Die Bilder, die er für seine hintergründigen Reflexionen über Isolation und Entfremdung, aber auch Wahrnehmung und Identität entwickelt, sind von nachdrücklicher visueller Schönheit. Im Moment ihrer höchsten visuellen Dichte zwingen sie die Handlung dabei nicht selten zum Stillstand: der Augenblick dominiert den Handlungsverlauf, die Bildkomposition dominiert die Montage. Immer wieder dominieren auch die unbelebten Dinge – Häuser, Fabriken, Straßenzüge – die Charaktere der Filme, die sich in ihrer Umwelt aufzulösen, in ihr zu verschwinden scheinen. Trotz ihres unbestritten großen Stellenwerts innerhalb der Filmgeschichte sind die Filme des Regisseurs, Zeichners und Autors Antonioni mit wenigen Ausnahmen nur sehr selten im Kino zu sehen. So bietet die umfangreiche Retrospektive der Filme von Antonioni, die wir mit Hilfe des Italienischen Kulturinstituts in Berlin vom 4. Dezember bis zum 5. Januar 2010 im Arsenal veranstalten können, eine einmalige Gelegenheit, das Œuvre des Regisseurs auf der großen Leinwand nachvollziehen zu können. Besonders hinweisen möchten wir auf vier Einführungen innerhalb der Retrospektive: Es sprechen Ulrich Gregor über die Rezeption der Filme von Antonioni in Deutschland in den 50er und 60er Jahren (4.12.), Matthias Müller über den Einfluss von Antonionis L'ECLISSE auf seinen Film MIRROR (Co-Regie: Christoph Girardet, 6.12.), Claudia Lenssen über den Film IL GRIDO (12.12.) und Daniel Illger über Antonionis Stadtinszenierung in L'ECLISSE. (17.12.) Wir eröffnen die Retrospektive mit dem ersten Teil seiner sog. italienischen Trilogie L'AVVENTURA (Die mit der Liebe spielen / Das Abenteuer, I 1960, 4.12., Einführung: Ulrich Gregor & 15.12. – restaurierte Fassung) Ein Schlüsselwerk der filmischen Moderne kündet kompromisslos vom Umbruch des Kinos: Bei einer Kreuzfahrt verschwindet eine junge Frau. Die Suche nach ihr bleibt erfolglos. Wenig später beginnt ihr Freund eine Beziehung mit der besten Freundin der Verschollenen. Die Story tritt hinter Antonionis intensive Beobachtungen einer Gruppe von Menschen zurück, die er zwischen imposanten Bauten und Monumenten ansiedelt.
LA NOTTE (Die Nacht, I 1961, 5. & 18.12.) Ein Tag im Leben eines Ehepaars, gespielt von Jeanne Moreau und Marcello Mastroianni. Zwi-schen dem Besuch eines todkranken Freundes im Krankenhaus, der im Verlauf des Films stirbt, und der Party eines Großindustriellen in Mailand verlaufen 24 Stunden der sukzessiven Auflösung einer Beziehung. Ohne jeglichen dramatischen Effekt, dafür mit gestochen scharfen, klaren Schwarzweiß-Einstellungen entwirft Antonioni eine Geometrie der Einsamkeit. 1961 ausgezeichnet mit dem Goldenen Bären der Berlinale. In zwei Programmen präsentieren wir die Kurzfilme Michelangelo Antonionis. Programm 1 (5. & 10.12.) vereint sieben Filme, die in der Zeit vor 1950 und seinem abendfüllenden Spielfilmdebüt CRONACA DI UN AMORE entstanden. Am Anfang des Programms stehen die beiden teilweise noch vom Neorealismus geprägten Kurzdokumentarfilme GENTE DEL PO (People of the Po Valley, 1943–47) über die Bevölkerung der Po-Ebene und N.U. (NETTEZZA URBANA, 1948), ein Porträt der römischen Straßenkehrer. In L'AMOROSA MENZOGNA (Lies of Love, 1949) widmet sich Antonioni ironisch, aber voller Sympathie, der Welt der Fotoromane. Unvollendet geblieben ist SUPERSTIZIONE (Superstitions, 1949), ein vorsichtig distanzierter Blick auf den italienischen Aberglauben. Drei Filme über Unbelebtes: Maschinen und Stoffe einer Seidenfabrik stehen im Mittelpunkt von SETTE CANNE, UN VESTITO (Sieben Spulen, ein Anzug; 1949). LA VILLA DEI MOSTRI (The Villa of Monsters, 1950) besteht aus einer Kamerafahrt durch einen Skulpturenpark und in LA FUNIVIA DEL FALORIA / VERTIGINE (1950) steigt Antonioni auf das Dach einer Drahtseilbahn – ein Versuch über das Schwindelgefühl.
