Wir gratulieren herzlich und zeigen anlässlich des 70. Geburtstags der berühmten Institution sieben Programme, die die Cinémathèque Française aus ihren Beständen zusammengestellt hat. Im Mittelpunkt steht Henri Langlois (1914–1977), verschiedene Facetten seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit und seiner Tätigkeiten werden in den einzelnen Programmen beleuchtet. Gleichzeitig entsteht ein Eindruck von der Diversität der Kollektion der Cinémathèque Française: neben Attraktionen des frühen Kinos sind Stummfilme aus den 20er Jahren aus Frankreich und Japan, drei Filme von Philippe Garrel, gewissermaßen ein Ziehsohn von Langlois, sowie einige Filme, die mit den Ereignissen rund um den Mai 68 zu tun haben, im Programm enthalten. Alle Filme sind absolute Raritäten, jüngst wiederentdeckt und restauriert. Zur Eröffnung präsentieren wir ein Programm mit zwei Filmen, hierzulande noch nie gezeigte Entdeckungen, die erst jüngst restauriert und in die Sammlung der Cinémathèque Française aufgenommen wurden: LE BLEU DES ORIGINES (Philippe Garrel, F 1979) und À L'INTENTION DE MADEMOISELLE ISSOUFOU À BILMA (Caroline de Bendern, F 1971). Wir freuen uns sehr, Caroline de Bendern persönlich begrüßen zu dürfen. Caroline de Bendern arbeitete als Fotomodell und wurde aufgrund eines Fotos, das sie, eine Fahne schwenkend, auf den Schultern eines Demonstranten zeigte, zur "Marianne des Mai 68". Sie war Mitglied der Zanzibar-Gruppe, einem informellen Künstlerkollektiv aus den Jahren um 1968. Im Rahmen der im Januar im Arsenal veranstalteten Filmreihe mit zahlreichen Zanzibar-Filmen war sie in Détruisez-vous von Serge Bard zu sehen. Im Jahr 1971 reiste sie tatsächlich auf die Insel Sansibar, mit ihrem damaligen Partner, dem Jazz-Saxophonisten Barney Wilen. Das Bildmaterial der Begegnung mit einer fremden Kultur wurde erst 1978, zur Musik von Barney Wilen, montiert. Der bekannteste Protagonist der Zanzibar-Gruppe war Philippe Garrel. Sein stummer Film LE BLEU DES ORIGINES (F 1979) ist ein kurz nach dem Tod von Henri Langlois mit der Handkamera gedrehter Low-Budget-Film, ein sehr persönliches Porträt von zwei für sein Leben und seine Arbeit äußerst wichtigen Frauen, seinen Musen, mit denen er jeweils mehrere Filme drehte: das Fotomodell Zouzou und die Sängerin Nico. (5.10., in Anwesenheit von Caroline de Bendern, & 13.10.) Der Mai 68 war auch für die Cinémathèque Française ein Datum von großer Bedeutung: Als Henri Langlois Anfang 1968 von seinem Amt als Leiter der Cinémathèque Française abgesetzt wurde, rief dies einen Sturm der Empörung unter Kulturschaffenden hervor, es gab öffentliche Solidaritäts-Kundgebungen und massive Proteste – die sogenannte "Affäre Langlois" gilt heute als Auslöser für die Studentenbewegung und den Mai 68. In FRANÇOIS TRUFFAUT ET JEAN-LUC GODARD VOUS PARLENT (Bernard Eisenschitz, Charles Bitsch, F 1968) rufen Godard und Truffaut dazu auf, die Cinémathèque Française durch eine Mitgliedschaft zu unterstützen. Die Rückkehr von Langlois nach dem Einlenken der Regierung und seiner Wiedereinsetzung ins Amt zeigt RETOUR D'HENRI LANGLOIS À CHAILLOT (Bernard Eisenschitz, Charles Bitsch, F 1968). In Philippe Garrels DROIT DE VISITE (F 1965) sieht ein Kind seinen Vater und dessen Geliebte an jedem Wochenende, wohnt aber bei seiner Mutter. Der lange Zeit unveröffentlicht gebliebene LE BERCEAU DE CRISTAL (Philippe Garrel, F 1976), der mit Erlaubnis von Langlois in der Cinémathèque Française gedreht wurde, ist die Momentaufnahme einer unzufriedenen Generation. Die Wiege (le berceau) ist die Kunst – die Malerei von Pardo, die Poesie von Nico, das Museum von Langlois. Kristall ist die Kälte – das Schießpulver von Anita Pallenberg, die Stille, die dem Selbstmord vorausgeht. (6. & 12.10.) Das Sammeln, Aufbewahren und Sichern von Filmen, auch solchen, die seinerzeit (noch) ohne große Bedeutung schienen, war Langlois ein großes persönliches Anliegen. Zu den durch ihn geretteten Filmen gehören LE HÂLEUR (Léonce Perret, F 1911) – ein herzzerreißendes Melodram auf einem Schleppkahn – und LA BELLE NIVERNAISE (F 1923) von Jean Epstein. LA BELLE NIVERNAISE erzählt die "Geschichte einer jungen Frau, die von einer Schleppkahn-Familie adoptiert wird und auf dem titelgebenden Schiff glücklich durch Frankreich treibt, bis sie von ihren reichen Verwandten gefunden und in die Stadt mitgenommen wird. Aber dort sehnt sie sich nach dem verlorenen Idyll und beschließt zurückzukehren. Wichtiger als die Erzählung ist Epstein die atmosphärische Schilderung des Schiffermilieus, eingebettet