In Berlin eine Retrospektive des armenischen Films zu präsentieren, ist unmöglich, ohne vor allem jenen Teil der Geschichte zu thematisieren, der die beiden Länder tragisch verbindet; und das ist das Verbrechen des Genozids an den Armeniern im Jahr 1915, an dem das Deutsche Kaiserreich beteiligt war, und seine Folgen. Zum Beispiel wurde in der Hardenberg-Ecke Fasanenstraße im Jahr 1921 Talaat Pascha, der ehemalige Großwesir des Osmanischen Reiches, von einem Armenier erschossen. So wird das Filmprogramm von vier Diskussionsabenden begleitet, an denen über folgende Themen gesprochen wird: 1. Geschichte des armenischen Films und der Schatten des Genozids (6.5.), 2. Der Genozid und die deutsche Beteiligung (18.5.), 3. Der Genozid und seine Spur der Gewalt von 1921 bis heute ( 24.5.), 4. Film und Exil und die Melancholie des kinematografischen Blicks. (31.5.) Das Zentrum des Programms bilden Filme, die sich – direkt oder indirekt – mit Ereignissen der armenischen Geschichte auseinander setzen. Dass die filmische Reflexion des nationalen Traumas durch den Genozid von 1915 in Armenien selbst erst spät erfolgte, ist sicher eine Folge der Tatsache, dass in der Sowjetunion seit der Stalin-Zeit spezifische nationale Erfahrungen und das Bestehen auf einer eigenen Identität als Nationalismus gewaltsam bekämpft wurden. Am Anfang stehen drei Filme des Begründers der armenischen Kinematografie, Hamo Bek-Nazarov. In NAMUS (Die Ehre, 1926), dem ersten armenischen Spielfilm, erzählt Bek-Nazarov eine Liebesgeschichte, die ein tragisches Ende nimmt, da das Paar gegen die starren Sittenregeln einer streng patriarchalischen Gesellschaft verstößt. (5.5.) SHOR UND SHORSHOR (1926) ist die Geschichte zweier genussfreudiger Bauern – eine Komödie, die das armenische Publikum im Sturm eroberte. (6.5.) An einigen Abenden, so auch am 5. & 6.5., wird Johanna-Julia Spitzer vor den Filmen Texte aus "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel bzw. aus "Sehnsucht ohne Ende", armenische Erzählungen, herausgegeben von Adelheid Latchinian, lesen. In PEPO (1935), dem ersten Tonfilm Armeniens, geht es um einen Fischer, der in die Fänge eines Geschäftemachers fällt und einer skrupellosen Klassenjustiz zum Opfer fällt. (5.5.) Frunze Dovlatyan leitete mit BAREV, YES EM (Hallo, das bin ich, 1965) nach den Erstarrungen der Stalin-Zeit einen künstlerischen Neuanfang ein. Zwei Freunde, Physiker, der eine Armenier, der andere Russe, erinnern sich ihrer Jugendträume und betrachten ironisch-melancholisch ihr Leben. Ein Film, der das geistige Klima der Aufbruchsstimmung der 60er Jahre in der Sowjetunion mit Leichtigkeit und Sinnlichkeit ausdrückt. (9.5.) Dovlatyans Revolutionsfilm YERKUNK (Geburt, 1976) entwickelt ein differenziertes, widerspruchsreiches Fresko von der schweren "Geburt" der Sowjetmacht in Armenien, in dessen Zentrum der kluge, souveräne und pragmatische Politiker und Militär Alexander Myasnikyan steht. (14.5.) In KAROT (Sehnsucht, 1990), in dem sich die Reflexion des Genozids mit der Darstellung der bitteren Erfahrungen der Stalin-Zeit berührt, erzählt Dovlatyan die tragische Geschichte eines alten Bauern, der dem Genozid entging und in den 30er Jahren, in Sowjet-Armenien lebend, seiner Sehnsucht nachgibt, noch einmal sein Haus und sein Dorf in der Türkei sehen zu wollen. