Los geht es mit einem Blowjob. Erst lange nach diesem Prolog von Carlos Reygadas' mit Laiendarstellern inszeniertem Film BATALLA EN EL CIELO (Battle in Heaven, Mexiko/Belgien/F/D 2005) wird klar, dass es sich hier um Ana, die Tochter eines mexikanischen Generals, die aus Langeweile als Edelprostituierte arbeitet, und um Marcos, den Fahrer ihres Vaters, handelt. Dieser hat zusammen mit seiner Frau ein Baby entführt, das jedoch kurz darauf starb. Er sucht Erlösung von seiner Tat – in den Armen Anas, am Gipfelkreuz eines Berges, bei einer Pilgerprozession. Doch weder körperliche Nähe noch religiöse Rituale vermögen die ihn quälende Schuld von ihm zu nehmen. Reygadas verschränkt die Inszenierung religiöser Symbolik (z. B. eine Tankstelle als Kathedrale) mit dokumentarischen Alltagsaufnahmen aus Mexico City, die Wucht der großen Geste mit einer bisweilen kargen Bildsprache. (2. & 3.8.) Halt in einem schwierigen Leben geben Jonathan Caouette seine Kameras. Im Alter von elf Jahren fängt er an, sich vor seinen Super-8- und Videokameras zu inszenieren, nimmt auch seine Familie auf und dreht selbst gebastelte Splatterfilme. In seinem eindringlichen autobiografischen Filmessay TARNATION (USA 2004) hat Caouette dieses Material zu einer Collage seines Lebens zusammengefügt, die die Geschichte seiner psychisch kranken Mutter und seines eigenen traumatischen Heranwachsens erzählt – eine erschütternde Familiengeschichte als "Underground-Pop-Movie". Darüber vermittelt der Film einen Eindruck vom Umgang der amerikanischen Gesellschaft mit psychisch Kranken und ist ein Dokument über die Pop- und Subkultur der 80er Jahre (Punk, Andy Warhol, New Wave) und den New Yorker Underground. (7. & 8.8.) Eine große Liebesgeschichte in einem kleinen Dorf in Brandenburg erzählt Valeska Grisebach in Sehnsucht (D 2006) – musikalisch markiert von "Ich möchte ein Eisbär sein" und Robbie Williams' "Feel", also zwischen dem Wunsch, nichts zu fühlen, und der Hingabe an die großen Gefühle. Ella und Markus sind ein Paar seit Kindertagen. Doch bei einem Ausflug mit der Freiwilligen Feuerwehr lernt der Ehemann eine andere Frau, Rose, kennen. Seine Welt gerät ins Wanken, er weiß nicht, wie ihm geschieht, und eine Dreiecksgeschichte beginnt. Markus liebt seine Frau, doch er liebt auch Rose. So einfach ist das – und das ist die ganze Tragödie. Die Laiendarsteller haben hier nichts mit "Authentizität" oder Milieuschilderung zu tun, sondern führen eine Aneignung von Gefühlen und Worten vor, sie gehen nie ganz in ihren Rollen auf. "Grisebach erzählt eine Tragödie mit Anspielungen auf 'Romeo und Julia'. Dabei überhöht sie nicht, sondern reduziert. Sie legt im Innersten eines überzeugenden naturalistischen Äußeren eine Geschichte frei, die so konkret wie universal ist." (Ekkehard Knörer) (9. & 12.8.) Ein weiteres faszinierendes Institutionenporträt von Frederick Wiseman ist STATE LEGISLATURE (USA 2007). Der Film widmet sich den Gesetzgebungsprozessen im US-amerikanischen Bundesstaat Idaho und zeigt das Parlament bei seiner alltäglichen Arbeit: Ausschusssitzungen, Debatten, informellen Gesprächen, Abstimmungen, Treffen mit Lobbyisten, Wählern, der Öffentlichkeit und der Presse. Mit unbeschreiblichem Ernst werden Argumente gewechselt und diskutiert – Idee und Praxis der Demokratie manifestieren sich. Die Größe der Idee der Demokratie zeigt sich in der Kleinarbeit, die STATE LEGISLATURE vor Augen führt. Ein sprödes Unternehmen, könnte man meinen – doch es entwickelt einen verblüffenden Sog. (10.8.) Sprachlos bleiben die Menschen in Nikolaus Geyrhalters UNSER TÄGLICH BROT (Österreich 2005), einem Film über die industrielle Nahrungsmittelproduktion, eine Welt, die von Maschinen beherrscht wird. Keine Interviews, kein Kommentar, keine