Jean Renoir (1894–1979) war so alt wie das Kino und gleichzeitig der modernste französische Filmemacher seiner Zeit. Seine Karriere – er drehte in 46 Jahren von 1924 bis 1969 fast 40 Filme – umspannt nicht nur einen großen Teil der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts, sondern war dieser manchesmal sogar voraus. Jenseits aller Stile, Moden und Regeln entwickelte er seine eigenen Vorstellungen vom Kino und ging mit großer Experimentierlust ans Werk. Renoir hat sich viele Freiheiten genommen im Umgang mit den filmischen Mitteln, die letztlich den Beginn der kinematografischen Moderne markieren: Er war ein leidenschaftlicher Verfechter des Originaltons; er befreite die Kamera aus den festen Einstellungen und machte sie extrem beweglich; er arbeitete weniger mit Montage, sondern experimentierte mit der Gliederung von Räumen durch Tiefenschärfe, Komposition und optische Effekte. Auch Improvisation der Schauspieler setzte er als künstlerisches Gestaltungselement ein. Für solcherart Innovationen und den kühnen Bruch mit Konventionen erntete er häufig Unverständnis: Nur ein einziger seiner Filme (LA GRANDE ILLUSION) war ein Kassenerfolg. Auch inhaltlich interessierte sich Renoir für das nicht Kodifizierte; seine Sympathie für Figuren, die außerhalb des (gesellschaftlich) Gewohnten oder Normalen stehen, ist in vielen Filmen offensichtlich. Ebenso wichtig wie die Charaktere waren ihm Landschaft und Orte, seine Faszination für die Wirklichkeit und die Natur ist legendär, wenn auch häufig als simpler Realismus missverstanden worden. Dabei vermitteln Renoirs Filme ein komplexes Verständnis des Verhältnisses von Realität und Repräsentation, des Zusammenspiels von Leben und Kunst und davon, wie das Künstliche und die Fiktion eine Ahnung von der Realität aufkommen lassen. Nicht von ungefähr taucht in Renoirs Filmen immer wieder der Theatervorhang auf: Man soll nicht vergessen, dass auch seine am natürlichsten wirkenden Filme Inszenierungen sind. Der künstlerischen Vielseitigkeit Renoirs entspricht die Vielfalt und schöpferische Fülle seines Œuvres: Es umfasst Literaturverfilmungen, Genre-Filme, sozialkritische Zeitbilder, Theater-Filme, Komödien und lässt sich nicht katalogisieren. Unnachahmlich ist wohl die Verbindung von Leichtigkeit und Ernst, das Nebeneinander unterschiedlichster Gefühlslagen im gleichen Film und die Großzügigkeit den Menschen und den Dingen gegenüber, die aus ihnen spricht. Angesichts von Renoirs heutigem Stellenwert gerät leicht in Vergessenheit, dass er lange Zeit umstritten war, viele seiner Filme kommerzielle Misserfolge waren und manche verboten oder zensiert wurden. Insofern war es für eine veränderte Rezeption Renoirs entscheidend, dass ihn die späteren Filmemacher der Nouvelle Vague (Truffaut, Rivette, Godard) gemeinsam mit André Bazin in den 50er Jahren zum Autorenfilmer adelten, ihn zu ihrem "Patron" (Schutzheiligen) ausriefen und zur Galionsfigur ihrer Autorenpolitik machten. Seine Beweglichkeit im Geiste wie in den Filmen lässt es jedoch unangemessen erscheinen, ihn als Monument zu fixieren. Auf der Kinoleinwand wird sich erweisen, welche Wirkung Renoirs Filme heute haben und ob Truffauts Worte immer noch gültig sind: "Jean Renoir hat die lebendigsten Filme gemacht, seit es Kino gibt." Eine Rarität zur Eröffnung: Wir beginnen am 1. September mit einem der unbekannteren Filme Renoirs, dessen Titel an ein Gemälde von Edouard Manet denken lässt: LE DEJEUNER SUR L'HERBE (Das Frühstück im Grünen, F 1959). Der bunte, heitere, charmant satirische Film verbindet zwei Top-Themen des Jahres 1959: die künstliche Befruchtung und Europa. Ein berühmter Biologe, Präsidentschaftskandidat bei den Europawahlen, möchte die Menschheit