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In meist langen Einstellungen konzentriert sich Dwoskins Kamera insistierend auf Personen, meist Frauen, die den Blick suchend oder ihm ausweichend zurück werfen. Die Situationen erscheinen isoliert von der Umwelt und sind – auch im gegenseitigen Wechselspiel – Ausdruck eines Zustands der Einsamkeit auf beiden Seiten. Doch in keinem Moment ist das Verhältnis des Betrachters und des Objekts der Betrachtung dabei statisch, geht es doch um die Entstehung und Verschiebung von Machtverhältnissen. Dwoskin verleiht der Kamera eine eigene Biografie, eine (sexuelle) Identität, was uns das Medium Film auf eine verstörende Art und Weise nahe bringt. Andersherum sind autobiografische Filme bei Dwoskin stets Filme über Film. Dwoskin erkrankte im Alter von neun Jahren an Kinderlähmung – eine Information, die verstehen hilft, wie die Kamera zum Kommunikationsmedium, mehr noch, zu einem Organ in der Hand des Filmemachers werden konnte. Doch in der gegenseitigen Durchdringung von Subjekt, Objekt und ihrem – manchmal durch ein Zuviel an Nähe oder Distanz schmerzhaft spürbaren – Verhältnis zueinander, kommen die spezifischen Möglichkeiten des Kinos zu einer seltenen Entfaltung, die nicht eine idiosynkratische filmische Praxis, sondern Kino als Technik sozialer Verhältnisse betrifft. Aus diesem Grund wird es im Rahmen dieser Retrospektive zahlreiche Gespräche geben: Selbstverständlich mit dem Filmemacher selbst, aber auch mit seinen Berliner Darstellerinnen sowie der Schauspielerin Susanne Sachsse, die, ähnlich wie Cordua und Regnier, durch ihr Spiel und die Sprache ihres Körpers Autorenschaft übernimmt. Zudem haben wir Personen eingeladen, ihre ersten Gedanken nach dem Sehen eines Dwoskin-Films zu formulieren, allesamt FilmemacherInnen und KünstlerInnen, die durch arsenal distribution vertreten werden und deren Arbeit sich durch ein besonderes Verhältnis von Film/Video und Performance auszeichnet. Eingeladen wurden Tim Blue, Michael Brynntrup, Keren Cytter, Niklas Goldbach, Karo Goldt, Judith Hopf, Beate Rathke, Isabell Spengler, William Wheeler. Im Foyer ist während der Retrospektive die Arbeit PHONE PORTRAIT (2008) zu sehen, die sich die Intimität der Handykamera zu eigen macht. Im Roten Foyer zeigen wir eine Single Screen-Version der neuen Triple-Screen-Arbeit DREAM HOUSE. Und an fünf Tagen zeigen wir im Arsenal 2 bei freiem Eintritt den Erfolg des Forum expanded 2009: TRE PUCCINI, drei Puccini-Verfilmungen von Stephen Dwoskin, Christian Lebrat und Michael Snow (2008, 20 min, 11., 13., 15., 17. & 19.6.). In Erinnerung an Dwoskins Weggefährten Robert Kramer (1939–99) zeigen wir im Vorfeld dessen episches Roadmovie ROUTE ONE / USA (1989, 5., 7. & 9.6) sowie VIDEOLETTERS: ROBERT KRAMER AND STEPHEN DWOSKIN (1991, 6., 8. & 10.6.) "The video letters to Steve – that was great. I don’t remember how we started to do it. It was in the shadow of Berlin." Wir eröffnen das Programm am 11.6. (Wiederholung 15.6.) mit frühen Kurzfilmen: ASLEEP (USA 1961) zeigt die Füße einer Schlafenden, ALONE (USA 1963) beobachtet ein Mädchen, das in seinem Zimmer mit sich selbst allein ist und masturbiert. In MOMENT (GB 1968) schafft das Erfülltsein in der Einsamkeit eine verstörende Distanz zur Kamera und zum Betrachter. Mit diesen Filmen werden Machtverhältnisse eingeführt und sogleich in Frage gestellt. Eine nicht unwesentliche Rolle spielt dabei die Musik von Ron Geesin (Pink Floyd). DIRTY (1965/71) durchbricht das heterosexuelle Bezugssystem durch eine weitere Person. In TRIXI (GB 1970, mit Beatrice Cordua-Schönherr) weicht die Musik der Wiederholung ihres Namens, die Kamera wird gewaltvoller, die Machtposition zunehmend der Kamera/dem Betrachter zugewiesen. Im Anschluss an ein Gespräch mit Stephen Dwoskin und TRIXI zeigen wir CHINESE CHECKERS (USA 1964), der in die Geschichte des lesbischen Kinos einging: Zwei maskierte Frauen lieben sich beim Brettspiel.
Das Programm Autobiography (13.6.) beginnt mit Porträts zweier männlicher Protagonisten im Leben Dwoskins: Seines Vaters und seines Großvaters: DAD und GRANDPÈRE PEAR, ein Familien- und ein Künstlerporträt (beide GB 2003). TRYING TO KISS THE MOON (GB 1994) entstand aus den Ereignissen und Bildern einer Zeitspanne von 50 Jahren. Sie sind miteinander verwoben wie eine innere Landschaft, die ein Leben umfasst, direkt und indirekt sind sie alle mit dem Leben oder dem Film verbunden, durch persönliche Assoziation und wieder entdeckte Fragmente." (S.D.)
