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Die starke körperliche Präsenz Asta Nielsens in ihren Filmen bzw. die ihres (Mienen-)Spiels ist eines der beeindruckendsten Charakteristika dieses Stars des frühen Kinos. Der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs sah in ihr als körpersprachlicher Erzählerin die Offenbarung filmischer Ausdruckskunst, ihr mimisches Vokabular bezeichnete er als exemplarisch. In Der sichtbare Mensch beschreibt er eine Szene aus DIE FREUDLOSE GASSE (G. W. Pabst, D 1925, 1. & 2.10., am Klavier: Eunice Martins), in der Aufnahmen von Nielsens Gesicht zur "dramatischen Bühne" der Metamorphose des Schmerzes (Entsetzen, Verzweiflung, Wut, Entschlossenheit) angesichts der Untreue ihres Geliebten werden. Für Balázs ist dies ausdrucksstarkes Beispiel seiner Theorie der polyphonen Physiognomik. Asta Nielsen spielt in DIE FREUDLOSE GASSE ein Proletariermädchen, das im Wien der Inflationszeit aus Not und Hunger zur Prostituierten wird.
IL VANGELO SECONDO MATTEO (Das Erste Evangelium – Matthäus, Pier Paolo Pasolini, I 1964, 3. & 4.10.) Suggestive und geradezu expressionistische Gesichtsaufnahmen (aber auch Hinterkopfansichten) des Laiendarstellers Enrique Irazoqui dominieren Pasolinis Film über Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi. Nach langer Suche entdeckte der italienische Regisseur seinen Hauptdarsteller durch puren Zufall. "Als Enrique mein Arbeitszimmer betrat, wusste ich sofort: Das ist mein Christus. Er hatte genau das schöne, stolze, gleichzeitig menschliche und entrückte Gesicht der von El Greco gemalten Christusfiguren." Doch Pasolini ging es weniger um faktische Ähnlichkeiten zwischen Irazoqui und Christus-Gesichtern in der Kunstgeschichte. Vielmehr greift er auf kunsthistorische Inszenierungs-Strategien zurück und zeigt Jesus als universellen Archetyp und Ikone.
REPRISE (Wiederaufnahme, Hervé Le Roux, F 1996, 7. & 8.10.). Ausgangspunkt des Films ist ein Foto, auf dem man das wütende Gesicht einer Frau sieht, die drohend ihre Faust erhebt. Das Foto stammt aus einem kurzen Dokumentarfilm aus dem Jahre 1968 über das Ende eines Streiks und die Wiederaufnahme der Arbeit in der Fabrik "Wonder" bei Paris. 25 Jahre später macht sich Regisseur Le Roux auf die Suche nach der Frau – ausgestattet allein mit dem Foto ihres Gesichts. Er sucht nach Beteiligten des damaligen Streiks, konfrontiert sie mit dem historischen Material, hält ihre Reaktionen fest, fragt nach ihren Erinnerungen an die damaligen Vorkommnisse und an die mysteriöse Frau auf dem Foto. Le Rouxs spannende Untersuchungen münden in ein komplexes Bild der damaligen Situation.
LA PASSION DE JEANNE D'ARC (Die Passion der Jungfrau von Orléans, Carl Theodor Dreyer, F 1928, 9. & 11.10., am Klavier: Eunice Martins) "Nichts in der Welt kann mit dem menschlichen Gesicht verglichen werden. Es ist eine Landschaft, die zu erforschen man niemals müde wird. Zu sehen, wie es von innen heraus beseelt wird und sich in Poesie verwandelt." (Dreyer) Balázs' Idee vom "menschlichen Gesicht als Dokument" greift in Dreyers Film der Gesichter und Blicke in zweifacher Weise. Nicht nur dokumentieren die ungeschminkten Gesichter in exzessiver Großaufnahme die fragile Seelenlandschaft der Protagonistin (gespielt von der Theaterschauspielerin Maria Falconetti) oder die heuchlerischen Abgründe hinter den Physiognomien der Soldaten und Kleriker. Die Gesichter haben sich in ihrer ähnlich wie bei Pasolini ikonografischen Inszenierung (Konzentration auf das Gesichtsfeld vor zumeist unspezifischem Hintergrund) zudem in die kollektive Vorstellungswelt der historischen Ereignisse eingeschrieben.