durch künstliche Befruchtung zu einer besseren Welt führen. Bei einem Picknick im Grünen zur Feier seiner Verlobung mit einer deutschen Pfadfinderin wird er seiner Wissenschaft jedoch untreu: nach einem durch das Flötenspiel eines Schäfers aufgekommenen Sturm, der seine Sinne weckt, gibt er sich einem Bauernmädchen und der natürlichen Liebe hin. Die Bade-Szene, die sein Begehren wachruft, sieht aus, als sei sie das in Bewegung gesetzte Gemälde "Baigneuse" seines Vaters, des Malers Pierre-Auguste Renoir. Der in Renoirs Œuvre immer wiederkehrende zentrale Konflikt von Ordnung und Unordnung wird hier anhand des Widerstreits von Wissenschaft und Natur ausgetragen; die Kraft der Sinnlichkeit und die Lebensfreude triumphieren über den wissenschaftlichen Fortschritt. "Ein Film über das Glück, über die Kunst, glücklich zu leben." (Frieda Grafe) (1.9., mit einem einführenden Vortrag von Ralph Eue) Auch der zweite Film des Eröffnungswochenendes war in Berlin seit langem nicht zu sehen: die melodramatische Liebesgeschichte TONI (F 1935). Toni ist ein italienischer Landarbeiter, der wie viele andere Immigranten auf der Suche nach Arbeit in ein kleines Dorf der Provence gekommen ist. Er verliert seine spanische Geliebte an einen autoritären, brutalen Vorarbeiter. Als sie in einem Verzweiflungsakt ihren Mann umbringt, versucht Toni, den Mord zu vertuschen … TONI bricht radikal mit den herrschenden filmischen Moden und ist ein Vorläufer des Neorealismus, zehn Jahre vor seiner Zeit. Obwohl sich die Geschichte wie ein antikes Drama ausnimmt, liegt dem Drehbuch ein authentischer Fall zugrunde. Jenseits aller Konventionen des Genre-Kinos ist der Film nicht im Studio, sondern am Ort des Geschehens mit viel Improvisation gedreht, mischt Stilisierung und realistische Bilder sowie Laiendarsteller mit professionellen. TONI ist darüber hinaus ein Film, in dem Arbeiter zum ersten Mal wie Arbeiter sprechen, Französisch und Italienisch zur Sprache des Midi verschmelzen und eine Musik von Stimmen und Tonfällen entsteht. (2. & 13.9.) Ein Verbrechen aus Leidenschaft geschieht auch in Renoirs ebenfalls mit Direktton gedrehtem Film LA CHIENNE (Die Hündin, F 1931), einer Tragödie, als Farce präsentiert und mit einer Szene aus dem Kasperletheater eingeleitet. Ein ehrenwerter, mittelmäßiger Bankkassierer und braver Sonntagsmaler (Michel Simon), der von seiner Frau tyrannisiert wird, verfällt einer Prostituierten, ohne ihren Beruf zu erahnen. Er stiehlt für diese Amour fou und wird daraufhin entlassen. Als er entdeckt, dass die junge Frau ihn betrügt, ersticht er sie. Die Gesellschaft traut ihm einen Mord nicht zu, und der Verdacht fällt auf den Zuhälter, der verurteilt und hingerichtet wird. Künstler, ohne es zu wissen, und Mörder, ohne es zu wollen, wird der Kleinbürger schließlich zum Clochard. (8. & 11.9.) Die Figur des Clochards verweist bereits auf den ebenfalls von Michel Simon verkörperten Landstreicher aus BOUDU SAUVÉ DES EAUX (Boudu – aus den Wassern gerettet, F 1932), ebenfalls eine satirische Auseinandersetzung mit den Konventionen, Traditionen und der Moral der bürgerlichen Gesellschaft. Ein seriöser Pariser Buchhändler – der seine Frau allerdings mit dem Dienstmädchen betrügt – rettet den lebensmüden Boudu aus dem Wasser und nimmt ihn bei sich auf. Boudu stört den häuslichen Frieden, bringt alles durcheinander und vereitelt letztlich jeden Versuch, ihn zu domestizieren. Während einer Bootspartie nimmt er Reißaus und lässt sich vom Wasser davontragen. "Der Film: komödiantisch, anarchisch, voll Spott aufs Bürgertum, aber auch voll sardonischer Sympathie. Im Clochard Boudu feiert Renoir die Verachtung der Konvention, die Sinneslust, die Vulgarität." (Harry Tomicek) (3. & 