L'ECLISSE (Sonnenfinsternis / Liebe 1962, I 1962, 6.12.: zu Gast Matthias Müller & 17.12.: Einführung Daniel Illger) Abschluss der italienischen Trilogie (bestehend aus L'AVVENTURA, LA NOTTE und L'ECLISSE). Am Anfang steht eine Trennung. Vittorias neue Beziehung zum jungen Börsenmakler Piero steht aufgrund von Kommunikationsunfähigkeit und fehlender Beziehungsbereitschaft unter einem schlechten Stern. In zwingender Konsequenz entwickelt sich aus der Auflösung sozialer Bindungen das Verschwinden der Protagonisten. "Der Schluss von L'ECLISSE lässt nichts zurück als die Zeit, die uns von der Leinwand entgegenstarrt." (Martin Scorsese) Der Schluss des Films inspirierte Matthias Müller und Christoph Girardet zu ihrem gemeinsamen Film MIRROR (2003), den wir als Vorfilm zeigen und der durch sein 35-mm-CinemaScope-Format das Kino selbst in Szene setzt.
CRONACA DI UN AMORE (Chronik einer Liebe, I 1950, 7. & 11.12.) Antonionis Langfilmdebüt ist auch eine "Chronik des Verschwindens" der klassischen Erzählstruktur, über deren Grundregeln sich Antonioni hinwegsetzt. Kunstvoll verschachtelte unterschiedliche Zeit- und Bewusstseinsebenen kreisen um die verheiratete Paola und ihren Jugendfreund Guido, die sich im Verlauf von Ermittlungen um einen Todesfall wieder näher kommen. Als Paolos Ehemann dem neuen Glück im Weg steht, schmiedet das Paar kriminelle Pläne. Als Vorfilm läuft N.U. (NETTEZZA URBANA, I 1948) über Roms Straßenkehrer, an dessen Ende bereits ein typisches Antonioni-Bild steht: Inmitten einer Komposition aus tristen Gebäudekomplexen, verwahrlosten Grundstücken und Fahnenmasten überquert ein einzelner Straßenkehrer einen öden Platz.
I VINTI (Die Besiegten / Kinder unserer Zeit, I 1952, 8. & 16.12.) Drei stilistisch unterschiedliche Episoden über Jugendliche / junge Erwachsene, die in Rom, Paris und London sinnlos-absurde Morde verüben. Ein italienischer Bürgersohn wird beim Schmuggeln von einem Brückenwärter erwischt, den er daraufhin erschießt, französische Schüler ermorden einen ihrer Klassenkameraden, ein englischer Autor tötet aus Geltungssucht. Mit großer Distanz zu seinen Protagonisten schildert Antonioni die Morde als Symptome eines allgemeinen Wert- und Sinnverlustes nach dem 2. Weltkrieg.
