer Art Doppelporträt das Dokument eines Wandels. Manchmal hat sich alles verändert, manchmal nur Details. Vom einst lustig im Wind flatternden Union Jack blieb z. B. nur ein zerschlissener Lappen. „Geschichte ist bei Benning die Differenz zwischen zwei Bildern.“ (Bert Rebhandl) (1. & 15.8.)
Das Vergehen der Zeit und die Veränderungen der vergangenen Jahre hat auch Raymond Depardons Film Profils paysans – Le quotidien (Ländliche Ansichten: Der Alltag, F 2005) zum Gegenstand, der sich dem (aussterbenden) bäuerlichen Leben in der französischen Provinz widmet. Er kehrt in die verlassenen Dörfer seiner Kindheit zurück, wo viele Bauernhöfe nach sinnlosen Kämpfen mit der Agrarbürokratie und den EU-Richtlinien mittlerweile verlassen sind und zu Ferienwohnungen umgebaut werden. So beginnt der Film denn auch folgerichtig mit der Beerdigung eines alten Bauern. Depardon bringt neugierig und hartnäckig die, die noch ausharren, zum Sprechen. Während er eine alte Bäuerin filmt, fragt eine Frau, die zufällig ins Bild gerät: „Warum filmen Sie mich?“ Und die Bäuerin antwortet ihr: „Weil Sie da sind.“ (8. & 10.8.)
Mit einer Flucht beginnt Wim Wenders’ Spätwestern Don’t Come Knocking (D/USA 2005): Ein in die Jahre gekommener, abgehalfterter Cowboy-Darsteller verlässt die Dreharbeiten, stilgerecht jagt er auf einem Pferd davon, in die mythische Weite der amerikanischen Landschaft, die Landschaft der Western von John Ford und Howard Hawks. Nach einem Besuch bei seiner Mutter (Eva Marie Saint!), die ihm eröffnet, dass er einen erwachsenen Sohn hat, macht er sich auf nach Butte, Montana – eine ehemalige Minenstadt, die schon bessere Tage gesehen hat – um diesen und seine Ex-Geliebte zu treffen und um etwas über sich selbst zu erfahren. Doch beide erwarten ihn nicht mit offenen Armen – so dass der Film wie ein Western nicht nur von einem Traum von Amerika, sondern von der Sehnsucht nach Heimat und deren gleichzeitigem Verfehlen, von verpassten Gelegenheiten erzählen kann. (11. & 13.8.)
Auch in Ang Lees Sicht auf den Western und auf Amerika in Brokeback Mountain (USA 2005) nimmt die Landschaft eine herausragende Stellung ein. Doch die Freiheit, die die Landschaft verspricht, der Traum der unbegrenzten Möglichkeiten, ist trügerisch: Sie gilt für seine Protagonisten letztlich nicht. In der Einsamkeit und dem Schutz der Berge und der Natur entdecken zwei Cowboys beim Schafehüten ihre Zuneigung füreinander – doch es fehlen ihnen die Worte, darüber zu sprechen. Obwohl sie ahnen, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben, trennen sie sich, heiraten und führen getrennte Leben. Um ihre Liebe zu leben, kehren die beiden über Jahrzehnte hinweg jedoch immer wieder in die Abgeschiedenheit des titelgebenden Berges, dem Symbol ihrer Liebe, zurück – doch es sind keineswegs nur die äußeren Umstände, die ihnen die Möglichkeit eines anderen Lebens verbieten. (16. & 19.8.)
Die Frage nach dem Verhältnis des Künstlers zu seinem Objekt wirft Bennett Miller mit seinem abgründigen Film Capote (USA 2005) auf, einem präzise erzählten Porträt des Schriftstellers Truman Capote während der mehrjährigen Arbeit an seinem dokumentarischen Roman „In Cold Blood“. Der exzentrische Dandy, Partyliebling der New Yorker Bohème mit lockerem Mundwerk und zwitschernder Stimme, fährt in die Provinz, um die brutale Ermordung einer vierköpfigen Familie für eine Reportage zu recherchieren. Doch schon bald reift der Plan zu einem Tatsachenroman. Mit den Mördern will er eine Gesellschaft porträtieren, die ihre Ideale verloren hat, gerät im Verlauf dessen jedoch selbst moralisch immer mehr in Schieflage. Beim Besuch in der Todeszelle und dem Aufbau von Nähe zu den Tätern ist immer auch Kalkül dabei – letztlich muss er sogar an ihrem Tod interessiert sein, um seinen Roman zu einem Ende bringen zu können. (20. & 22.8.)