8.9.) Um die Dreharbeiten zu LA CHIENNE und BOUDU SAUVÉ DES EAUX und um zahlreiche Anmerkungen zu Schauspielführung und Inszenierung ging es in einem Gespräch, zu dem sich im Jahr 1966 Jean Renoir und Michel Simon trafen. Jacques Rivette filmte dieses Gespräch, und Henri Cartier-Bresson fotografierte die Runde. Im Jahr 1994 nahmen sich Jacques Rivette und André S. Labarthe der Aufnahmen an, die aus rechtlichen Gründen 23 Jahre lang der Öffentlichkeit vorenthalten worden waren. JEAN RENOIR, LE PATRON (Jacques Rivette, F 1966/1994) ist ein Porträt von zwei Männern, die sich schätzen, von zwei Komplizen, die ständig zwischen tiefgründigen Überlegungen und schallendem Gelächter hin- und herwechseln. (3. & 9.9.) Die erste Zusammenarbeit von Renoir mit Michel Simon war der stumme, von Chaplin und den amerikanischen Burlesken geprägte TIRE AU FLANC (Der Drückeberger, F 1928) – grandioser Slapstick, in dem Michel Simon als Luftgeist im Röckchen zu sehen ist. Ein zum Militärdienst eingezogener junger Adliger mit eher poetischer als kriegerischer Veranlagung, dessen Kammerdiener, ein Witzbold, im selben Regiment dient, damit er seinem Herrn auch hier zur Verfügung steht, kommt mit dem Kasernenleben ganz und gar nicht zurecht. Der Kasernenhof in TIRE AU FLANC zeigt sich antimilitaristisch, anarchistisch und verrückt. Die Kamera ist entfesselt und überschlägt sich, der Rhythmus ist schnell, das Vergnügen am Improvisieren deutlich spürbar. (6.9., am Klavier Eunice Martins) Eine Liebeserklärung an Catherine Hessling (seine damalige Ehefrau und ehemaliges Modell seines Vaters) und an das Element bewegten Wassers, ein Topos, der in seinen späteren Filmen immer wiederkehrt, ist Renoirs Erstling LA FILLE DE L'EAU (Die Tochter des Wassers, F 1924). Eine Schifferstochter lebt nach dem Tod des Vaters auf dem Kahn ihres gewalttätigen Onkels. Nach ihrer Flucht in den Wald schläft sie ein und träumt davon, ihrem Peiniger wiederzubegegnen. Doch schließlich erweist sich der Sohn des Grundbesitzers als ihr Beschützer. (5.9., am Klavier Eunice Martins) Eine Traumsequenz mit zahlreichen Trickaufnahmen steht auch im Zentrum von LA PETITE MARCHANDE D'ALUMETTES (Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, F 1928), nach dem Märchen von Hans Christian Andersen, mit Bezügen zu Chaplin und Griffith. In einer eiskalten Silvesternacht versucht ein armes Mädchen in Lumpen, Streichhölzer an Passanten zu verkaufen – doch ohne Erfolg. Sie schläft im Schnee ein und beginnt zu träumen: Sie trifft in einem Spielzeugladen einen schönen Leutnant, mit dem sie tanzt. Doch der schwarze Reiter Tod verfolgt sie, und die beiden fliehen auf einem weißen Pferd in die Wolken. In dem vom Renoir-Verehrer Jean Eustache für das Schulfernsehen gedrehten POSTFACE: LA PETITE MARCHANDE D'ALUMETTES (F 1969) sitzt Jean Renoir auf der Bühne des Théâtre du Vieux-Colombier, dem Drehort des 1928 entstandenen Films. Im Gespräch mit Georges Gaudu beschreibt er die Bedingungen bei den Dreharbeiten, die technischen Basteleien, spricht von den Filmemachern, die ihn beeinflusst haben, von seiner Bewunderung für Chaplin und vom Unterschied zwischen Wahrheit und Realismus im Kino. (4.9.) Eine Hommage an Erich von Stroheim, seinen Film Foolish Wives und das deutsche Kino ist Renoirs eigenwillige Adaption von Émile Zolas NANA (F 1926), einer seiner ambitioniertesten Filme, dessen Misserfolg ihn vorübergehend ruinierte. Nana führt das Leben einer Kurtisane im Paris der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie ist eine kleine ambitionierte Schauspielerin, die gern als feine Dame auftritt, aber erfolglos bleibt und nach vielen erotischen Eskapaden an der Syphilis stirbt. Catherine Hessling als Nana schminkt sich