LA SIGNORA SENZA CAMELIE (Die Dame ohne Kamelien / Die große Rolle, I 1953, 9. & 13.12.) Eine Stoffverkäuferin wird am Ladentisch für den Film entdeckt und verliert sich als Ehefrau eines Produzenten und mangels künstlerischer Begabung als erfolglose Schauspielerin in den Mühlen der Filmindustrie wie in den Stoffen, aus denen die Träume sind. "Lucia Bosès undurchdringliches Antlitz in der Schlusseinstellung ist die Quintessenz von Antonionis schneidend exaktem, satirischen, abwechselnd melodramatischen wie distanziertem Blick aufs (italienische) Filmgeschäft. Er erzählt, auch formal, vom Schachern mit nicht gegeneinander abzuwägenden Werten: Geld gegen Gefühle, Ehrlichkeit gegen Erfolgsbilanz, die Wirklichkeit gegen ihr Wunschbild." (Christoph Huber)
LE AMICHE (Die Freundinnen, I 1955, 10. & 14.12.) Basierend auf Cesare Paveses Roman Tra donne sole / Einsame Frauen führt Antonioni in seinem dritten Film acht quasi gleichberechtigte Hauptpersonen zusammen. Das Gruppenbild setzt sich wie eine Art Puzzle aus einzelnen Teilen, Handlungssträngen und unterschiedlichen Perspektiven zusammen. Acht Freundinnen der gehobenen Gesellschaft Turins leben in einem Spannungsfeld von Melancholie, Untätigkeit und Langeweile – selbst der Selbstmordversuch einer der Freundinnen befördert nur wenig Mitgefühl oder Trost. Erdrückend präzise Bilder einer schönen, doch trostlosen Welt im goldenen Käfig zeugen von einer menschlichen Eiszeit. Als Vorfilm läuft TENTATO SUICIDIO (Selbstmordversuch, I 1953), Antonionis Episode für den Episodenfilm L'amore in città.
IL GRIDO (Der Schrei, I 1957, 12.12., Einführung: Claudia Lenssen & 13.12.) Ungewöhnlich für Antonioni spielt IL GRIDO unter Arbeitern, Seeleuten, Mittellosen. Auch hier herrschen äußere Leere und innere Entfremdung, befinden sich die Protagonisten in Grenzsituationen. Der von seiner Frau zurückgewiesene Fabrikarbeiter Aldo begibt sich mit seiner kleinen Tochter auf eine Wanderung durch die winterlich-öden Landschaften des Po-Deltas. Im Zuge seiner Odyssee begegnet er drei Frauen. Jedes der kurzen, glücklosen Zusammentreffen manifestiert Aldos Unfähigkeit, aus seiner Position des existentiellen Drifters auszubrechen. IL GRIDO greift Motive aus Antonionis frühem Dokumentarfilm GENTE DEL PO (I 1943) auf, den wir als Vorfilm zeigen. Bereits hier setzt Antonioni die Flusslandschaft des Pos in organische Beziehung zum Menschen.
IL DESERTO ROSSO (Die rote Wüste, I 1964, 19. & 25.12.) Antonionis meisterliches Farbfilmdebüt. Eine komplexe Farbdramaturgie, gebrochenes Licht und vor allem die intensiven Rottöne bilden die farbliche Textur für diesen Film über Wahrnehmungsverschiebungen und Realitätsverlust. Die an ihrer lieblosen Ehe verzweifelnde Giuliana findet nach einem Selbstmordversuch und Krankenhausaufenthalt nicht wieder in ihr alltägliches Leben zurück. Der Umgebung, wie sie sie wahrnimmt, wurde jegliches Leben ausgetrieben. Sie besteht aus kalten Innenräumen bzw. zerstörten / zerstörenden Industrieanlagen. Ihre Eindrücke verwandeln sich in apokalyptische Visionen des Verfalls.
BLOW UP (I/GB 1966, 20. & 23.12.) Antonionis erster außerhalb von Italien entstandener Film, Gewinner der Goldenen Palme von Cannes und großer kommerzieller Erfolg: Mitte der 60er Jahre im Swinging London glaubt der junge Modefotograf Thomas auf den Bildern, die er in einem Park aufgenommen hat, eine Leiche zu entdecken. Je gröber die Körnung der zu Beweiszwecken vergrößerten Fotos, desto stärker verflüchtigt sich der erhoffte Existenz- und Erkenntnisgewinn. Eingebettet in das Porträt der in jeder Hinsicht freizügigen Beat-Generation entwickelt sich Antonionis Reflexion über die Beziehung von Schuld und Sehen, Öffentlichem und Privatem, Fotografie und Film, Realität und Abbild.