Mit Betteln, Stehlen und Hehlerei schlägt sich Bruno, ein jugendlicher Außenseiter durch – den ökonomischen Kreislauf von Tausch und Verkauf hat er in einer Weise internalisiert, dass er, kaum Vater geworden, in einer nahezu reflexhaften Aktion seinen neugeborenen Sohn zu Geld macht und verkauft – man kann ja sofort ein neues Kind machen. Doch Jean-Pierre und Luc Dardenne sind in L’enfant (Belgien/F 2005) weder an einer moralischen Verurteilung noch an einer Anklage des Jungen interessiert, sondern heften sich mit ihrer sehr mobilen Handkamera an seine Fersen, protokollieren seine Ruhelosigkeit und seine Flucht vor der Übernahme von Verantwortung, die seine erschütterte Freundin von ihm fordert. Das Erwachen eines moralischen Bewusstseins braucht seine Zeit, und der Moment der Erkenntnis ist schmerzvoll. (24. & 26.8.)
Für den fehlenden Urlaub entschädigt manchmal der Balkon. Wie bei Nike und Katrin, zwei Freundinnen, die im gleichen Haus im Prenzlauer Berg wohnen und allabendlich auf dem Balkon über das Leben, die Liebe und die Männer, die beides so schwierig machen, philosophieren. Nike hat einen Job und den Balkon, Katrin aus dem Erdgeschoss hat einen Sohn, einen Ex, keinen Job und Probleme. Sie blamiert sich beim vom Arbeitsamt verordneten Bewerbungstraining und als vorübergehend ein Mann (Ronald – oder Roland?) in Nikes Leben tritt, leidet sie darunter und widmet sich erst recht dem Alkohol. Doch die beiden Frauen aus Andreas Dresens Sommerkomödie Sommer vorm Balkon (D 2005, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase) werden letztlich mit allen Widrigkeiten aller Lebenslagen fertig – „So ist das Leben. Aber wirklich!“ (28. & 29.8.)
Eine völlig anders geartete Konfrontation mit der Vergangenheit unternimmt ein frisch allein stehender, lakonischer, alternder Don Juan in Jim Jarmuschs unsentimentalem Film Broken Flowers (USA 2005): Nachdem ein anonymer Brief verkündet, dass er Vater eines erwachsenen Sohnes sei, sucht er die verflossenen Lieben seiner Vergangenheit, die als Mütter in Frage kommen, auf, um Klarheit zu erlangen. Erst widerwillig, und nur durch seinen Nachbarn mit Detektiv-Ambitionen und einer CD mit äthiopischer Jazz-Musik angetrieben, liest er schließlich immer mehr Zeichen als Hinweise einer Vaterschaft, obwohl es bei allen vier Frauen vor lauter Hinweisen in der Farbe Rosa keine heiße Spur gibt – stattdessen aber sprechende Kater, Hippie-Fotos und ein Lolita-Remake. (14. & 15.7.)
Eine Liebesgeschichte zwischen zwei seelenverwandten, geisterhaften Existenzen erzählt Kim Ki-duk in seinem surrealen Film Bin-Jip (Korea/Japan 2004). Tae-suk bricht in leerstehende Häuser ein, ohne am Stehlen Interesse zu haben; statt dessen lebt er ein paar Tage am fremden Ort, übernimmt in der Art eines guten Hausgeistes Reparaturen und leiht sich gewissermaßen den Alltag der abwesenden Mieter. In einer Villa wird er dabei von einer jungen Frau überrascht, die er vor ihrem prügelnden Mann rettet. Die beiden verstehen sich ohne Worte und ziehen nun gemeinsam los, von einer Wohnung zur nächsten. Als diese wundersame Wanderschaft durch das urbane Korea in der harten Realität an- und somit zu einem Ende kommt, gelingt den beiden nochmals die Flucht – durch nichts geringeres als die Überwindung der Schwerkraft. (18. & 20.7.)