und spielt wie eine Kabuki-Schauspielerin, was stark kontrastiert mit dem nüchternen und subtilen Spiel von Werner Krauss, dem großen Schauspieler des expressionistischen Kinos, das auch durch Valeska Gert vertreten ist. (7.9., am Klavier Eunice Martins) Das flirrende Licht, der Wind in den Bäumen, das Lachen der Frau auf der Schaukel, die Blicke der Männer – PARTIE DE CAMPAGNE (Eine Landpartie, F 1936/46), die Verfilmung einer Novelle von Maupassant, ist ein lyrischer Film voll sinnlicher Intensität. An den Ufern eines Flusses verbringt eine Kleinbürgerfamilie eine sonntägliche Landpartie. Die Männer angeln und schlafen, Mutter und Tochter lassen sich jeweils von einem jungen Mann zu einer Kahnfahrt einladen und den Hof machen. Was so leicht beginnt, wird zu einer herzzerreißenden, melancholischen Liebesgeschichte. Am Ende dieses Sommernachmittags auf dem Land ist es vorbei mit der Hingabe an den Augenblick, der magische Moment ist passé und die eigentliche Ordnung wiederhergestellt. (9. & 28.9.) Der wegen des Abbruchs der Dreharbeiten aufgrund von schlechtem Wetter sowie des Kriegsausbruchs Fragment gebliebene PARTIE DE CAMPAGNE konnte erst 1946 – unvollendet und mit Zwischentiteln – uraufgeführt werden. Jahrzehnte später fand man das nicht in den Film eingegangene gedrehte Material, das Alain Fleischer auszugsweise zu UN TOURNAGE À LA CAMPAGNE (F 1936/1994) montierte. Der Film ermöglicht, Jean Renoir aus nächster Nähe bei den Dreharbeiten zuzuschauen. Man sieht, wie Sylvia Bataille sich verhaspelt, wie ein Windstoß einen Hut fortweht oder ein Baum vor die Kamera stürzt. Und man erlebt Renoir, wie er die Klappe schlägt oder nach dem Take vor den Schauspielern den Hut zieht oder aber sagt: "Das war tadellos: Kommt, noch mal von vorn!" (8.9.) Zur Zeit der Volksfront (1936–38) engagierte Renoir sich politisch, LA VIE EST À NOUS ist eine Auftragsarbeit für die Kommunistische Partei, LA MARSEILLAISE für die Gewerkschaft CGT. LA VIE EST À NOUS (Das Leben gehört uns, F 1936) ist ein historisches Dokument, das kollektiv hergestellt und von der Zensur verboten wurde und das die politischen Spannungen angesichts des Erstarken des Faschismus in Europa und den großen Optimismus zeigt, der Frankreich 1936 erfasste. Der Film lebt vom betonten Unterschied zwischen fiktionalen und dokumenarischen Bildern, lässt dem Zuschauer die Möglichkeit, sein Maß an Ideologie zu erkennen und zu reflektieren. "Das rare Beispiel eines ehrlichen Propagandafilms."(Frieda Grafe) (6.9.) Durchdrungen vom Aufbruch und Optimismus der Volksfront ist auch LES BAS-FONDS (Nachtasyl, F 1936), eine Übertragung von Gorkis "Nachtasyl" nach Frankreich. Ein Baron (Louis Jouvet), der beim Kartenspiel all seinen Reichtum verloren hat, freundet sich mit einem jungen Einbrecher (Jean Gabin) an, den er bei sich erwischt. Der verarmte Baron trifft seinen neuen Freund bald in einer Unterkunft voller zwielichtiger Bewohner wieder: Prostituierte, Gauner, Betrunkene und Räuber. Einige finden die Liebe, andere den Tod. Die glühende Solidarität in der Arbeiterklasse, das optimistische Ende sowie Renoirs bedingungslose Solidarität mit den Armen und Obdachlosen sind Ausdruck ihrer Zeit. (19.9.) LA MARSEILLAISE (F 1938) folgt dem Marsch eines Freiwilligenbataillons von Marseille nach Paris und kommt ohne eine einzige der großen Figuren der Französischen Revolution aus – eine Revolution wird nicht von Helden gemacht, sondern von ganz normalen Menschen. Kein pathetisches, emotionalisierendes Heldenepos also; dafür enthält der Film die Geschichte, wie mit den Marseillern die Tomaten Paris eroberten und wie ein Lied auf dem Weg vom Süden in die Hauptstadt zur Nationalhymne wird. Kein feierliches Bild der Französischen