in melancholische Flusslandschaften: Die nebelverhangenen Aufnahmen von Brücken und Ufern erinnern an die Gemälde von Corot und Renoir. LA BELLE NIVERNAISE ist damit ein deutlicher Vorläufer für Jean Vigos ungleich berühmteren Klassiker L'Atalante." (Christoph Huber) (7. & 21.10., am Klavier: Eunice Martins) Attraktionen des frühen Kinos versammelt das nächste Programm: VOYAGE À TRAVERS L'IMPOSSIBLE (Georges Méliès, F 1904), HÔTEL ÉLECTRIQUE (Segundo de Chomon, F 1905), KIRIKI ACROBATES JAPONAIS (Segundo de Chomon, F 1907), L'HÔTEL DU SILENCE (Emile Cohl, F 1908), LE RETAPEUR DE CERVELLES (Emile Cohl, F 1911), BLANCHISSERIE ÉLECTRIQUE (Segundo de Chomon, F 1912), GRIBOUILLE REDEVIENT BOIREAU (dt.Titel: Müller tritt wieder als Meier auf, unbekannt, F 1912). (8. & 9.10., am Klavier: Eunice Martins) Zu den Aufgaben einer Kinemathek gehörte für Langlois nicht nur die Bewahrung der Vergangenheit, sondern die Gestaltung der Zukunft: die Förderung neuer Filme, die Weiterentwicklung des Kinos. Der von der Cinémathèque Française in Auftrag gegebene MATISSE (Fré́déric Rossif, Henri Langlois, F 1950) zeigt den Maler bei der Arbeit. Der einzige Film Jean Genets, der legendäre UN CHANT D'AMOUR (F 1950), verdankt seine Existenz dem Umstand, dass Langlois Genet zu Hilfe kam und ihm Filmmaterial schenkte. UN CHANT D'AMOUR zeigt mit poetischer Kraft ein Männergefängnis als Ort der Einsamkeit, der sexuellen Fantasien und des Begehrens. Ein Gefangener steckt einen Strohhalm durch ein kleines Loch in der Zellenwand und bläst den Rauch einer Zigarette zu seinem Nachbarn hinüber. Nicole Védrès nutzte historische Filmausschnitte aus den Archiven der Cinémathèque Française für ihren mit dem angesehenen Prix Louis-Delluc ausgezeichneten Film PARIS 1900 (F 1948), das Dokument einer Zeit des Übergangs und der Veränderung. Der Film zeigt das Leben in der französischen Metropole zwischen 1900 und 1914, von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Der extreme soziale und kulturelle Wandel jener Zeit zeigt sich bei der Beobachtung des Eiffelturm-Baus. Zu sehen sind aber auch Künstler wie Claude Monet, Edmond Rostand und Maurice Chevalier. (10. & 14.10.) Langlois gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur, einen erheblichen Teil des französischen Filmerbes zu retten, sondern er stellte, häufig gemeinsam mit Marie Epstein, zwischen 1945 und 1965 innovative Programme zusammen und erfand so eine vielgestaltige Form der Filmgeschichte, "ein Gedächtnis des Kinos", das über die eigentliche Vorstellung von Archivarbeit weit hinausging. Wir zeigen MONTAGE NADAR (Paul Nadar, Henri Langlois, Marie Epstein, F 1896), MONTAGE LUMIÈRE ETATS-UNIS (Henri Langlois, F, undatiert), A L'OMBRE DE LANGLOIS (Pierre Kast, F 1977) und MONTAGE LUMIÈRE (Henri Langlois, F 1895–1965). Ergänzt werden die historischen Kompilationen durch den Porträtfilm CITIZEN LANGLOIS (Edgardo Cozarinsky, F 1995), der Langlois als außergewöhnliche Persönlichkeit und geheimnisvollen Menschen schildert und einen Lebensweg nachzeichnet, der die Filmgeschichte entscheidend verändert hat. (16. & 18.10.) Zwei Raritäten sind im letzten Programm kombiniert. Als Befürworter der New-Deal-Politik von Präsident Roosevelt wurde der ehemalige Filmkritiker und Hollywood-Gegner Pare Lorentz von dessen Administration beauftragt, THE RIVER (USA 1937) zu drehen. THE RIVER zeigt eine Chronik des Mississippi und der Überschwemmungskatastrophen, die durch die Abholzung von Wäldern hervorgerufen wurden. Der Film ist ohne Synchronton auf Musik von Virgil Thomson geschnitten und von einem durch Rhetorik und Rhythmus beeindruckenden Off-Kommentar begleitet. Als erster amerikanischer Film gewann THE RIVER 1938 den Hauptpreis des Festivals in Venedig. Eine Rarität des japanischen Kinos am Ende der Stummfilmzeit ist der faszinierende JUJIRO (Im Schatten von Yoshiwara, Japan 1928) von Teinosuke Kinugasa. Die Geschwister Kiya und Kiku leben nach dem Tod ihrer Eltern in ärmlichen Verhältnissen. Während es Kiya immer wieder in das Vergnügungsviertel Yoshiwara zieht, wo er sich in die schöne O-Ume verliebt, muss sich seine Schwester den Nachstellungen des Hausverwalters erwehren. O-Ume und ihre Verehrer machen sich über Kiya lustig und verwickeln ihn in einen Streit, der ungeahnte Konsequenzen nach sich zieht. (19. & 20.10., am Klavier: Eunice Martins) Eine Veranstaltung der Freunde der Deutschen Kinemathek und der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque Française. Mit freundlicher Unterstützung der Botschaft von Frankreich.