ZABRISKIE POINT (USA 1970, 21.12. & 1.1.) Der Blick eines Außenstehenden auf ein Amerika zwischen Studentenunruhen und dem Mythos eines Wunderlandes der unbegrenzten Möglichkeiten. Antonionis erste und einzige amerikanische Produktion wird für MGM zum Studio-Alptraum und Rezeptions-Desaster. Die Flucht eines junges Paares durch den Südwesten der USA und die zivilisationsferne Wüstenlandschaft des Death Valley endet in Tod und Zerstörung. Atemberaubend das apokalyptische Finale zur Musik von Pink Floyd, in dem Antonioni eine Luxusvilla in Zeitlupe zerbersten lässt.
PROFESSIONE: REPORTER (Beruf Reporter, I 1975, 22. & 28.12.) Der amerikanische Verleihtitel lautet treffend "The Passenger". Der Reisende ist Jack Nicholson, der in der afrikanischen Wüste die Identität eines Toten angenommen hat. Dessen "Leben" treibt ihn auf verschlungenen Bahnen durch Europa einem fatalen Ende entgegen. Dem Anschein nach ein Thriller, erzählt der Film von der Macht der Erinnerungen, der Vergangenheit, der Bilder. "An einem Ende des Spektrums steht das bestürzend unmittelbare Dokument einer Hinrichtung, das unerwartet die Erzählung infiltriert, um schließlich als Film-im-Film enttarnt, gerade noch gebannt zu werden. Und am anderen Ende die utopische Fahrt durch die Baumallee, wo sich die Kamera mit Maria Schneider, dann über sie hinausschwebend im Rausch der Bewegung verliert. Zwischen diesen Antipoden von Fakten und Fiktion, von Leben und Tod liegt ein Mäander namens PROFESSIONE: REPORTER, Antonionis Meisterwerk." (Christoph Huber)
IL MISTERO DI OBERWALD (Das Geheimnis von Oberwald, I 198, 26. & 29.12.) In der Adaption von Jean Cocteaus Stück L'Aigle à deux têtes (Der Doppeladler; Antonionis einzige Verfilmung eines Theaterstücks) prallen Stummfilmvirage auf frühe Videotechnik-Experimente wie die Protagonisten des Films aufeinander: die regierungsmüde Königin von Habsburg und ihr vermeintlicher Attentäter. Er verliebt sich in sein eigentliches Opfer, sie lässt sich durch ihn für die Staatsgeschäfte und Reformen begeistern. Zwischen Kitsch und Camp oszillierend bewegt sich der Film unaufhaltsam auf ein tragisches Ende zu. Die unausgereifte Technik und die knappen Zeitpläne der auftraggebenden Fernsehanstalt setzten Antonionis ästhetischem Experimentierdrang enge Grenzen.
CHUNG KUO CINA (Antonionis China, I 1972, 27. & 30.12.) "Ich bin nicht nach China gegangen, um es zu erklären", schrieb Antonioni später, "sondern um es zu sehen." Auf Einladung Chinas und im Auftrag des italienischen Fernsehens reiste Antonioni sechs Jahre nach Beginn der Kulturrevolution in das Reich der Mitte. Ausgangspunkt war Beijing, um in der Folge immer tiefer in die Peripherie des Landes vorzudringen: Beobachtungen von Menschen, ihrer Gesichter, Gesten und Gewohnheiten, Lebens- und Arbeitsbedingungen. Antonionis vorsichtig tastender, dokumentarischer Blick missfiel der chinesischen Regierung, die sich nach Fertigstellung des Films von ihm distanzierte.
