Einen Blick aus dem 21. Jahrhundert zurück auf den Mai 68 wirft Eugène Green in TOUTES LES NUITS (F 2001), einem Film von ganz eigener Art, den wir als Deutschlandpremiere zeigen. Er stellt die Mai-Ereignisse äußerst stilisiert mit nur einer Handvoll Demonstranten und zwei CRS-Polizisten dar – und lässt den Mai 68 dabei nicht ohne satrirische Spitzen davonkommen. TOUTES LES NUITS erzählt, inspiriert von einem Text von Flaubert, die Geschichte von zwei Freunden, Jules und Henri, die einander sehr nahe stehen, aber völlig verschieden sind. Sie sind gemeinsam aufgewachsen, doch ihre Lebenswege trennen sich: Ihr Liebesleben und ihre beruflichen Karrieren verlaufen sehr unterschiedlich. Verbunden bleiben sie jedoch durch ihren Briefwechsel – und durch eine Frau, Emilie, die lange die Frau des einen war und mit dem anderen eine innige Beziehung über Briefe unterhält. (2. & 5.7.) Sogar im Horror- und Splatterfilm schlug sich das politische und geistige Klima von 1968 nieder. Mit Bildern, die direkt aus den Fernsehnachrichten über den Vietnamkrieg und über die Rassenunruhen in den USA stammen könnten, lässt George A. Romero in NIGHT OF THE LIVING DEAD (Die Nacht der lebenden Toten, USA 1968) Tote wiederauferstehen und in einem apokalyptischen Szenario als Zombies über Amerika herfallen. Der Film handelt von einer Gruppe Menschen, die sich in einem Landhaus verschanzen müssen, das von Untoten belagert wird. Während dieser Nacht der Belagerung geht es einerseits um die tödlichen Streitereien und Machtkämpfe innerhalb des Hauses, und andererseits um das, was der Fernseher von der Außenwelt berichtet: Große Gruppen von bewaffneten Rednecks haben sich zu Jagdgesellschaften zusammengefunden, um Zombies abzuschießen. (1. & 7.7.) LOTTE IN ITALIA (Kämpfe in Italien, I/F 1969/70) wurde von der Groupe Dziga Vertov (Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin) für das italienische Fernsehen produziert, jedoch nicht ausgestrahlt. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die sich in der revolutionären Bewegung engagiert. Schrittweise enthüllt der Film in mehreren Kapiteln ("Die Wissenschaft", "Die Familie", "Die Gesundheit", "Der Charakter", "Die Sexualität") den Widerspruch zwischen ihrer militanten Tätigkeit und dem, was in ihrem Alltag an bürgerlicher Ideologie übrig bleibt. "Meines Erachtens artikuliert dieser Film am genauesten die Möglichkeiten der Dziga-Vertov-Gruppe, die – wie sie später im Zusammenhang mit TOUT VA BIEN (12. & 18.7.) ausführte – das System nie verlassen hat, nicht verlassen konnte. LOTTE IN ITALIA und PRAVDA sind die wichtigsten politischen Filme der Gruppe geblieben." (Martin Schaub) (3. & 9.7.) Eine ebensolche Rarität wie die Präsentation der Filme der Groupe Dziga Vertov ist die Aufführung von Marcel Hanouns L'ÉTÉ (Sommer, F 1968). Wir zeigen den zweiten Teil aus Hanouns Jahreszeitenzyklus als Deutschlandpremiere. Hanoun verbindet auf bewusst subjektive Weise Bilder von Pariser Graffiti des Mai 68 mit sommerlicher Landhausidyllik, Zeitungs- und Radiomeldungen des aktuellen Tagesgeschehens (Vietnam, Biafra, Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag) mit Gedichten von Hölderlin, Kleists Novelle "Michael Kohlhaas" sowie der Musik von Johann Sebastian Bach. (6. & 8.7.) Ausgangspunkt von VLADIMIR ET ROSA (F/USA/BRD 1970), dem letzten als Groupe Dziga Vertov gezeichneten Film von Godard und Gorin ist der Prozess der "Acht von Chicago", bei dem amerikanische Polit-Aktivisten wegen "Verschwörung zur Herbeiführung eines Aufruhrs" angeklagt waren. Sie nutzten den Gerichtssaal als Bühne, um ihre Ideen zu verbreiten, und verwandelten den Prozess in ein permanentes Theaterstück. "VLADIMIR ET ROSA ist der komischste aller Godard-Filme, auch wenn er in seiner militantesten Zeit gedreht wurde, um den Palästina-Film finanzieren zu können, den er später unter