"Jedes der abertausend Fotos, die Ulrike Ottinger seither gemacht hat, ist ein erstes Bild. Stets weist es über sich hinaus: auf die ihm vorgängige Wirklichkeit, auf unzählige Bilder aus den Arsenalen der Künste, der Alltagskulturen und Mythen, und auf den visuellen Kosmos des immer dichter werdenden eigenen OEuvres." (Katharina Sykora)
Die Ausstellung im Museum für Film und Fernsehen und die Filme von Ulrike Ottinger sind weiterhin zu sehen. Sowohl zu Ottingers Fotografien, als auch zu ihren Filmen gibt es unzählige Zugänge. Die Herausforderung bei der Zusammenstellung dieser nicht chronologisch verlaufenden Retrospektive war es, genau dieser Tatsache Ausdruck zu verleihen. Wir haben Gäste eingeladen, die zu Perspektivwechseln beigetragen haben. Catherine David wird zur Finissage mit ZWÖLF STÜHLE (2006) am 2.12. sprechen. Nach Gertrud Koch und Miriam Hansen, die bereits zu Gast waren, hält Anselm Franke (Extra City, Antwerpen) eine Einführung. Er hat als Kurator am KW Institute for Contemporary Art mit Ottinger gearbeitet und in einem Katalogtext über ihren ethnografischen Blick geschrieben, d.h. darüber, wie aus Bildern Geschichten hervorgehen. Wir zeigen dazu FREAK ORLANDO (1981), der eine Irrtümer, Inkompetenz, Machthunger, Angst, Wahnsinn, Grausamkeit und Alltag umfassende "Histoire du Monde" am Beispiel der Freaks als kleines Welttheater in fünf Episoden erzählt. "Dies ist kein karitativer Film, der um Verständnis bittet für Abnormes. Er arbeitet mit vielen Tricks, nur nicht mit dem, auf den das Kino sonst baut, Identifikation. Er zitiert den berühmten Film von Tod Browning (1932), in dem das Kino seine Fähigkeit zum Wundertum Lügen strafte durch eine unvorstellbare Schau realer Monstren. Aber er selbst ist anders." (Frieda Grafe) (1. & 7.11.)
Von Laurence A. Rickels ist bei b_books ein Buch in der deutschsprachigen Fassung erschienen: "Ulrike Ottinger. Eine Autobiografie des Kinos". Vor dem Hintergrund der Geschichte des Avantgardefilms analysiert Rickels Ottingers von Metamorphose und Allegorie gekennzeichnete Bildsprache und verknüpft ihre Arbeit mit einer psychoanalytisch geprägten Medientheorie. Die Übersetzerin Michaela Wünsch wird das Buch vorstellen. Dazu zeigen wir JOHANNA D'ARC OF MONGOLIA (1989). Der Film "beginnt in der Transsibirischen Eisenbahn, die seit 100 Jahren unsere europäische Zivilisation durch die Wildnis der sibirischen Tundra und Taiga transportiert: ein rollendes Miniaturmuseum. Im Speisewagen lernen sich die vier Protagonistinnen kennen und treffen auf drei exzentrische Herren. An der Grenze zur Mongolei steigen die Damen in die Transmongolische um, die nach kurzer Zeit von wilden mongolischen Reiterinnen gestoppt wird. Es ist so, als wären sie plötzlich in eine andere Zeit versetzt. Die westlichen Damen werden von einer geheimnisvollen mongolischen Prinzessin und ihren Begleiterinnen entführt und ziehen mit ihrer Karawane durch die überwältigende Landschaft der Inneren Mongolei ins Ungewisse." (Ulrike Ottinger) (5. & 14.11.) Heinz Emigholz, dessen Architekturfilme wir im Dezember zeigen, kommt wie Ottinger aus dem Bereich des Experimentellen, Underground, bzw. Queer Cinemas. Beide haben vor diesem Hintergrund eine Struktur des Dokumentarfilms entwickelt, die gleichzeitig persönliche Handschrift und strenges Konzept zu sein scheint. Was bei dem einen die Architektur ist, ist bei der anderen der ethnografische Blick. Beiden gelingt es, grundlegende Fragen des Kinos persönlich vermittelt neu erfahrbar zu machen – und damit vielleicht zu beantworten. Dies wird Thema eines Gesprächs im Anschluss an die Vorführung des Films SÜDOSTPASSAGE (2002) sein. Darin handelt es sich nicht um eine Reise in ein abgelegenes Land außerhalb unseres Kulturkreises, sondern es geht auf den alten Transit- und Handelswegen durch die verfallenen Imperien Südosteuropas. Die am Straßenrand gesammelten Bilder destillieren aus einer Fülle von kleinen, aber bezeichnenden Beobachtungen etwas Wesentliches: Die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit der Lebensverhältnisse. (21. & 25.11.) Marc Siegel bietet zur Retrospektive ein Seminar an der FU Berlin an, wo außerdem die Ringvorlesung "Piraten. Seeräuber, Menschenräuber, Datenräuber" stattfindet. Aus diesem Grund zeigen wir noch einmal MADAME X – EINE ABSOLUTE HERRSCHERIN (1977, siehe Oktoberprogramm). Das