Kurzfilmprogramm Nr. 2 (29.12. & 3.1.): Eine Auseinandersetzung mit seinen frühen Arbeiten steht im Mittelpunkt von RITORNO A LISCA BIANCA (Rückkehr nach Lisca Bianca, I 1983). 23 Jahre nach L'AVVENTURA kehrt Antonioni an einige der ehemaligen Drehorte des Films zurück und hält dies in einem Kurzdokumentarfilm fest. Wie ein dokumentarisches Echo auf Motive seiner früheren Arbeiten erscheinen die Aufnahmen des indischen religiösen Festivals Kumbh Mela in Indien, die Antonioni 1989 für INDIA-KUMBHA MELA drehte. Im Wasser stehende Betende werden eins mit der Landschaft, verschwinden in ihr und tauchen wieder auf – es entstehen Bilder größter Abstraktion und Schönheit. NOTO, MANDORLI, VULCANO, STROMBOLI, CARNEVALE (I 1992; Regie und Konzept: Michelangelo und Enrica Antonioni) zeigt spektakuläre Luftaufnahmen der sizilianischen Vulkanlandschaften. Das filmische Porträt der italienischen Hauptstadt ROMA 90 (1990) war Teil einer Serie von Filmen, die anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft in Italien 1990 die einzelnen Spielorte vorstellen sollten. Antonionis vorletzter Film SICILIA (1997): eine stumme Meditation über fünf sizilianische Landschaften.
LA NOTTE (Die Nacht, I 1961, 5. & 18.12.) Ein Tag im Leben eines Ehepaars, gespielt von Jeanne Moreau und Marcello Mastroianni. Zwi-schen dem Besuch eines todkranken Freundes im Krankenhaus, der im Verlauf des Films stirbt, und der Party eines Großindustriellen in Mailand verlaufen 24 Stunden der sukzessiven Auflösung einer Beziehung. Ohne jeglichen dramatischen Effekt, dafür mit gestochen scharfen, klaren Schwarzweiß-Einstellungen entwirft Antonioni eine Geometrie der Einsamkeit. 1961 ausgezeichnet mit dem Goldenen Bären der Berlinale. In zwei Programmen präsentieren wir die Kurzfilme Michelangelo Antonionis. Programm 1 (5. & 10.12.) vereint sieben Filme, die in der Zeit vor 1950 und seinem abendfüllenden Spielfilmdebüt CRONACA DI UN AMORE entstanden. Am Anfang des Programms stehen die beiden teilweise noch vom Neorealismus geprägten Kurzdokumentarfilme GENTE DEL PO (People of the Po Valley, 1943–47) über die Bevölkerung der Po-Ebene und N.U. (NETTEZZA URBANA, 1948), ein Porträt der römischen Straßenkehrer. In L'AMOROSA MENZOGNA (Lies of Love, 1949) widmet sich Antonioni ironisch, aber voller Sympathie, der Welt der Fotoromane. Unvollendet geblieben ist SUPERSTIZIONE (Superstitions, 1949), ein vorsichtig distanzierter Blick auf den italienischen Aberglauben. Drei Filme über Unbelebtes: Maschinen und Stoffe einer Seidenfabrik stehen im Mittelpunkt von SETTE CANNE, UN VESTITO (Sieben Spulen, ein Anzug; 1949). LA VILLA DEI MOSTRI (The Villa of Monsters, 1950) besteht aus einer Kamerafahrt durch einen Skulpturenpark und in LA FUNIVIA DEL FALORIA / VERTIGINE (1950) steigt Antonioni auf das Dach einer Drahtseilbahn – ein Versuch über das Schwindelgefühl.