dem Titel ICI ET AILLEURS fertigstellen sollte. Es wirkt, als wenn der so lange bedrückende politische Diskurs, unterlegt von Pop-Musik, urplötzlich und unmäßig explodieren würde, als handele es sich um einen Film der Marx-Brothers oder um einen Zeichentrickfilm von Tex Avery." (Alain Bergala) (10. & 15.7.) In TEOREMA (I 1968) schildert Pier Paolo Pasolini den Einbruch des "Heiligen" in eine materialistisch-heillose Welt. Ein schweigsamer junger Mann kommt als geheimnisvoll angekündigter Besucher in eine Mailänder Industriellenfamilie. Er erfreut sich sofort der Sympathie des ganzen Hauses, zum ersten Mal kommt Liebe und Wärme in die Familie. Doch nachdem jeder die ersehnte (geschlechtliche) Vereinigung mit dem Unbekannten erfahren hat, verschwindet er wieder. Und jeder spricht zum Abschied von seiner Veränderung, erklärt, dass er sich zum ersten Mal seiner selbst bewusst geworden sei. Den Blick in die eigene Leere, den der schöne Fremde erst ermöglicht hat, kann keiner ertragen. Was bleibt, im Bewusstsein der eigenen – verzweifelten – Situation, ist Hilflosigkeit und Flucht. (11. & 13.7., aus rechtlichen Gründen nur für Mitglieder, die Mitgliedschaft kann an der Abendkasse erworben werden) TOUT VA BIEN (F/I 1972) markiert Godards vorübergehende Rückkehr (die einzige zwischen 1968 und 1979) zu einer "kommerziellen" Produktion: gedreht auf 35mm, mit beträchtlichem Budget, Studioaufnahmen, zwei Stars in den Hauptrollen und einer Verleihgarantie von Gaumont. Jacques (Yves Montand), Filmemacher zur Zeit der Nouvelle Vague, sympathisiert zwar mit den Kommunisten, doch die Ereignisse vom Mai 68 und des Prager Frühlings erschüttern ihn. Er findet, dass es ehrlicher sei, Werbefilme zu machen, als weiterhin das, was er Ästheten-Kino nennt. Seine Freundin Susan (Jane Fonda) ist Korrespondentin einer US-amerikanischen Radiostation in Paris. Jacques und Susan verkörpern das intellektuelle Kleinbürgertum, und sie verkörpern eine Funktion im Produktionszusammenhang: die Medien. Er bearbeitet oder verwaltet eher die Bilder, sie die Töne. Ihre private Geschichte spiegelt die Problematik der Medien. "TOUT VA BIEN ist die Reinschrift aller Überlegungen und Erkenntnisse, die Godard und Gorin von 1968 bis 1972 gewonnen hatten." (Martin Schaub) (12. & 18.7.) Dass gesellschaftlich und filmisch etwas im Umbruch war, sieht man Ula Stöckls erstem Spielfilm NEUN LEBEN HAT DIE KATZE (BRD 1968) an. Sie erzählt darin mit entschiedenem Stilwillen "in einer lockeren, flirtenden, streunenden Erzählweise von verschiedenen Frauen, einer deutschen Journalistin, ihrer französischen Freundin, außerdem von einer deutschen Schlagersängerin, von ihren alltäglichen Erfahrungen, ihren Sehnsüchten, ihren sexuellen Aktionen und Fantasien." (Erika Richter) Und von den Schwierigkeiten, eine Veränderung ihrer Situation zu verwirklichen. Wie sollen die neu gewonnenen Freiheiten genutzt, wie ein selbstbestimmtes Leben geführt werden? Ula Stöckl: "Nie hatten Frauen so viele Möglichkeiten, ihr Leben so einzurichten, wie sie es wollen. Aber jetzt müssen sie überhaupt erst lernen, dass sie etwas wollen können." (14.7.) Welches ist die Rolle des Intellektuellen in der Revolution? Diese Frage war 1968 zentral. LETTER TO JANE: AN INVESTIGATION ABOUT A STILL (Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin, F 1972) kommentiert, hinterfragt und analysiert ein Bild von Jane Fonda, die nach Hanoi gereist war, um sich persönlich einen Eindruck von den Auswirkungen des Vietnam-Krieges zu verschaffen, und seine Legende (im doppelten Sinn des Wortes). Außerdem werden Bilder aus Filmgeschichte und Weltgeschehen dem berühmten Foto von Jane Fonda gegenübergestellt. "LETTER TO JANE ist eine neue Reflexion über die Interaktionen von Bild zu Bild, von Bild und Ton (seit dem Tonfilm), von Ausschnitt (Einstellung), Schärfe usf. Es scheint sich