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetrepublik Armenien wird er vom KGB befragt, wer ihm den Auftrag zur Überschreitung der Grenze gegeben habe. (20.5.) Henrik Malyan stellt in NAHAPET (1977) den schweren Neubeginn des Bauern Nahapet im sowjetischen Armenien dar, der den Genozid überlebte, aber nicht loskommt von den Bildern seiner traumatischen Erinnerungen. Diese dem Leiden mühsam abgerungene Menschwerdung erzählt der Film fast ohne Worte. (19.5.) Zum 70. Jahrestag des Genozids, am 24. April 1985, inszeniert Vigen Chaldranyan in seinem 30-minütigen Film APRIL (1985) ein Gespräch der Generationen, einen tragikomischen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft jener alten Garde, die auf Seiten der Roten Armee gegen das Osmanische Reich kämpfte, ihren desillusionierten, entmutigten Söhnen und den aufmerksamen, interessierten Enkeln, denen die "Lösung der armenischen Frage" aufgetragen wird. (19.5.) In mehreren Filmen stehen Kinder im Zentrum, die über eine große innere Kraft und menschliche Klarsicht verfügen. In Bagrat Hovhannisyans Film HNDZAN (Die Kelter, 1973) geht der 10-jährige Vahe jeden Tag zum Bahnhof, um auf den Vater zu warten, obgleich dieser amtlich als im Zweiten Weltkrieg gefallen gemeldet wurde. Mit wachem Blick beobachtet der Junge das Alltagsleben um sich herum, in dem die jungen und gesunden Männer fehlen und die Alten nur noch von früheren Kriegen erzählen. Mit Andeutungen auskommend, vermittelt Hovhannisyan einen starken Eindruck von der kindlichen Wahrnehmung einer gefährdeten Welt, die jedoch auch Heimat ist. (13.5., mit einer Lesung von Johanna-Julia Spitzer) Stark ist auch der Junge armer Bauern in GIKOR (1982) von Sergey Israelyan, der Ende des 19. Jahrhunderts von seinem Vater in die Stadt gebracht wird, um dort zu arbeiten und später die Familie zu unterstützen. Sein Arbeitsherr, der reiche Tuchhändler, behandelt das Kind mitleidlos. Den unmenschlichen Verhältnissen ist es nicht gewachsen. (19.5.) Der etwa achtjährige Gagik in URAKH AVTOBUS (Ein fröhlicher Bus, 2000) von Albert Mkrtchyan verlor bei dem schweren Erdbeben in Leninakan (heute Gyumri) 1988 seine Familie und kämpft darum, dass die Lehrerin Satenik seine neue Mutter wird. Gagik möchte aber auch einen Vater und sieht sich nach passenden Männern um. ( 20.5.) In Albert Mkrtchyans MER MANKUTYAN TANGON (Tango unserer Kindheit, 1984) geht es um Ruben, der aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrt, aber seiner Frau und seinen drei Kindern einen großen Schmerz zufügt, indem er sie verlässt und zur Freundin seiner Frau zieht, die ihm im Krieg als Krankenschwester das Leben rettete. Den halb komischen, halb tragischen Kampf der beiden Frauen um den Mann und seine unerquickliche Lage des "Dazwischen" erzählt der Regisseur mit Charme und Vitalität, ohne je die ernsthafte Basis dieser Nachkriegsgeschichte aus den Augen zu verlieren. (23.5., Lesung: Johanna-Julia Spitzer) Harutyun Khachatryan entwickelt in seinen drei großen metaphorischen Dokumentarfilmen Seismogramme der gegenwärtigen armenischen Gesellschaft. In VERADARDZ AVETYATS YERKIR (Rückkehr ins Gelobte Land, 1991) beschreibt er in leisen und fesselnden Bildern, wie Flüchtlinge aus Aserbaidshan, die dem Pogrom von Karabach entkamen, im Norden des Landes ein verlassenes Dorf besiedeln und mit zäher Hoffnung das Land bestellen. (24.5., Lesung: Johanna-Julia Spitzer) In VAVERAGROGHROGH (Der Dokumentarist, 2003) problematisiert Khachatryan seine eigene Arbeit und fügt Bruchstücke der Realität zusammen, die er im Laufe von acht Jahren an verschiedenen Orten Armeniens sammelte. (26.5.) Sein neuester Film POETI VERADARDZE (Rückkehr des Dichters, 2006) ist eine Hommage an den armenischen Dichter, Philosophen und reisenden Sänger Ashugh Jivani (1845–1909) und zugleich eine Liebeserklärung an die armenische Landbevölkerung, die ihn ehrt und liebt und seine Lieder singt. (27.5., Lesung: Johanna-Julia Spitzer) Von Artavazd Peleshyan, dem Dichter des dokumentarischen Kinos, zeigen wir drei Arbeiten: MARDKANTS YERKIRE (Die Erde der Menschen, 1966), noch zur Zeit seines Studiums an der Moskauer Filmhochschule entstanden, beschreibt das Leben, die Arbeit und die nicht vergehende Schönheit und Ausdruckskraft menschlichen Denkens am Beispiel eines Werktags in einer großen Stadt. (27.5.) MENK (Wir, 1969) ist ein monumentaler, kaleidoskopartiger