Die Zukunft des Films und die Zukunft der Arbeit haben eine gemeinsame Geschichte, die ihren Anfang mit dem Frühwerk Arbeiter verlassen die Fabrik der Gebrüder Lumière im Jahre 1895 nahm. Es war ein Moment, der viele Fragen aufwarf: Wie werden die neuen Technologien unser Leben, unsere Identität verändern? Ist die Industrialisierung eine Entwicklung, die den Menschen und seine Arbeitskraft eines Tages überflüssig macht? Nimmt die Filmkamera mit dem eigenen Abbild auch die Seele auf, um sie geisterhaft und körperlos auf der Leinwand zu reproduzieren? Eindeutige Antworten auf diese Fragen gibt es auch mehr als ein Jahrhundert später nicht. Die Industrialisierung wurde zur Gegenwart und ist heute bereits wieder Geschichte. Der Titel „Work in Progress“ ist also doppeltes Synonym für die Prozesshaftigkeit der kinematografischen Bestandsaufnahme. Er bezeichnet einerseits ein Filmwerk in der Entstehung, ein kulturelles Unterfangen, dessen Endprodukt noch in der Zukunft liegt. „Work in Progress“ ist aber auch der Aufdruck auf englischsprachigen Schildern für eine Baustelle, sowie das weltweit verwendete Symbol einer Internetseite, die noch in der Programmierungsphase steckt. Das Festival „Work in Progress“ ist Spiegel der Arbeitswelt „in progress“, in der rasante und gravierende Veränderungen passieren, die für jeden spürbar sind, bis in die privaten Winkel des Lebens hinein. Die Arbeitswelt lässt sich heute weder geografisch noch politisch auseinanderdividieren, ebenso wie die Geschichte eines Films weit über den Ort und Moment seiner Aufnahme hinaus Bedeutung haben kann. Programmatisch für diese beiden Komponenten Arbeit und Kino stehen zwei Kurzfilmprogramme: „Arbeit in Zukunft“ zeigt Kurzfilme, mit denen das thematische Feld um die Zukunft der Arbeit abgesteckt wird. Wir zeigen: USELESS DOG (Ken Wardrope, Irl 2004), LAST MEN STANDING (Sasa Durkovic, UK 2005), The Catalogue (Chris Oakley, UK 2004), FIVEFORTYFIVE (Christoph Röhl, D 1998) und ALTER EGAUX (Sandrine Dryers, B 1999). (1.& 6.9.) Das Programm „Zukunft des Blicks“ beschreibt das Kino als öffentlichen Raum, in dem Nostalgie und Vision aufeinander treffen. Ein Ort, um auch die Arbeit des Sehens selbst zum Thema zu machen: MINE CINE TUPY (Sérgio Bloch, Bra 2002), WHAT I’AM LOOKING FOR (Shelly Silver, USA 2004), SUPERVISION (Andreas Geiger, D 2000) und CASIO, SEIKO, SHERATON, TOYOTA, MARS (Sean Snyder, D 2006) (1.& 6.9.) Dem Gesetz von Kosten und Produktivität unterworfen, verschieben sich die globalen Arbeitsmärkte. Die Protagonisten des Dokumentarfilms DER CHINESISCHE MARKT (Zoran Solomun, D 2000) werden zu fahrenden Kaufleuten über die Grenzen Osteuropas hinweg. Hauptumschlagplatz für all diese Händler aus Not ist ein großer Markt in Budapest. (2.& 18.9.) Der Dokumentarfilm DIE HELFER UND DIE FRAUEN (Karin Jurschick, D 2003) beschreibt, wie sich in Ex-Jugoslawien nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage ein illegaler Geschäftszweig mit Frauenhandel und Prostitution entwickelt hat. Die Kunden kommen aus militärischen Verbänden und politischen Organisationen, die Frauen aus Rumänien und Moldawien. Als Vorfilm läuft DOMESTIC SCAPES (Angela Sanders, CH 2004). (3. & 19.9.) In A DECENT FACTORY zieht sich die Herstellung eines einzigen Mobiltelefons quer über den Globus. Der Film beschreibt die fragwürdigen Zustände in einem Nokia-Zuliefererbetrieb in China und macht zugleich deutlich, wie schwer es ist, zu den „good guys“ der Weltwirtschaft zu gehören. Dazu zeigen wir THE RED FLAG FLIES (Zhou Hongxiang, CA 2002). (2.