L'ECLISSE (Sonnenfinsternis / Liebe 1962, I 1962, 6.12.: zu Gast Matthias Müller & 17.12.: Einführung Daniel Illger) Abschluss der italienischen Trilogie (bestehend aus L'AVVENTURA, LA NOTTE und L'ECLISSE). Am Anfang steht eine Trennung. Vittorias neue Beziehung zum jungen Börsenmakler Piero steht aufgrund von Kommunikationsunfähigkeit und fehlender Beziehungsbereitschaft unter einem schlechten Stern. In zwingender Konsequenz entwickelt sich aus der Auflösung sozialer Bindungen das Verschwinden der Protagonisten. "Der Schluss von L'ECLISSE lässt nichts zurück als die Zeit, die uns von der Leinwand entgegenstarrt." (Martin Scorsese) Der Schluss des Films inspirierte Matthias Müller und Christoph Girardet zu ihrem gemeinsamen Film MIRROR (2003), den wir als Vorfilm zeigen und der durch sein 35-mm-CinemaScope-Format das Kino selbst in Szene setzt.
CRONACA DI UN AMORE (Chronik einer Liebe, I 1950, 7. & 11.12.) Antonionis Langfilmdebüt ist auch eine "Chronik des Verschwindens" der klassischen Erzählstruktur, über deren Grundregeln sich Antonioni hinwegsetzt. Kunstvoll verschachtelte unterschiedliche Zeit- und Bewusstseinsebenen kreisen um die verheiratete Paola und ihren Jugendfreund Guido, die sich im Verlauf von Ermittlungen um einen Todesfall wieder näher kommen. Als Paolos Ehemann dem neuen Glück im Weg steht, schmiedet das Paar kriminelle Pläne. Als Vorfilm läuft N.U. (NETTEZZA URBANA, I 1948) über Roms Straßenkehrer, an dessen Ende bereits ein typisches Antonioni-Bild steht: Inmitten einer Komposition aus tristen Gebäudekomplexen, verwahrlosten Grundstücken und Fahnenmasten überquert ein einzelner Straßenkehrer einen öden Platz.
I VINTI (Die Besiegten / Kinder unserer Zeit, I 1952, 8. & 16.12.) Drei stilistisch unterschiedliche Episoden über Jugendliche / junge Erwachsene, die in Rom, Paris und London sinnlos-absurde Morde verüben. Ein italienischer Bürgersohn wird beim Schmuggeln von einem Brückenwärter erwischt, den er daraufhin erschießt, französische Schüler ermorden einen ihrer Klassenkameraden, ein englischer Autor tötet aus Geltungssucht. Mit großer Distanz zu seinen Protagonisten schildert Antonioni die Morde als Symptome eines allgemeinen Wert- und Sinnverlustes nach dem 2. Weltkrieg.
LA SIGNORA SENZA CAMELIE (Die Dame ohne Kamelien / Die große Rolle, I 1953, 9. & 13.12.) Eine Stoffverkäuferin wird am Ladentisch für den Film entdeckt und verliert sich als Ehefrau eines Produzenten und mangels künstlerischer Begabung als erfolglose Schauspielerin in den Mühlen der Filmindustrie wie in den Stoffen, aus denen die Träume sind. "Lucia Bosès undurchdringliches Antlitz in der Schlusseinstellung ist die Quintessenz von Antonionis schneidend exaktem, satirischen, abwechselnd melodramatischen wie distanziertem Blick aufs (italienische) Filmgeschäft. Er erzählt, auch formal, vom Schachern mit nicht gegeneinander abzuwägenden Werten: Geld gegen Gefühle, Ehrlichkeit gegen Erfolgsbilanz, die Wirklichkeit gegen ihr Wunschbild." (Christoph Huber)
LE AMICHE (Die Freundinnen, I 1955, 10. & 14.12.) Basierend auf Cesare Paveses Roman Tra donne sole / Einsame Frauen führt Antonioni in seinem dritten Film acht quasi gleichberechtigte Hauptpersonen zusammen. Das Gruppenbild setzt sich wie eine Art Puzzle aus einzelnen Teilen, Handlungssträngen und unterschiedlichen Perspektiven zusammen. Acht Freundinnen der gehobenen Gesellschaft Turins leben in einem Spannungsfeld von Melancholie, Untätigkeit und Langeweile – selbst der Selbstmordversuch einer der Freundinnen befördert nur wenig Mitgefühl oder Trost. Erdrückend präzise Bilder einer schönen, doch trostlosen Welt im goldenen Käfig zeugen von einer menschlichen Eiszeit. Als Vorfilm läuft TENTATO SUICIDIO (Selbstmordversuch, I 1953), Antonionis Episode für den Episodenfilm L'amore in città.