Montagefilm über die Identität und das Schicksal des armenischen Volkes. (26.5.) TARVA JEGHANAKNERE (Die Jahreszeiten, 1972), ein Film-Essay über das Leben der Berghirten im Norden Armeniens, veranschaulicht den Widerspruch zwischen Mensch und Natur ebenso wie die Harmonie zwischen beiden. (30.5.) Sergej Paradshanow ist mit den beiden Filmen vertreten, die er in Armenien realisierte: In dem achtminütigen Dokumentarfilm HAKOB HOVNATANYAN (1967) entwirft er auf knappstem filmischem Raum ein in seiner Verdichtung und Schönheit einzigartiges Porträt des armenischen Malers (1806–1881). In NRAN GUYNE (Die Farbe des Granatapfels, auch bekannt als Sajat Nova, 1969) entwickelt er eine vollkommen neuartige, freie, rein poetische filmische Sprache, mit der er das Leben und Sterben des armenischen Dichters des 18. Jahrhunderts, Aruthin Sayadin, vor uns erstehen lässt, ohne eine Geschichte im vertrauten Sinne zu erzählen. Vielmehr veranschaulicht er seine bildlichen Vorstellungen von existentiellen menschlichen Grundwahrheiten in tableauartigen Kompositionen bzw. in ritualisierter Gebärdensprache. (10.5., Lesung: Johanna-Julia Spitzer) Die Filme aus der Diaspora kreisen um den Genozid und seine Folgen, um die Suche nach den Wurzeln, nach der eigenen Identität. J. Michael Hagopians Film GERMANY AND THE SECRET GENOCIDE (2003) geht den engen Beziehungen zwischen dem Osmanischen und dem Deutschen Kaiserreich nach und weist die wenig bekannte Verwicklung des Deutschen Kaiserreiches mit dem Genozid mit einzigartigen Archivaufnahmen und neuen historischen Erkenntnissen nach. (18.5.) In CALENDAR (1993) von Atom Egoyan reist ein kanadischer Fotograf armenischer Abstammung mit seiner Frau, ebenfalls armenischer Abstammung, nach Armenien, um Kirchen für einen Kalender zu fotografieren. Für ihn ist das ein Auftrag wie jeder andere, die Frau jedoch interessiert sich für das Land. Eine lakonische Reflexion über Notwendigkeit und Überflüssigkeit einer nationalen Identität, über mögliche psychische Auswirkungen ihres Verlustes. (30.5.) In STONE TIME TOUCH (2006) von Gariné Torossian ermöglicht der persönliche Blick das Erleben eines sehr speziellen Wirklichkeitsausschnittes. Zwei Frauen reisen nach Armenien. Die eine betritt das Land zum ersten Mal, die andere kennt es ein wenig und setzt während dieser neuen Begegnung die Realität sehr bewusst zu ihrem inneren Bild von Armenien in Beziehung. (31.5., Lesung: Johanna-Julia Spitzer) Der armenische Dokumentarfilmer in Don Askarians AVETIK (1992) lebt im Berlin der 80er Jahre in einer Wohnung, die von der S-Bahn wie von einer Urgewalt umbraust wird. Ein Bild des Ausgesetztseins und der quälenden Unruhe. Er legt sich auf die Straße, umtost von den Autos, das Ohr am Asphalt, um einem anderen Klang, den Tönen seiner Kindheit, seiner Erinnerungen, auch an das Leid, zu lauschen. Askarian findet ausdrucksvolle Bilder für ein erstarrtes Leben in der Fremde und die unstillbare Sehnsucht nach Heimat. (30.5., Lesung: Johanna-Julia Spitzer) Anlässlich der Retrospektive des armenischen Films erwarten wir zahlreiche Gäste, u.a. den Filmhistoriker und Direktor der Kinemathek von Yerevan, Garegin Zakoyan, der zu allen Filmen der Reihe jeweils eine kurze Einführung geben wird. (Erika Richter) Ein Projekt von ART COMBAT Transnational (ACT) e.V. in Kooperation mit dem Yerevan International Film Festival "Golden Apricot", den Freunden der Deutschen Kinemathek e.V., dem MESROP (Zentrum für Armenische Studien, Universität Halle), den National Archives of Armenia, der National Cinematheque Yerevan, dem National Film Center Yerevan und dem European Cultural Parliament (ECP) und mit finanzieller Unterstützung durch die Kulturstiftung des Bundes, das Außenministerium der Republik Armenien, das Ministerium für Kultur und Jugend der Republik Armenien und die Heinrich-Böll-Stiftung.