& 13.9.) Die Menschen bewegen sich auf der Suche nach einem akzeptablen Gegenwert für ihre Arbeit über Ländergrenzen hinweg. Der dokumentarisch inszenierte Film STRUGGLE (Ruth Mader, Ö 2003) erzählt die Geschichte der jungen alleinerziehenden Polin Eva, die sich auf dem Heimweg vom Erdbeerpflücken in Österreich absetzt und sich mit ihrer achtjährigen Tochter auf das Wagnis einlässt, im Westen eine bessere Existenz für beide zu schaffen. Dazu präsentieren wir DU SOLEIL EN HIVER (Samuel Collardey, F 2005). (2. & 20.9.) LES OISEAUX DU CIEL (Eliane de Latour, F/UK/Elfenbeinküste 2005) ist ein komplexes Sozialporträt über zwei Freunde, die illegal von der Elfenbeinküste nach Europa kommen. Einer von beiden wird abgeschoben und gilt zuhause als Versager, weil er es nicht geschafft hat, seine Familie aus dem verheißungsvollen Norden zu versorgen. (1. & 10.9.) In LA TERRE DES AMES ERRANTES (Rithy Panh, F 1999) heben kambodschanische Wanderarbeiter von der thailändischen bis zur vietnamesischen Grenze mit einfachen Hacken den Graben für die Einrichtung eines Informations-Highways aus, der den Anschluss des Landes an die Weltwirtschaft ermöglichen soll. Dabei verfügen die Arbeiter selbst noch nicht einmal über Elektrizität. (3.9.) BE TO BE (Daniel Sponsel, Jan Sebening, D 2003) ist ein assoziativ montierter Dokumentarfilm über Unternehmensberater als moderne Nomaden, der gleichzeitig die Rituale des Berufsstandes aufzeichnet und die vermeintlichen Ideale unserer Gesellschaft spiegelt. (2. & 16.9.). Filme wie LIKE FATHER (Amber Production Team, UK 2001), der ein mit Laiendarstellern eindrucksvoll inszeniertes Portrait einer britischen Arbeiterfamilie in drei Generationen zeigt, machen deutlich, dass die Perspektive einer lebenslangen Arbeit, in einer stabilen Gemeinschaft von Kollegen, an einem gemeinsamen Ort, sich aufzulösen scheint. (2. & 15.9.) Begriffe wie Ich-AG, Kleinunternehmer und Selbst-Management deuten auf ein neues Prinzip hin, nach dem jeder individuell für seinen Arbeits- und Lebensweg verantwortlich ist. Kein Film kann diese Entwicklung besser zeigen als der Dokumentarfilm DAS HALBE LEBEN (Mechthild Gassner, D 2003), der fünf Arbeitssuchende ein Jahr lang durch Selbstzweifel, Hoffnungslosigkeit, aber auch Glücksmomente begleitet. (3. & 21.9.) Als Vorfilm läuft SUPER SENSITIVE (Joachim Stein, Martin Widerberg, D/SV 2005). Das Kollektiv und mit ihm der Kampf für gleiche Rechte und gleichen Lohn, aber auch seinen sozialen Sicherungsmechanismen, verschwindet. In ILS NE MOURAIENT PAS TOUS MAIS TOUS ÉTAIENT FRAPPÉS (Sophie Bruneau, M.A. Roudil, B/F 2005) versuchen Psychologen einer Pariser Einrichtung, den Zusammenhang zwischen psychosomatischen Störungen wie Schlafproblemen, Nervenzusammenbruch, Depression, Phobie oder nervösen Störungen und den für die Patienten immer unerträglicher gewordenen Arbeitsbedingungen zu analysieren. Dazu zeigen wir ICH UND DAS UNIVERSUM (Hajo Schomerus, D 2003)(3.& 21.9.). UN MONDE MODERNE (Sabrina Malek, Arnoud Soulier, F 2005) zeigt die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen von Arbeitern aus Pakistan, Indien und Rumänien auf der Werft Chantiers de l’Atlantique. Dazu läuft der Kurzfilm GO TO SHANGHAI (Daniela Abke, Dorothee Brüwer, D 1999) (2. & 12.9.). Wie ist es möglich, dass ein relativ wohlhabendes Land innerhalb einer Dekade bankrott ist? Mit dieser Frage im Kopf bereist der Regisseur Isaac Isitan die Türkei und Argentinien nach den Bankencrashs der Jahre 2002 und 2003, um Menschen zu portraitieren, die alles verloren haben. Mit L’ARGENT gelingt ihm ein brillanter analytischer Essay. Ergänzt wird das Programm durch den Kurzfilm RABBIT (Run Wrake, UK 2005). (2. & 17.9.) Gleichzeitig wird die Arbeit ein immer stärker identitätsstiftendes Merkmal. JOHN & JANE (Ashim Ahluwalia, IN 2005) porträtiert sechs gut ausgebildete und ehrgeizige Call-Agents in Bombay, die amerikanischen Rentnern Produkte anpreisen. Identifikation geht hier bis zur Grenze von Transformation: Namrata alias „Naomi“ ist blond bis zu den Wimpern und spricht eine Art Mittel-West-Akzent: „Ich bin total amerikanisiert.