Es gibt Orte, von denen man unzählige Bilder im Kopf hat, ohne je selbst dort gewesen zu sein – und für viele ist Los Angeles ein solcher Ort. Das Kino hat von L. A. eine urbane Mythologie entwickelt, einen Fantasie-Stadtplan erfunden, den der Filmemacher Thom Andersen in seinem filmischen Essay LOS ANGELES PLAYS ITSELF (USA 2003) nachzeichnet, durchkreuzt und neu zusammensetzt. Die Stadt spielt die Hauptrolle, spielt sich selbst, in einem vielschichtigen Puzzle aus Szenen, Filmausschnitten und Aufnahmen, die das Kino in zahllosen Filmen überliefert hat. 200 Filme aus 90 Jahren dienten als Fundus für ein Porträt der „Stadt der Engel“. (22. & 24.7.)
In Between the Devil and the Wide Blue Sea (D 2005) beobachtet Romuald Karmakar kommentarlos die Live-Performances von Bands und DJs aus der elektronischen Musikszene (Tarwater, T. Raumschmiere, Cobra Killer, Rechenzentrum u.a.) und dies mit nur einer Kamera – sozusagen die ästhetische Antithese zu MTV. Das rohe, kaum bearbeitete Material transportiert über die Faszination am Gegenstand hinaus eine überbordende Energie und vibrierende Intensität, die via Bild und Ton direkt den Körper der Zuschauer erreicht. Ein konzentrierter, affizierter Blick auf die Produktion und Präsentation von Musik, auf einen Bereich der Gegenwartskultur. (23. & 31.7.)
Fallstudie eines religiösen Wahns und Geschichte eines scheiternden Emanzipationsversuchs – Requiem (D 2006) von Hans-Christian Schmid ist beides. Eine junge Frau verlässt ihr streng katholisches Elternhaus, um ein Studium zu beginnen. Sie genießt die ersten Schritte in der neuen Freiheit und findet schnell Freunde. Doch sie hat immer öfter mit epileptischen Anfällen und Wahnvorstellungen zu kämpfen und glaubt, von Dämonen besessen zu sein. Schließlich begibt sie sich in die Obhut eines Priesters und stimmt einem Exorzismus zu. Angesiedelt im katholischen Milieu der siebziger Jahre in Süddeutschland, schildert REQUIEM ganz unabhängig davon den Leidensweg einer Frau, die keinen Platz in der Gesellschaft findet, weil sie weder gängigen Vorstellungen von Tradition noch von Modernität entspricht. (26. & 30.7.)
Sud pralad (Tropical Malady, Thailand/D/F 2004) von Apichatpong Weerasethakul entzieht sich herkömmlichen Kategorien: Unerhörtes und Ungesehenes geschieht auf der Leinwand – eine kinematografische Grenzerfahrung im Dschungel, im animistischen Zwischenreich von Mensch, Tier und Natur. Sud pralad beginnt mit zwei verliebten jungen Männern, die in Karaoke-Bars oder ins Kino gehen, bis der eine der beiden plötzlich verschwindet. Er habe sich, so eine alte thailändische Sage, in ein reißendes Tier verwandelt, um über die Lebenden herzufallen. Die Suche führt in den Dschungel, dessen nächtliche Bilder und vor allem auch Töne von nun an den Film bestimmen. „In einem Film wie Tropical Malady stößt unser Bilderverständnis an seine Grenzen. Eine andere, physische Art der Wahrnehmung stellt sich ein, mit der man ewig im Dschungel verharren könnte.“ (Katja Nicodemus) (27. & 29.7.)