IL GRIDO (Der Schrei, I 1957, 12.12., Einführung: Claudia Lenssen & 13.12.) Ungewöhnlich für Antonioni spielt IL GRIDO unter Arbeitern, Seeleuten, Mittellosen. Auch hier herrschen äußere Leere und innere Entfremdung, befinden sich die Protagonisten in Grenzsituationen. Der von seiner Frau zurückgewiesene Fabrikarbeiter Aldo begibt sich mit seiner kleinen Tochter auf eine Wanderung durch die winterlich-öden Landschaften des Po-Deltas. Im Zuge seiner Odyssee begegnet er drei Frauen. Jedes der kurzen, glücklosen Zusammentreffen manifestiert Aldos Unfähigkeit, aus seiner Position des existentiellen Drifters auszubrechen. IL GRIDO greift Motive aus Antonionis frühem Dokumentarfilm GENTE DEL PO (I 1943) auf, den wir als Vorfilm zeigen. Bereits hier setzt Antonioni die Flusslandschaft des Pos in organische Beziehung zum Menschen.
IL DESERTO ROSSO (Die rote Wüste, I 1964, 19. & 25.12.) Antonionis meisterliches Farbfilmdebüt. Eine komplexe Farbdramaturgie, gebrochenes Licht und vor allem die intensiven Rottöne bilden die farbliche Textur für diesen Film über Wahrnehmungsverschiebungen und Realitätsverlust. Die an ihrer lieblosen Ehe verzweifelnde Giuliana findet nach einem Selbstmordversuch und Krankenhausaufenthalt nicht wieder in ihr alltägliches Leben zurück. Der Umgebung, wie sie sie wahrnimmt, wurde jegliches Leben ausgetrieben. Sie besteht aus kalten Innenräumen bzw. zerstörten / zerstörenden Industrieanlagen. Ihre Eindrücke verwandeln sich in apokalyptische Visionen des Verfalls.
BLOW UP (I/GB 1966, 20. & 23.12.) Antonionis erster außerhalb von Italien entstandener Film, Gewinner der Goldenen Palme von Cannes und großer kommerzieller Erfolg: Mitte der 60er Jahre im Swinging London glaubt der junge Modefotograf Thomas auf den Bildern, die er in einem Park aufgenommen hat, eine Leiche zu entdecken. Je gröber die Körnung der zu Beweiszwecken vergrößerten Fotos, desto stärker verflüchtigt sich der erhoffte Existenz- und Erkenntnisgewinn. Eingebettet in das Porträt der in jeder Hinsicht freizügigen Beat-Generation entwickelt sich Antonionis Reflexion über die Beziehung von Schuld und Sehen, Öffentlichem und Privatem, Fotografie und Film, Realität und Abbild.
ZABRISKIE POINT (USA 1970, 21.12. & 1.1.) Der Blick eines Außenstehenden auf ein Amerika zwischen Studentenunruhen und dem Mythos eines Wunderlandes der unbegrenzten Möglichkeiten. Antonionis erste und einzige amerikanische Produktion wird für MGM zum Studio-Alptraum und Rezeptions-Desaster. Die Flucht eines junges Paares durch den Südwesten der USA und die zivilisationsferne Wüstenlandschaft des Death Valley endet in Tod und Zerstörung. Atemberaubend das apokalyptische Finale zur Musik von Pink Floyd, in dem Antonioni eine Luxusvilla in Zeitlupe zerbersten lässt.