“ Der Film läuft zusammen mit LIVING A BEAUTIFUL LIFE (Corinna Schnitt, D/USA 2003). (3.9.) Arbeit kann manchmal zur lebensumspannenden Herausforderung werden, wie bei der japanischen Meisterköchin Hatsue Sato in AJI (Li Ying, JP 2003), die mit Begeisterung ein Restaurant und eine hochgelobte Kochschule betreibt und zum lebendigen Gedächtnis der Shandong Cuisine wird. (2. & 30.9.) Die Tragikomödie VERLENGD WEEKEND (Hans Herbots, B 2005) dagegen beschreibt den Konflikt zwischen einem loyalen Arbeiter, der sein ganzes Leben in der Fabrik des Vaters gearbeitet hat, und seinem jungen Ex-Chef. Dazu zeigen wir ROSWELL ENTERPRISES (Janic Heen, NO 2005) (3. & 24.9.) STARTUP.COM (Chris Hegedus, Jehane Noujaim, USA 2002) ist eine dramatische Dokumentation über den Aufstieg und Fall einer Internetfirma der New-Technology-Ära. Die beiden „Helden“, die in atemberaubender Geschwindigkeit zum Inbegriff des amerikanischen Traums von unternehmerischem Erfolg in der New Economy wurden, werden von den Medien gefeiert und von den Kapitalgebern heiß umworben. Am Ende kommt der abrupte und tiefe Absturz. Die unberechenbare Eigendynamik der Kapitalströme ist zugleich zum hautnahen Psychodrama der beiden Hauptfiguren geworden. Dazu zeigen wir MORE (Mark Osborne, USA 1998). (3. & 25.9.) Das Kurzfilmprogramm „Was bin ich“ spiegelt die Suche nach dem Sinn und Zweck des eigenen Lebens aus unterschiedlichen Perspektiven: WHEN I’AM 21 (Andrew Wilde, UK 1997), DER WINTERGARTEN,(Sebastiano Toma, D 1994), LUNCH BREAK (Ralitza Petrova, UK 2005), TEAM RED (Ann Alter, USA, 2000), WORK (Kika Thorne, Kan 1999), AMAZONS (Alina Rudnitzkaya, RU 2003), WASP (Andrea Arnold, UK 2003), Arbeit am Ende (Carmen Losmann, D 2005) (2. & 8.9.). Der Experimentalfilm CORPUS CALLOSUM (Michael Snow, CA 2002) beschreibt, erzeugt, untersucht, zeigt und besteht aus vielen „zwischen“ und führt Arbeit und Leben auf überraschende Weise immer wieder zusammen. (4. & 26.9.) Arbeitslosigkeit ist kein vorübergehendes Phänomen, sondern Realität, die Familien über Generationen hinweg prägt. Dies analysieren Filme wie LAST MEN STANDING (Sasa M. Durkovic, UK 2005) und ALTER EGAUX (Sandrine Dryers, BE 1999). (1. & 6.9.) Die Auswirkungen dieser Zuspitzung von globalisierten Arbeitsbedingungen schreiben sich ein in die Landschaft und Architektur – so im Kurzfilmprogramm um das Leben und Sterben industriell gefertigter Güter „Recycling Sagas“: HAMMER AND FLAME (Vaughan Pilikian, UK 2005), ROOM SERVICE FOR BOMBED BUILDINGS (Dionis Escorsa, CS 2004) und PRETTY DIANA (Boris Mitic, CS 2004). ( 2. & 9.9.) Jem Cohen beschreibt mit CHAIN (USA, 2004) eine bizarre Traumwelt, indem er Einkaufspassagen, Vergnügungsparks und Konzernzentralen auf der ganzen Welt zu einer monolithischen Superlandschaft verschmelzen lässt, die das Leben zweier Frauen dominiert. Dazu zeigen wir die digitale Bilderwelt eines Büroalltags von CE QIU ARRIVE (collectif_fact, CH 2005) (2.9.) Der Mensch bei der Arbeit als Zentrum meditativer Ordnung und üppiger Vielfalt, das ist die Perspektive des Kurzfilmprogramms „Choreografie der Arbeit“: THE HONGKONG SHOWCASE (Eine Fallstudie) (Michael Brynntrup, D 2005), TWEETY LOVELY SUPERSTAR (Emanuel Gras, F 2005), PERMANENT RESIDENTS (Isabell Sprengler, USA/D 2005), Q (Oliver Husain, D 2002), A IS FOR… (Chris Oakley, UK 2003), ANOPHTALMUS (Katharina Bethke, D 2005), PYONGYANG ROBO GIRL (Jouni Hokkanen, Simojukka Ruika, Fin 2002), RHYTHM (Len Lye, UK 1957), RICHTUNG (Sharon Sandusky, USA 1987) und NO (Sharon Lock-hardt, USA 2003). (3. & 11.9.) Neben den aktuellen Arbeiten stehen exemplarisch historische Filmwerke, die sowohl thematisch als auch filmisch neue Aspekte in die Diskussion um die Zukunft der Arbeit einbringen. „Agitation und Arbeit“ erinnert an den Frauen-Arbeiterinnen-Film der 1970er Jahre in West-Berlin. Wir zeigen: FÜR FRAUEN – 1. Kapitel (Cristina Perincioli, BRD 1971) und EINE PRÄMIE FÜR IRENE (Helke Sander, BRD 1971). ( 2.9.) „Die einen kommen, die anderen gehen“ stellt filmische Dokumente zur Arbeitsmigration in der DDR vor: DREI BRIEFE (Max Jaap, DDR 1963),
… DANN SAG’ ICH’S MIT DEN HÄNDEN (Ellis Lander, DDR 1971) und WIR BLEIBEN HIER (Dirk Otto, DDR 1990) (3.9.). Dem im Kino selten präsentierten Genre Industriefilm ist das Programm „Mensch-Maschine“ (3.9.) mit zwei herausragenden Filmen zur technologischen Zukunft aus den 1960er Jahren gewidmet: NUR DER NEBEL IST GRAU (Robert Menegoz, BRD 1965) und ANGESTELLTE IN UNSERER ZEIT (Rudolf Kipp, BRD 1963). Ein weiterer Höhepunkt ist die Wiederaufführung des schwedischen Stummfilms NORTULLSLIGAN (Peter Lindberg, SE 1923), der die Arbeits- und Lebenswelt der damals noch weitgehend unbekannten „weiblichen Junggesellen“ schildert. (1.9.) „Work in Progress“ möchte über die globale Dimension hinaus den Blick auf die Situation vor Ort richten. Wer sitzt da eigentlich zusammen im Kino? Welcher konkreten Zukunft müssen sie sich stellen, auf der Straße, im Stadtteil, in der Region? Für das Berliner StartUp Festival haben wir darum mit Harun Farocki und Stephan Geene/ b_books zwei lokale Akteure eingeladen, bei denen sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Wert der Arbeit unter Einbeziehung der eigenen Tätigkeit als Kulturproduzenten durch ihr gesamtes Werk zieht. Für Farockis großes Œuvre quer durch alle Genres stehen stellvertretend die Aufführungen von ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK (D 1995), SCHÖPFER DER EINKAUFSWELTEN (D 2001) (2.9.) und WIE MAN SIEHT (BRD 1986). (5.9.+28.9.) Stephan Geene zeigt in der Präsentation „ein film ist nicht genug“ Beispiele aus der Produktionswerkstatt b_books: den Kurzfilm BARTLEBY (Judith Hopf, Stephan Geene, D 1999) sowie den Trailer zu der 15teiligen Serie LE PING PONG D’AMOUR (D seit 1997) und den Spielfilm AFTER EFFEKT (Stephan Geene, D 2006). (3.9.) Ergänzend zum Filmprogramm gibt es während des StartUp Festivals (1.–3.9.) vier Installationen zu sehen. Der Künstler Paul Rooney bat Menschen, die alleine, am Rand einer Gemeinschaft arbeiten, ihren Arbeitsplatz zu beschreiben. Statische Bilder, Stimmen im off und ein außergewöhnlicher Sound lassen den Betrachter Details ihres Alltags assoziieren. LIGHTS GO ON (UK 2001) schildert den Alltag einer Garderobenfrau eines Nachtclubs und DEAR GUEST (UK 2005) den eines Zimmermädchens. Aus der ENZYKLOPÄDIE DER HANDHABUNGEN von Anette Rose zeigen wir Modul 1. „Hand“-arbeit in einer Brotfabrik kann auf zwei Monitoren aus zwei Blickwinkeln simultan verfolgt werden. Unter dem Motto „Wir gehen umgekehrte Wege. Verkaufen Sie sich nicht unter Wert, sagen Sie lieber gleich ab“ präsentiert sich der Projektstand der Absageagentur mit Thomas Klauck und Katrin Lehnert.
Im Verlauf der Reihe von ca. 40 bundesweiten Filmfestivals von März bis August 2007 ist das Berliner Festival der Anstoß, der hoffentlich viele Steine ins Rollen bringt. Der Titel „Work in Progress“ ist Programm. (Bärbel Fickinger und Merle Kröger)
„Work in Progress“ ist ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes im Rahmen des Programms „Arbeit in Zukunft“.