Als Zauberwald erscheint der Tiergarten in Christian Petzolds mit nahezu hypnotischer Ruhe fotografiertem Film Gespenster (D 2005): durch das Rascheln der Blätter und das Rauschen des Windes, das klare Licht eines Berliner Sommers, in dem sich die Wege von drei Frauen rund um den magisch aufgeladenen Potsdamer Platz kreuzen. Die trotzig-scheue Nina folgt der impulsiven Toni auf ihren Streifzügen durch die Stadt – sie treffen auf die elegante Françoise, die auf der Suche nach ihrer vor vielen Jahren entführten Tochter ist. Für einen Moment glaubt sie, in Nina ihre Tochter zu erkennen. Alle drei geistern wie Untote durch den Film, in einem eigentümlichen Schwebezustand. Ohne darüber sprechen zu müssen, erzählen sie von Sehnsucht, Verlust, Einsamkeit und Liebe. (3. & 6.8.)
James Bennings Landschaftsfilm One Way Boogie Woogie / 27 Years Later (USA 2005) erzählt ohne Worte viel vom Wandel einer Gesellschaft. Im Jahr 1977 drehte er 60 Einstellungen à 60 Sekunden mit fester Kamera rund um das Industriegebiet von Milwaukee – „mit Freunden, Familie und drei Volkswagen (rot, blau und grün)“. Im Jahr 2004 kehrte er für das Remake 27 Years Later an die Orte von One Way Boogie Woogie zurück und stellte sämtliche Kamerapositionen an den gleichen Orten noch einmal nach, mit den gleichen Leuten, sofern sie noch lebten, auch die Tonspur behielt er bei. So entstand in einer Art Doppelporträt das Dokument eines Wandels. Manchmal hat sich alles verändert, manchmal nur Details. Vom einst lustig im Wind flatternden Union Jack blieb z. B. nur ein zerschlissener Lappen. „Geschichte ist bei Benning die Differenz zwischen zwei Bildern.“ (Bert Rebhandl) (1. & 15.8.)
Das Vergehen der Zeit und die Veränderungen der vergangenen Jahre hat auch Raymond Depardons Film Profils paysans – Le quotidien (Ländliche Ansichten: Der Alltag, F 2005) zum Gegenstand, der sich dem (aussterbenden) bäuerlichen Leben in der französischen Provinz widmet. Er kehrt in die verlassenen Dörfer seiner Kindheit zurück, wo viele Bauernhöfe nach sinnlosen Kämpfen mit der Agrarbürokratie und den EU-Richtlinien mittlerweile verlassen sind und zu Ferienwohnungen umgebaut werden. So beginnt der Film denn auch folgerichtig mit der Beerdigung eines alten Bauern. Depardon bringt neugierig und hartnäckig die, die noch ausharren, zum Sprechen. Während er eine alte Bäuerin filmt, fragt eine Frau, die zufällig ins Bild gerät: „Warum filmen Sie mich?“ Und die Bäuerin antwortet ihr: „Weil Sie da sind.“ (8. & 10.8.)
Mit einer Flucht beginnt Wim Wenders’ Spätwestern Don’t Come Knocking (D/USA 2005): Ein in die Jahre gekommener, abgehalfterter Cowboy-Darsteller verlässt die Dreharbeiten, stilgerecht jagt er auf einem Pferd davon, in die mythische Weite der amerikanischen Landschaft, die Landschaft der Western von John Ford und Howard Hawks. Nach einem Besuch bei seiner Mutter (Eva Marie Saint!), die ihm eröffnet, dass er einen erwachsenen Sohn hat, macht er sich auf nach Butte, Montana – eine ehemalige Minenstadt, die schon bessere Tage gesehen hat – um diesen und seine Ex-Geliebte zu treffen und um etwas über sich selbst zu erfahren. Doch beide erwarten ihn nicht mit offenen Armen – so dass der Film wie ein Western nicht nur von einem Traum von Amerika, sondern von der Sehnsucht nach Heimat und deren gleichzeitigem Verfehlen, von verpassten Gelegenheiten erzählen kann. (11. & 13.8.)