Revolution, sondern ein Film voller Schwung, in dem die Kamera neben den Soldaten herläuft. Und der pantoffelheldische Ludwig XVI. diskutiert mit der Königin die gerade neu erfundenen Zahnbürsten. "Die denkbar vitalste Demontage eines Historienfilms." (Harry Tomicek) (12.9.) Großes Schauspielerkino ist das Melodram LA BÊTE HUMAINE (Bestie Mensch, F 1938), ein antikes Drama im Eisenbahner-Milieu. Die atmosphärische Schilderung des Lebens in der Banlieue, die düsteren Hinterhöfe, die rußgeschwärzten Hallen, der Krach der Maschinen und ein brodelnder "bal populaire" machen LA BÊTE HUMAINE zum naturalistischsten Film Renoirs. Der Film beginnt mit einer furiosen Eisenbahnfahrt, einer Demonstration der Kraft der Maschine, die unabwendbar ihren Gang geht, aber auch der ästhetischen Möglichkeiten des filmischen Mediums. Lantier (Jean Gabin), Lokomotivführer mit Leib und Seele, wird der Geliebte von Sévérine, der Frau des Bahnhofsvorstehers, der einen Mord begangen hat. Als Sévérine Lantier anstiftet, ihren Ehemann zu töten, steuert er auf eine Katastrophe zu … (15. & 19.9.) Der Gegensatz zwischen Volk und Adel bestimmt Renoirs Anti-Kriegsfilm LA GRANDE ILLUSION (Die große Illusion, F 1937). Am Schicksal dreier französischer Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg – ein Aristokrat, ein aus proletarischen Verhältnissen stammender Offizier (Jean Gabin) und ein Jude, die gemeinsame Ausbruchsversuche unternehmen, sowie des adligen Lager-Kommandanten (Erich von Stroheim), der ihre Flucht verhindern will, zeigt Renoir die Absurdität des Krieges und seiner Rituale sowie den falschen Mythos der Nation. Zwischen den Feinden, den beiden adligen Offizieren, ist das Einverständnis größer als zwischen den französischen Kameraden. Die Uniformen heben die sozialen Differenzen nicht auf. Eine Theateraufführung, in der die Soldaten als Frauen verkleidet tanzen, hat genauso utopischen Charakter wie die am Ende stehende Aussicht auf ein neues Leben ohne Krieg und Klassengegensätze. (10. & 25.9.) Die adligen Protagonisten in LA GRANDE ILLUSION wissen bereits, dass ihre Zeit abgelaufen ist, noch eindeutiger auf den Punkt bringt den bevorstehenden Zeitenumbruch jedoch der filmisch ungeheuer moderne LA RÈGLE DU JEU (Die Spielregel, F 1939), der, zu seiner Zeit verschmäht, nun als Renoirs Opus magnum gilt. Szenen aus dem Leben der besseren Kreise auf dem Landschloss: Empfänge, Plaudereien im Salon, Treibjagd, amouröse Verwicklungen bei den Herrschaften wie bei den Dienstboten. Und ein Maskenspiel, bei dem Renoir sich in seiner Rolle als Octave ein Bärenfell über die Ohren zieht. Was wie eine klassische Komödie beginnt, wird zu einem sarkastischen Totentanz. Die gesellschaftlichen "Spielregeln" entpuppen sich als selbstzerstörerische Konventionen. (14. & 23.9.) Nach diesem Abgesang auf die bürgerliche Vorkriegsgesellschaft emigrierte Renoir 1940 in die USA und ließ sich in Hollywood nieder. Von seinen amerikanischen Filmen aus den 40er Jahren zeigen wir THE DIARY OF A CHAMBERMAID (Tagebuch einer Kammerzofe, USA 1946). Ein Dienstmädchen (P. Goddard) wird von einer Familie eingestellt, die in einem Schloss in der Normandie wohnt. Dort stellt ihr nicht nur der Kammerdiener nach. Die Sonne Frankreichs wird in Hollywood zum Studiolicht, der Film ist in eine künstliche Atmosphäre getaucht. Unverändert bleibt aber Renoirs Anliegen, das Dramatische komisch und das Groteske tragisch zu gestalten. (17. & 22.9.) Dem Experiment mit neuen künstlerischen Möglichkeiten des Mediums schon immer zugeneigt, erprobte Renoir die ästhetischen Möglichkeiten der Farbe im Film erstmalig in seiner letzten amerikanischen (Co-)Produktion THE RIVER (USA/F/Indien 1951). "Der Film behandelt eine