anschließende Gespräch moderiert Dr. Jörg Wiesel. (29.11.) Ottinger schafft in ihrem Werk zahlreiche Verbindungen und Assoziationen mit der Kunst- und Kulturgeschichte, in dem sie sich nicht nur in der – meist gerahmten – Bildgestaltung, sondern auch durch die Wahl von Schauspielern und Sprechern darauf bezieht. Auch Textzitate, besonders in ihrem jüngsten Film PRATER (2007), den wir im Forum zeigten und der nun in den Kinos läuft, stellen überraschende Zusammenhänge her. In Miniaturen aus Gesprächen mit Schaustellern, Eindrücken von Besuchern, Filmzitaten, Dokumenten, Beobachtungen und Inszenierungen wird die Geschichte des Wiener Praters erzählt. Der älteste Vergnügungspark der Welt im Spiegelbild seiner technischen und medialen Entwicklung – kaleidoskopartig visualisiert mit fliegenden Kamerabewegungen und Texten von Elfriede Jelinek, Josef von Sternberg, Erich Kästner, Elias Canetti und einem Auftritt von Veruschka. (3. & 10.11.) Mongolische Hochzeitssuppe gibt es in den Pausen während der 501-minütigen Vorführung von TAIGA (1992). "TAIGA (1991/92) beschreibt eine Reise zu den Yak- und Rentier-Nomaden im nördlichen Teil der Mongolei. Der Film führt uns in die Weite dieses von Schneebergen bekrönten Hochtales. Überall treffen wir auf animistische Opferstätten mit Stofffetzen und heilige Bäume mit Pferdeschädeln. Die Schamanen sind hier noch mächtig und begleiten ihre Schutzbefohlenen nicht nur bei Krankheit oder ins Herbst- und Sommerlager, sondern auch ins moderne Leben. Die Dramaturgie folgt nicht allein der Reise zu den beiden Völkern, sondern mit ihrer Hilfe auch der Reise zu ihrer eigenen Geschichte. In Selbstinszenierungen präsentieren sie sich während ihres Alltags, ihrer Feste, ihrer religiösen Riten." (Ulrike Ottinger) (4. & 11.11.) EXIL SHANGHAI (1997) berichtet von Lebensläufen deutscher, österreichischer und russischer Juden, die sich im gemeinsamen Fluchtpunkt Shanghai kreuzen. Aus Erzählungen, Fotos, Dokumenten und neuen Bildern aus der größten und widersprüchlichsten Metropole des Fernen Ostens wird ein Ganzes, in dem das historische Exil aktuelle Brisanz gewinnt. "EXIL SHANGHAI berichtet von einer gegenwärtigen Abwesenheit, die zarte Spuren hinterlassen hat – die der Juden in Shanghai. Fragment einer Stadtgeschichte, über die sich sowohldie chinesische Geschichtsschreibung als auch die der Diaspora bislang ausgeschwiegen haben. (…)" (Veronika Rall) (18. & 24.11.) In DIE BETÖRUNG DER BLAUEN MATROSEN (1975) spielt Tabea Blumenschein "in wechselnden Erscheinungen und in fantastischen Kostümen vier verschiedene Rollen, die den Film strukturieren: eine mythische Gestalt, die auf Wüstensand mit Sirenengesang den Film durchzieht; einen Vogel, der getötet wird; ein Hawaiimädchen und einen Matrosen. Während die Sirene, von asiatischer Musik begleitet, die Wüste entlangschreitet, werden Matrosen und Vögel die Opfer der pervertierten Naturhaftigkeit in Gestalt des wilden Hawaiimädchens." (Claudia Hoff) Ottingers fast drei Jahrzehnte später entstandener Kurzfilm ESTER wird erzählt von György Konrád und aufgeführt von Immigranten aus den Ländern Mittel- und Süd-Ost-Europas. ESTER ist eine Parabel über den Mut, in einem anderen Land anzukommen, und ein lustiger Mummenschanz über das Glück im Unglück. (28.11. & 1.12.) Zum Monatswechsel feiern wir Veruschka in DORIAN GRAY IM SPIEGELDER BOULEVARDPRESSE (1983/84). Der Film entlarvt die verführende und verführerische Macht eines sublimierten Totalitarismus – die der Medien. Frau Dr. Mabuse, Chefin eines Pressekonzerns, erschafft sich mit dem androgynen Dorian Gray einen Menschen, der vollkommen von ihr abhängig ist. "Der Titel entspricht in der Komplexität seiner Bedeutung dem Film. Die naheliegende Assoziation ist die zu Dorian Gray, also die literarische; zum anderen der Narzissmus, das Dandytum, Fin de Siècle. Im Spiegel der Boulevardpresse – zu Prousts Zeiten bereits als Gesellschaftsnachrichten bekannt – hab' ich als Beispiel genommen, um über eine neue Form von Machtausübung etwas zu sagen im Film, über die spezifischen Möglichkeiten eines Medienkonzerns." (Ulrike Ottinger) (30.11. & 1.12.) Ulrike Ottinger – Ausstellung und Retrospektive. Noch bis zum 2.12. im Museum für Film und Fernsehen (www.deutsche-kinemathek.de - external-link-new-window "Opens external link in new window">www.deutsche-kinemathek.de) und im Kino Arsenal.