geradezu um eine Zusammenfassung aller Bemühungen Godards und Gorins um ein richtiges Bild zu handeln und um die Demonstration der eminenten Schwierigkeiten, jetzt, da alle Bilder ihre Unschuld verloren haben." (Martin Schaub) (16. & 23.7.) Die Arbeit mit Bildern über Bilder, die bereits LETTER TO JANE prägt, wird zum zentralen, konstitutiven Element in ICI ET AILLEURS (Hier und anderswo, F 1974), der Material eines unvollendet gebliebenen Films der Groupe Dziga Vertov (den 1970 in Palästina gedrehten "Jusqu'à la victoire") integriert. Vier Jahre später nahm sich Godard zusammen mit Anne-Marie Miéville das dokumentarische Material noch einmal vor und brachte es in die Form einer Analyse sowie einer Selbstkritik der 1970 geleisteten Arbeit, einer Kritik auch des Prinzips, Geschichte zu filmen, um zu informieren. "'Hier' ist also eine französische Familie, die vor dem Fernseher sitzt, die ihre eigenen Probleme hat (Arbeitslosigkeit, Paarbeziehungen, Familie); und 'dort' sind Bilder der palästinensischen Revolution, die von fern kommen. Aber zwischen diesen beiden Realitäten, deren eine so wichtig ist wie die andere, zwischen diesem 'hier' und 'anderswo' steht ein kleines Wort, ein Zeichen, eine Verbindung von kapitaler Bedeutung: UND. Godards Methode, seine Reflexion, besteht wesentlich in diesem Schlüsselwort, das zugleich eine Annäherung und eine Opposition herstellt, eine Gegenüberstellung und eine Konfrontation zwischen Begriffen, die objektiv und physisch voneinander entfernt, unterschiedlich sind." (Guy Braucourt) (19. & 24.7.) Ein Rückblick auf den Mai 68, jenseits von Parolen, großer Politik und Straßenkampf ist Jacques Doillons LES DOIGTS DANS LA TÊTE (Die Finger im Kopf, F 1974). Nachdem der Bäckerlehrling Chris gefeuert wurde, weil er zu spät zur Arbeit kam, soll er sein Zimmer räumen. Doch stattdessen verbarrikadiert er sich mit seinem Freund Léon, der schüchternen Rosette und der forschen schwedischen Tramperin Liv, in die er sich verliebt hat, in seiner Mansarde und verlangt Lohnnachzahlungen. Die vier jungen Leute entziehen sich der Arbeit und dem Alltag, improvisieren auf engem Raum ein Kommunenleben und sprechen über ihre Wünsche, Träume und Ängste. (17.7.) Als Plädoyer für die rebellierende Jugend und für eine neue Filmsprache lässt sich Vera Chytilovás bunter, kühn experimentierender, politischer und avantgardistischer SEDMIKRÁSKY (Tausendschönchen, CSSR 1966/67) begreifen, der im Vorfeld des Prager Frühlings entstand. Den Plot des "Konsumfilms", der kein Märchen sein will, könnte man mit Alf Brustellins Worten so umreißen: "Maria I und Maria II verstören am Beginn ihrer gefräßigen Karriere als verdorbene Geschöpfe in einer verdorbenen Welt ein paar ältere Männerherzen, am Ende eine pompöse Tafel, latschen über Gebratenes, durch Mayonnaisen und Salate und turnen im Kronleuchter, bis alles in Scherben fällt." Fröhliche Anarchie einerseits – wie ernst es Chytilová mit dem Spiel als Ausdruck sinnentleerter Existenz ist, zeigt jedoch die Explosion einer Bombe am Ende des Films und seine Widmung all denjenigen, die sich über zertretenen Salat in ihrem Garten aufregen. (20. & 22.7.) Mit einer Explosion endet auch SAUTE MA VILLE (Belgien 1968) von Chantal Akerman – und auch hier wird absichtlich Unordnung gestiftet. In diesem stürmischen, komischen Film voller Energie ist sie selbst als junge Frau zu sehen, die singend in eine kleine Wohnug zurückkehrt, sich in der Küche einschließt und kocht, Schuhe putzt und aufräumt, allerdings so, dass das Saubere schmutzig wird, das Wasser alles überschwemmt und die Flamme des Gasherds eine Explosion zur Folge hat. Der Hausfrauenalltag wird in die Luft gesprengt. Putzen, kochen, essen, Selbstmord – ein Film wie ein Amoklauf. (20. & 22.7.) Bob Rafelsons Debütfilm HEAD (USA 1968) ist ein weitgehend unbekannt gebliebener Höhepunkt des