MOUCHETTE (Robert Bresson, F 1967, 10.,12. & 14. 10.) Bressons Beweggründe für die Arbeit mit Laiendarstellern, die er als "Modelle" bezeichnet, finden sich in seinen Notizen zum Kinematographen und haben ebenso viel mit seinem Verständnis des Spiels wie mit seinem Verständnis der Inszenierung zu tun: "Keine Schauspieler. (Keine Schauspielführung). Keine Rollen. (Kein Rollenstudium). Keine Inszenierung. Sondern die Verwendung von Modellen, aus dem Leben genommen. SEIN (Modelle) anstatt SCHEINEN (Schauspieler)." Dabei maß Bresson dem Gesicht ganz besondere Bedeutung zu: "Modell: Ganz Gesicht!" Ganz in diesem Sinne entfaltet sich das misstrauische Wesen der kleinen Mouchette immer wieder in ihrem trotzigen Gesichtsausdruck und Blick, mit dem sie die enge Welt eines französischen Provinzdorfes bedenkt. Eine Kette von Enttäuschungen, Anfeindungen, seelischen wie körperlichen Verletzungen und menschliche Kälte bringen sie dazu, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Masken, Make-up und Medienwechsel bilden den Hintergrund von THE DARK KNIGHT (Christopher Nolan, USA 2008, 15. & 18.10.), MEPHISTO (István Szabó, HU / BRD / A 1980, 17. & 21.10.; Vorfilm: PHOENIX TAPES #6; Christoph Girardet, Matthias Müller, D 1999) und M BUTTERFLY (David Cronenberg, USA 1993, 19. & 20.10.; Vorfilm: ASCOLTA!; Stephen Dwoskin, I / GB 2008). Klaus Maria Brandauer in seiner Rolle als ehrgeizig-eitler Schauspieler Höfgen in MEPHISTO, der seine Überzeugungen der Karriere opfert, und Jeremy Irons als René Gallimard in M BUTTERFLY, dessen Liebe zu einer Pekingoper-Sängerin ihn zum Spielball der chinesischen Spionage macht, maskieren sich in zentralen Szenen, um mit ihrem "zweiten" Gesicht gleichsam eine zweite Identität anzunehmen. Während Brandauers starres Mephisto-Gesicht zugleich Panzer und Versteck ist, markiert der Moment des Schminkens in M BUTTERFLY Irons' endgültige Transformation in die Gestalt seiner eigenen Projektion. In Christopher Nolans THE DARK KNIGHT verweisen das Maskenhafte an Heath Ledgers abgerissenem Jokergesicht, seine verschmierte Clownsschminke und sein diabolisches Mienenspiel eher auf eine Entmenschlichung der Figur. Wie die Spielkarte gleicht er einer nachlässig animierten Leerstelle. In allen drei Fällen steht die Maske immer auch für einen Medienwechsel: ins Theater, in die Oper und in die Welt der Comics. Eine Demaskierung ganz anderer Art bildet den Anfang in Béla Tarrs KÁRHOZAT (Verdammnis, Ungarn 1987, 27. & 31.10.). Die minutenlange Sequenz einer Rasur lassen zwar die verschiede-nen Texturen der Szene-Bartstoppeln, Schaum, Haut – haptisch erfahrbar werden, doch auch ohne Bart und Schaum lässt das reg- und emotionslose Gesicht wenig Rückschluss auf die Befind-lichkeit des Protagonisten zu: Sie ist die konsequente Exposition eines Beziehungsgeflechts zwischen dem Protagonisten Karrer, einer Sängerin, ihrem Mann und einem Kneipenwirt. "Die wesentlichste Qualität des Kinos ist die Möglichkeit, sich dem menschlichen Gesicht anzunähern", befand Ingmar Bergman 1959. Das Ausloten des menschlichen Gesichts und seiner Grenze, der dünnen Schicht zwischen Innen und Außen, ist ein zentraler Bezugspunkt im Werk des schwedischen Regisseurs. Wir zeigen PERSONA (Ingmar Bergman, Schweden 1966, 23. & 24.10.; Vorfilm: SOUL RESEARCH LABORATORY # IV: SEARCH AND HIDE, Karø Goldt; A / D 2007), dessen symbiotische Beziehung zwischen einer Krankenschwester und einer Schauspielerin in der Verschmelzung ihrer Gesichter kulminiert und ANSIKTET (The Magician, Ingmar Bergman, Schweden 1958, 25. & 26.10.), in dem der Kampf zwischen Magie und Rationalität sich in ausdrucksstarkem Chiaroscuro auch auf den Gesichtern seiner Protagonisten abspielt.
STAROJE I NOWOJE (GENERALNAJA LINIJA) (Das Alte und das Neue / Die Generallinie, Sergej Eisenstein, UdSSR 1929, 29. & 30.10, am Klavier: Eunice Martins) Einzig das lächelnde Gesicht der Bäuerin Marfa Lapkina, die leidenschaftlich für die Kollektivierung der Landwirtschaft in der noch jungen Sowjetunion und gegen die Großgrundbesitzer und Popen kämpft, tritt als Individuum aus einer Masse von Gesichtern hervor, die Eisenstein hier in erster Linie als kulturelle oder soziale Exponenten einsetzt. Wir sehen Kaskaden von Gesichter-Klassen und -Typen, oft karikiert, monströs, süffisant, aufgebläht. Unter ihnen Marfa Lapkina, deren Initialen und in die Ferne gerichtetes Lächeln den Zuschauer an eine andere mediale Ikone im Pariser Louvre denken lassen.

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