Performing for the Camera Eye ist die Überschrift eines Doppelprogramms mit anschließender Podiumsdiskussion (14.6.) In BEHINDERT (Hindered) (BRD 1973/74, 14.6. & 21.6.) erlebt der Zuschauer aus der Perspektive eines (geh-)behinderten Mannes die aufkeimende Beziehung zu einer Frau (Carola Regnier). In lang anhaltenden Großaufnahmen liest die Kamera geradezu in ihrem Gesicht, beobachtet sie jede ihrer Bewegungen, dringt sie gewaltsam-zärtlich in die individuelle Sphäre des Gegenübers ein. Mit wenigen Dialogszenen besitzt der Film ein hohes Maß an Unmittelbarkeit, das Gesicht von Carola Regnier erzählt grandios die Geschichte einer durch die Behinderung von Anbeginn gefährdeten Beziehung. Der Vorführung in Anwesenheit von Carola Regnier folgt ein Kurzfilmprogramm mit zwei Arbeiten der Berliner Videokünstler Christoph Chemin (BLUE ARRIVAL) und Keren Cytter (DER SPIEGEL). Beide haben 2007 mit der Schauspielerin und Performerin Susanne Sachsse gearbeitet. In DWOSKINS TAKE ME (1968) versucht eine junge Frau, die Kamera zu verführen. Seine NIGHTSHOTS (2007) arbeiten mit der Intimität der Dunkelheit. In einem anschließenden Panel diskutieren Susanne Sachsse, Beatrice Cordua und Carola Regnier ihr Verhältnis zur Kamera.
DYN AMO (GB 1972, 16.6. präsentiert von Marc Siegel & 20.6.) zeigt eine Serie von Striptease-Auftritten in einem herunter gekommenen Club, die bei jedem Mal fließender verlaufen. Die Spannung, unterstützt von Gavin Bryars' unwiderstehlicher Bass-Partitur, steigt, je weiter der Film sich dem heftigen Missbrauch der letzten Nummern der Show annähert. Das hypnotisierende und herausfordernde Werk bietet uns nichts zum Festhalten, während wir in diese Welt der Sexualität und persönlichen Konfrontation reisen.
TIMES FOR (GB 1971, 17.6., mit Einführung) ist, so Peter Gidal, "eine Studie des verletzlichen Selbst von vier Frauen (und einem Mann) nach den Anweisungen des Filmemachers. In diesem Sinne vertreten Warhol und Dwoskin entgegen gesetzte Pole. Warhol erlaubt den Personen, sie selbst zu sein (das beinhaltet sich selbst zu spielen, die eigenen Visionen, die eigenen Fantasien …). Dwoskin erlaubt, durch Suggestion, beim Filmen und durch den strengen Schnitt, seine eigene Vision durchscheinen zu lassen. Aber aufgrund der Entscheidungen, die er trifft, aufgrund seiner relativ offenen Art, zu filmen, aufgrund seines Vertrauens in poetische, intuitive Reize und aufgrund seiner Sensibilität für die, die er filmt, können seine eigenen Visionen der Subjekte seines Films und ihr wirkliches Selbst übereinstimmen.
In dem Dokumentarfilm PAIN IS … (F/D/GB 1997, 17. & 22.6.) fragt Dwoskin: "Ist es möglich, Schmerz abzubilden?" In Interviews, durch Archivmaterial, und vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse betrachtet er die Grenzen zwischen Leid und Sadomasochismus, Krankheit und Lust, und fragt, ob wir am menschlichsten sind, wenn wir Schmerzen empfinden. Der Film fragt auch, wie wir Schmerz erfahren, wenn wir glauben, ihn vor uns zu sehen." (BFI)
Die Videoarbeiten THE SUN AND THE MOON (GB 2007) & INTOXICATED BY MY ILLNESS (Parts 1 & 2 "Intensive Care") (GB 2001) (18.6., anschließend After-thoughts von Maria Vedder) vermengen den häuslichen Bereich mit einem Bereich des "Anderen", um das Bekannte zu durchbrechen und eine manchmal erschreckend enthüllende Sinnesfreude einzuführen. Dwoskins intensive Krankenhauspflege und Bilder von Sadomasochismus verschwimmen in INTOXICATED BY MY ILLNESS, während in THE SUN AND THE MOON – einer persönlichen Interpretation von "Beauty and the Beast" – wunderschön strukturierte Videobilder zwei sehr unterschiedliche Figuren und ihre Suche nach einem gemeinsamen Treffpunkt zeigen.
Einen besonderen Abschluss bildet die Präsentation einer neuen Kopie des Films CENTRAL BAZAAR (GB 1976, 19.6., anschließend After-thoughts und Diskussion), der seinerzeit im Forum der Berlinale Furore machte. Dwoskin versammelte für diesen Film Personen, die sich nicht kannten (darunter Carola Regnier) und filmte sie, während sie über einen Zeitraum von fünf Tagen ihre Fantasien auskundschafteten. Ein Projekt, das in der Post-Big-Brother-Zeit in einem neuen Licht erscheint. Die Kostüme und das Make-Up zielen auf die besondere Verbindung von Film und Performance.
In Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Unser besonderer Dank gilt: Stephen Dwoskin, Beatrice Cordua-Schönherr, Carola Regnier, Katharina Narbutovic, allen teilnehmenden Gästen sowie Mike Sperlinger (LUX, London), William Fowler (British Film Institute, London).

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