Musikfilmgenres der 60er Jahre. Zu einem Zeitpunkt, als sich die Popgruppe The Monkees auf dem Gipfel ihres Erfolgs befand, nahmen sich die Autoren Bob Rafelson und Jack Nicholson die Freiheit, auf jegliche logischen, räumlichen oder zeitlichen Beschränkungen der Handlung zu verzichten. HEAD verbindet Auftritte der Band mit Ausschnitten aus alten Hollywood-Filmen, Szenen aus dem Wilden Westen, Tausendundeiner Nacht oder dem Vietnam-Krieg. Der Film ist sowohl eine Parodie auf Richard Lesters Beatles-Filme, selbstironische Reflexion über den Starkult, das Kino, und nicht zuletzt ein Farbrausch aus der Psychedelic-Ära der Jahre 1967/68. (25. & 30.7.) Jean Eustache konstatiert in LA MAMAN ET LA PUTAIN (Die Mama und die Hure, F 1972/73) melancholisch, was fünf Jahre nach dem Mai 68 von der Aufbruchstimmung geblieben war: Alexandre (Jean-Pierre Léaud), ein junger Mann, der keinem Beruf nachgeht, lebt mit Marie (Bernadette Lafont) zusammen, kann jedoch seine frühere Geliebte nicht vergessen und versucht, sie durch einen Heiratsantrag zurückzugewinnen. Kurz darauf lernt er Véronika kennen und lässt sich auf ein Dreiecksverhältnis ein, das in einen Selbstmordversuch Maries mündet. Als Véronika ihm mitteilt, dass sie vielleicht schwanger sei, macht ihr Alexandre einen Heiratsantrag. "Der Film zieht die Summe aus den Hoffnungen einer Generation. Und das Ergebnis fällt erschütternd negativ aus. Die Absage an die ungebundene Sexualität, die Rückkehr in eine Ehe und auch die Sehnsucht nach einem Kind signalisieren das Einmünden in eine Bürgerlichkeit, der einst gerade der ganze Protest dieser Generation gegolten hatte." (Wilfried Wiegand) (26. & 31.7.) Ein präzises gesellschaftliches BRD-Stimmungsbild in dokumentarischer Form ist Peter Fleischmanns HERBST DER GAMMLER (BRD 1967). Ohne Kommentar lässt er jugendliche "Gammler" (so der damalige Sprachgebrauch) in München zu Wort kommen, fragt nach ihren Motiven und konfrontiert dieses neue Phänomen, sozusagen die damalige alternative Jugendkultur, mit "Volkes Stimme" auf der Straße. Die Reaktionen der älteren Generation auf die "Gammler" und ihren Wunsch nach Ausbruch – und sei es nur auf Zeit – sind verständnislos, verächtlich, voller Hass. Es geht um lange Haare, Hygiene, Sitte und Anstand, Arbeitsverweigerung: „"Wenn deutsche Gammler arbeiteten, wären wir die Gastarbeiter los", heißt ein Argument. Das deutsche Kleinbürgertum redet außerdem von Hitler, Ausweisen, Einsperren, Arbeitslager. (27.7.) Der Jagd nach Geld und Erfolg verweigert sich auch der Protagonist in dem ebenfalls in München angesiedelten ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN (BRD 1967/68), Langfilmdebüt der Regisseurin May Spils und erster Kassenerfolg des Neuen Deutschen Films. Der Film schildert einen Tag im Leben des 25-jährigen Martin, der seine Zeit bevorzugt im Bett verbringt, Daumenkinos zeichnet und gelegentlich Schlagertexte verfasst. "Wie unbewusst politisch das Lebensgefühl war, konnte erst im Rückblick klar werden. 1968 mag es noch komisch gewirkt haben, dass sich der Held permanent über die Polizei lustig macht. Beim Verhör im Revier liegt aber schon die Studentenrevolte in der Luft. Am Ende wird Martin, der Schlaffi, Hänger und Gammler, einen Polizisten provozieren, der ihn anschießt. Drei Jahre vor der RAF entstanden, nahm ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN bereits Deutschlands politische Befindlichkeiten vorweg." (Katja Nicodemus) (28. & 29.7.) (Birgit Kohler, Hans-Joachim Fetzer) Die ausführliche Programmbroschüre "1968//2008" ist an der Kasse erhältlich. Ein großes Dankeschön geht an alle, die uns bei der Recherche und in Gesprächen mit ihren Kenntnissen behilflich waren. "1968//2008" wird gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds. Mit freundlicher Unterstützung der Botschaften von Frankreich, Italien und Schweden.