Auch in Ang Lees Sicht auf den Western und auf Amerika in Brokeback Mountain (USA 2005) nimmt die Landschaft eine herausragende Stellung ein. Doch die Freiheit, die die Landschaft verspricht, der Traum der unbegrenzten Möglichkeiten, ist trügerisch: Sie gilt für seine Protagonisten letztlich nicht. In der Einsamkeit und dem Schutz der Berge und der Natur entdecken zwei Cowboys beim Schafehüten ihre Zuneigung füreinander – doch es fehlen ihnen die Worte, darüber zu sprechen. Obwohl sie ahnen, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben, trennen sie sich, heiraten und führen getrennte Leben. Um ihre Liebe zu leben, kehren die beiden über Jahrzehnte hinweg jedoch immer wieder in die Abgeschiedenheit des titelgebenden Berges, dem Symbol ihrer Liebe, zurück – doch es sind keineswegs nur die äußeren Umstände, die ihnen die Möglichkeit eines anderen Lebens verbieten. (16. & 19.8.)
Die Frage nach dem Verhältnis des Künstlers zu seinem Objekt wirft Bennett Miller mit seinem abgründigen Film Capote (USA 2005) auf, einem präzise erzählten Porträt des Schriftstellers Truman Capote während der mehrjährigen Arbeit an seinem dokumentarischen Roman „In Cold Blood“. Der exzentrische Dandy, Partyliebling der New Yorker Bohème mit lockerem Mundwerk und zwitschernder Stimme, fährt in die Provinz, um die brutale Ermordung einer vierköpfigen Familie für eine Reportage zu recherchieren. Doch schon bald reift der Plan zu einem Tatsachenroman. Mit den Mördern will er eine Gesellschaft porträtieren, die ihre Ideale verloren hat, gerät im Verlauf dessen jedoch selbst moralisch immer mehr in Schieflage. Beim Besuch in der Todeszelle und dem Aufbau von Nähe zu den Tätern ist immer auch Kalkül dabei – letztlich muss er sogar an ihrem Tod interessiert sein, um seinen Roman zu einem Ende bringen zu können. (20. & 22.8.)
Mit Betteln, Stehlen und Hehlerei schlägt sich Bruno, ein jugendlicher Außenseiter durch – den ökonomischen Kreislauf von Tausch und Verkauf hat er in einer Weise internalisiert, dass er, kaum Vater geworden, in einer nahezu reflexhaften Aktion seinen neugeborenen Sohn zu Geld macht und verkauft – man kann ja sofort ein neues Kind machen. Doch Jean-Pierre und Luc Dardenne sind in L’enfant (Belgien/F 2005) weder an einer moralischen Verurteilung noch an einer Anklage des Jungen interessiert, sondern heften sich mit ihrer sehr mobilen Handkamera an seine Fersen, protokollieren seine Ruhelosigkeit und seine Flucht vor der Übernahme von Verantwortung, die seine erschütterte Freundin von ihm fordert. Das Erwachen eines moralischen Bewusstseins braucht seine Zeit, und der Moment der Erkenntnis ist schmerzvoll. (24. & 26.8.)
Für den fehlenden Urlaub entschädigt manchmal der Balkon. Wie bei Nike und Katrin, zwei Freundinnen, die im gleichen Haus im Prenzlauer Berg wohnen und allabendlich auf dem Balkon über das Leben, die Liebe und die Männer, die beides so schwierig machen, philosophieren. Nike hat einen Job und den Balkon, Katrin aus dem Erdgeschoss hat einen Sohn, einen Ex, keinen Job und Probleme. Sie blamiert sich beim vom Arbeitsamt verordneten Bewerbungstraining und als vorübergehend ein Mann (Ronald – oder Roland?) in Nikes Leben tritt, leidet sie darunter und widmet sich erst recht dem Alkohol. Doch die beiden Frauen aus Andreas Dresens Sommerkomödie Sommer vorm Balkon (D 2005, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase) werden letztlich mit allen Widrigkeiten aller Lebenslagen fertig – „So ist das Leben. Aber wirklich!“ (28. & 29.8.)