PROFESSIONE: REPORTER (Beruf Reporter, I 1975, 22. & 28.12.) Der amerikanische Verleihtitel lautet treffend "The Passenger". Der Reisende ist Jack Nicholson, der in der afrikanischen Wüste die Identität eines Toten angenommen hat. Dessen "Leben" treibt ihn auf verschlungenen Bahnen durch Europa einem fatalen Ende entgegen. Dem Anschein nach ein Thriller, erzählt der Film von der Macht der Erinnerungen, der Vergangenheit, der Bilder. "An einem Ende des Spektrums steht das bestürzend unmittelbare Dokument einer Hinrichtung, das unerwartet die Erzählung infiltriert, um schließlich als Film-im-Film enttarnt, gerade noch gebannt zu werden. Und am anderen Ende die utopische Fahrt durch die Baumallee, wo sich die Kamera mit Maria Schneider, dann über sie hinausschwebend im Rausch der Bewegung verliert. Zwischen diesen Antipoden von Fakten und Fiktion, von Leben und Tod liegt ein Mäander namens PROFESSIONE: REPORTER, Antonionis Meisterwerk." (Christoph Huber)
IL MISTERO DI OBERWALD (Das Geheimnis von Oberwald, I 198, 26. & 29.12.) In der Adaption von Jean Cocteaus Stück L'Aigle à deux têtes (Der Doppeladler; Antonionis einzige Verfilmung eines Theaterstücks) prallen Stummfilmvirage auf frühe Videotechnik-Experimente wie die Protagonisten des Films aufeinander: die regierungsmüde Königin von Habsburg und ihr vermeintlicher Attentäter. Er verliebt sich in sein eigentliches Opfer, sie lässt sich durch ihn für die Staatsgeschäfte und Reformen begeistern. Zwischen Kitsch und Camp oszillierend bewegt sich der Film unaufhaltsam auf ein tragisches Ende zu. Die unausgereifte Technik und die knappen Zeitpläne der auftraggebenden Fernsehanstalt setzten Antonionis ästhetischem Experimentierdrang enge Grenzen.
CHUNG KUO CINA (Antonionis China, I 1972, 27. & 30.12.) "Ich bin nicht nach China gegangen, um es zu erklären", schrieb Antonioni später, "sondern um es zu sehen." Auf Einladung Chinas und im Auftrag des italienischen Fernsehens reiste Antonioni sechs Jahre nach Beginn der Kulturrevolution in das Reich der Mitte. Ausgangspunkt war Beijing, um in der Folge immer tiefer in die Peripherie des Landes vorzudringen: Beobachtungen von Menschen, ihrer Gesichter, Gesten und Gewohnheiten, Lebens- und Arbeitsbedingungen. Antonionis vorsichtig tastender, dokumentarischer Blick missfiel der chinesischen Regierung, die sich nach Fertigstellung des Films von ihm distanzierte.
Kurzfilmprogramm Nr. 2 (29.12. & 3.1.): Eine Auseinandersetzung mit seinen frühen Arbeiten steht im Mittelpunkt von RITORNO A LISCA BIANCA (Rückkehr nach Lisca Bianca, I 1983). 23 Jahre nach L'AVVENTURA kehrt Antonioni an einige der ehemaligen Drehorte des Films zurück und hält dies in einem Kurzdokumentarfilm fest. Wie ein dokumentarisches Echo auf Motive seiner früheren Arbeiten erscheinen die Aufnahmen des indischen religiösen Festivals Kumbh Mela in Indien, die Antonioni 1989 für INDIA-KUMBHA MELA drehte. Im Wasser stehende Betende werden eins mit der Landschaft, verschwinden in ihr und tauchen wieder auf – es entstehen Bilder größter Abstraktion und Schönheit. NOTO, MANDORLI, VULCANO, STROMBOLI, CARNEVALE (I 1992; Regie und Konzept: Michelangelo und Enrica Antonioni) zeigt spektakuläre Luftaufnahmen der sizilianischen Vulkanlandschaften. Das filmische Porträt der italienischen Hauptstadt ROMA 90 (1990) war Teil einer Serie von Filmen, die anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft in Italien 1990 die einzelnen Spielorte vorstellen sollten. Antonionis vorletzter Film SICILIA (1997): eine stumme Meditation über fünf sizilianische Landschaften.