Schuldigen und keine Konzernchefs – Nikolaus Geyrhalter setzt in UNSER TÄGLICH BROT (Österreich 2005) vor allem auf die Macht der Bilder. In langen Plansequenzen, häufig in symmetrischen Totalen ins Bild gesetzt, reihen sich Szenen aus Schlachthöfen, Legebatterien und Monokulturen in riesigen Gewächshäusern aneinander und machen den industriellen, hochtechnisierten Charakter unserer Lebensmittelproduktion augenfällig. (15.8.) Obwohl Gus Van Sant in seinem elliptisch und nichtlinear erzählten Film LAST DAYS (USA 2005) die letzten Tage eines Rock-Stars, inspiriert vom Leben Kurt Cobains, zeigt, handelt es sich nicht um ein mythenbildendes Biopic, sondern vielmehr um die Annäherung an einen Mythos, der sich entzieht und sein Rätsel behält, um eine Auseinandersetzung mit Todessehnsucht und Jugendkultur. Der Musiker Blake dämmert vor sich hin, stolpert durch den Wald, getrieben von einer inneren Unruhe, er murmelt Unverständliches, starrt ins Nichts – eine schmerzhafte Leere zieht sich durch den Film. Mit einigen Weggefährten hat er sich in ein abgelegenes Haus zurückgezogen; doch Kommunikation findet nicht statt – im Grunde ist er unerreichbar, als wäre er schon in einer anderen Welt. (17. & 19.8.) Einer Ikone ganz anderer Art widmet sich Stephen Frears in THE QUEEN (GB/F/I 2006): der amtierenden britischen Königin Elizabeth II. Die Tage nach dem Unfalltod von Prinzessin Diana 1997 sind für ihn Anlass, hinter die Kulissen eines streng abgeschotteten Systems zu blicken und sich einer Frau anzunähern, die zum ersten Mal aufgrund ihrer unterkühlten Reserviertheit von der grenzenlos trauernden Öffentlichkeit kritisch hinterfragt wird. THE QUEEN ist insofern auch ein Film über das Verhältnis zu Traditionen, über die Mediengesellschaft und ihre Hysterie und über die Macht symbolischer Politik. Wie man öffentlich überlebt, wird der Queen übrigens vom damals frischgebackenen Premier Tony Blair gezeigt. (18. & 20.8.) Von den traumatischen Spuren des Bosnienkrieges und der Last der Vergangenheit im heutigen Sarajewo erzählt Jasmila Zbanic in ihrem ersten Spielfilm GRBAVICA – ESMAS GEHEIMNIS (A/BIH/D/CRO 2005). Esma zieht ihre 12-jährige pubertierend-rebellische Tochter Sara alleine groß, wie viele Frauen in ihrer Nachbarschaft – der Vater, so erzählt sie ihr, sei als Kriegsheld gestorben. Dass sie durch eine der im Krieg üblichen systematischen Massenvergewaltigungen gezeugt wurde, soll Sara nie erfahren. Aber das Mädchen merkt, dass die Mutter ein Geheimnis verbirgt. Als ein Klassenausflug ansteht und Sara für eine Kostenbefreiung eine offizielle Bestätigung, dass der Vater als Held gefallen ist, mitbringen soll, eskaliert der Konflikt zwischen der Mutter, die ihr Trauma verdrängt, und der Tochter, die sich getäuscht fühlt und endlich die Wahrheit wissen will. (25. & 29.8.) Ein außergewöhnliches Gerichtsverfahren findet im Innenhof eines Anwesens in Malis Hauptstadt Bamako statt: Beschuldigte sind der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, Ankläger sind Frauen und Männer, die die Bevölkerung Afrikas vertreten. Gegenstand der Klage ist die skrupellose Ausbeutung des Südens durch den Norden. Ein überfälliges Gerichtsverfahren – und ein fiktives. Abderrahmane Sissako macht in BAMAKO (Mali/F 2006) den Wohn- zum Gerichtshof, doch während Ankläger, Zeugen und Verteidiger ihre Standpunkte vertreten, geht das Leben weiter, alltägliche Verrichtungen mischen sich wie ein Kommentar in die intellektuelle Debatte – ein politisches Statement ohne Bilder hungernder Kinder. Im Fernsehen läuft "Death in Timbuktu", ein Italowestern, der den schießwütigen Danny Glover und eine Bande von herumziehenden Cineasten zeigt, die auf ihre Weise für Gerechtigkeit und Solidarität sorgen wollen … (30. & 31.8.)