Farbfusion. Die indischen Landesfarben Grün und Rot reagieren auf Technicolor. Der bewegte Bezug zwischen zwei Kulturen schlägt sich nieder in Farbverhältnissen." (Frieda Grafe) An den Ufern des Ganges erleben drei britische Mädchen, jede auf ihre Art, die erste Liebe zu einem amerikanischen Offizier, der aufgrund einer Kriegsverletzung gehbehindert ist. Die Freundinnen konkurrieren um seine Aufmerksamkeit, er wird zum Objekt von Neugier, Beobachtung, Leidenschaft und Intrigen, wodurch sich das Ende der Kindheit und der Verlust der Unschuld ankündigen. Der Gleichmut des Flusses den bald folgenden Abschieden, dem Tod und dem Zyklischen des Lebens gegenüber macht THE RIVER zu einem sehr entspannten Film. Ein Film über das Leben am Fluss und über den Fluss des Lebens gleichermaßen. (24. & 27.9.) In Rom dreht Renoir mit Anna Magnani den farbenprächtigen LE CARROSSE D'OR / THE GOLDEN COACH (Die goldene Karosse, F/GB/Italien 1953), laut Eric Rohmer das "Sesam-öffne-Dich zum ganzen Werk Renoirs". Wenn im Kino der Vorhang aufgeht, erscheint auf der Leinwand ein zweiter, ein purpurroter samtener Theatervorhang. Er gibt den Blick frei auf eine Bühne, wo das Märchen von der Goldenen Karosse gespielt wird. Dazu Vivaldi. Ein Operettenstaat in Südamerika, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, eine Schauspieltruppe mit Anna Magnani als der Star Camilla, der in der Commedia dell'Arte die Männer verfallen – der Stierkämpfer, der Vizekönig und der König. Von dort aus entfaltet sich das Doppelspiel von Leben und Theater, das in der Frage kulminiert: "Wo beginnt das Theater? Wo hört das Leben auf?" Zwei Welten, Kunst und Leben, Schauspiel und Realität werden in diesem Film mehrfach verschachtelt und unaufhörlich ineinander gespiegelt. (16. & 30.9.) Ein Wirbel aus Tanz und Technicolor und eine Ode an die Sinneslust ist FRENCH CANCAN (F/I 1955), der die Farben und Figuren der Gemälde von Pierre-Auguste Renoir, Degas und Toulouse-Lautrec in Bewegung versetzt. Im Montmartre der Belle Époque wird Nini von Danglard (Jean Gabin), der den Cancan kreiert, entdeckt und in die Truppe seines Varietés geholt. Nach hartem Training, Eifersuchtsdramen und vielen Tränen kommt es schließlich zur Neueröffnung des Moulin Rouge, für ganz Paris ein außergewöhnlichen Ereignis, das in ein entfesseltes Finale, eine Auflösung in Ekstase mündet. (16. & 29.9.) Der dritte Teil der Technicolor-Trilogie, ELENA ET LES HOMMES (Weiße Margeriten, Italien/F 1956), ist eine opulent ausgestattete Komödie zum Thema Politik und Liebe. Die ebenso schöne wie extravagante Witwe (Ingrid Bergman) eines polnischen Grafen trägt sich mit dem Gedanken, einen Industriellen zu heiraten. Gleichzeitig verdreht sie zwei Männern den Kopf, indem sie Margeriten als Glücksbringer einsetzt: Ein General mit politischen Ambitionen (Jean Marais) sowie ein französischer Offizier (Mel Ferrer) sind an ihr interessiert – bis Elena in eine politische Intrige verwickelt wird. ELENA ET LES HOMMES setzt die Reflexion Renoirs über das Spektakel, über Schauspiel und Repräsentation fort. "Der intelligenteste Film der Welt. Kunst und zugleich Theorie der Kunst. Schönheit und zugleich das Geheimnis der Schönheit. Kino und zugleich Erklärung des Kinos." (Jean-Luc Godard) (26. & 29.9.) Die Retrospektive wird auszugsweise von einigen deutschen Städten übernommen und dort bis November zu sehen sein. Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Bureau du Cinéma der Botschaft von Frankreich. Dank an Dorothée Basel, Anne Tallineau und Julien Lamy. Mit freundlicher Unterstützung des Österreichischen Filmmuseums. Die Kopien von LA FILLE DE L'EAU, NANA und TIRE AU FLANC wurden vor kurzem von der Cinémathèque Française restauriert.