Während thematisch aktuelle gesellschaftspolitische Themen wie zum Beispiel Frauenhandel, Wirtschaftskriminalität, Strafvollzug und häusliche Gewalt gegen Frauen verhandelt werden, wird auf formaler Ebene das Repertoire dokumentarischer Verfahren erweitert. Ob mit Mitteln des Theaters oder als filmische Lesung inszeniert, ob im Studio oder on location gedreht – das einstudierte Vortragen sorgfältig bearbeiteter dokumentarischer Zeugnisse durch Schauspieler, Sprecher oder durch die Protagonisten selbst stellt gängige Muster dokumentarischer Repräsentation in Frage. Empathischer Identifikation mit Einzelschicksalen wird dabei genauso wenig vertraut wie einer vermeintlichen dokumentarischen Evidenz. Hier geht es nicht um Nähe, Authentizität und Unmittelbarkeit, sondern um die Analyse gesellschaftlicher Strukturen, Ent-Dramatisierung statt Emotionalisierung, Reduktion und Abstraktion statt Illustration. Mit Mut zum Experiment hinterfragen diese performativen politischen Dokumentarfilme dokumentarische Strategien und gesellschaftliche Verhältnisse zugleich. "Performing Documentary" stellt diese spezifische dokumentarische Ästhetik anhand von Filmen, Texten und Gesprächen zur Diskussion.
Dank der Unterstützung durch die Bundeszentrale für politische Bildung und das Österreichische Kulturforum Berlin, ohne die das Projekt in dieser Form nicht hätte realisiert werden können, sind fast alle FilmemacherInnen im Arsenal zur Diskussion zu Gast. Außerdem ist begleitend eine Publikation erschienen, die Originalbeiträge der FilmemacherInnen zu dieser besonderen dokumentarischen Form enthält. Sie ist an der Kasse kostenlos erhältlich. Darüber hinaus gibt es einige Einführungen und am 5. Juni findet eine Podiumsdiskussion zum Thema "Performing Documentary – Zur Ästhetik performativer politischer Dokumentarfilme" statt. Es diskutieren, moderiert von Birgit Kohler: Dominik Kamalzadeh (Filmkritiker, Wien), Bert Rebhandl (Filmkritiker, Berlin) und Werner Ruzicka (Leiter der Duisburger Filmwoche).
GANGSTER GIRLS (Tina Leisch, Österreich 2008, 2.6., in Anwesenheit von Tina Leisch) Kunstvoll geschminkte Gesichter, Perücken, Gesang, Spiel und Tanz – ein Theaterworkshop im Frau-engefängnis Schwarzau. Erzählt wird das Drama der Lebensgeschichten der inhaftierten Frauen. Sie spielen ihren Alltag nach. Sie stellen sich selbst dar. In inszenierten Gesprächssituationen (in Küche, Wäscherei, Näherei) schildern sie -außerdem, wie sie ins Gefängnis kamen und welche Erfahrungen sie hinter Gittern machen. Auch in diesen Szenen bleiben ihre Gesichter maskiert, was sie ein Stück weit zu Kunstfiguren macht. In der Brechung von Spiel und Bekenntnis, von szenischer Reflexion und authentischer Erfahrung entsteht ein vielschichtiges und widersprüchliches Bild der Institution Gefängnis und der Gesellschaft, die diese hervorbringt.
KURZ DAVOR IST ES PASSIERT (Anja Salomonowitz, Österreich 2006, 2.6., Einführung: Birgit Kohler) Fünf Personen, fünf potentielle "Tatorte": Ein Zöllner, ein Bordellkellner, eine Frau von nebenan, eine Diplomatin und ein Taxifahrer erzählen in ihrem alltäglichen Umfeld von enttäuschten Hoffnungen, falschen Versprechungen, Ausbeutung und Ausgeliefertsein. Offensichtlich haben sie die geschilderten Ereignisse nicht selbst erlebt, die Situation ist inszeniert – doch das Erzählte ist geschehen: Die monoton vorgetragenen Texte sind aus Gesprächsprotokollen mit vom Frauenhandel betroffenen Frauen montiert, die selbst nicht auftreten. Der durch die Verschränkung von dokumentarischem Material und expliziter Inszenierung -entstehende Verfremdungseffekt hinterfragt erzählerische Konventionen, dokumentarische Strategien und gesellschaftliche Verhältnisse gleichermaßen.
HAT WOLFF VON AMERONGEN KONKURSDELIKTE BEGANGEN? (Gerhard Friedl, Österreich 2004, 3.6., Einführung: Volker Pantenburg) Eine Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland: Zu sehen sind Bilder von Städten, Landschaften, Fabrikhallen, Flughäfen. Zu hören ist eine Stimme aus dem Off, die lakonisch von den Karrieren, Machenschaften, Gebrechen und Spleens der Großindustriellen-Dynastien sowie den verbrecherischen Verstrickungen des Finanzkapitals im 20. Jahrhundert spricht. Ein kunstvoll gestalteter Text, der einschneidende Ereignisse neben absurde Details platziert und das grotesk-komische Potential des penibel recherchierten Materials ausspielt. Bilder und Text laufen nebeneinander her, ohne zwangsläufig zur Deckung zu kommen. Die Montage irritiert, statt zu illustrieren. Ein Dokument der Nicht-Abbildbarkeit von Wirtschaftskriminalität.
DAS PROBLEM IST MEINE FRAU (Calle Overweg, D 2003, 3.6., in Anwesenheit von Calle Overweg) Eine weit verbreitete Praxis, ein oft verdrängtes Thema: häusliche Gewalt gegen Frauen. Männer, die ihre Frauen schlagen und Rat suchen in der Therapie stehen im Zentrum der Versuchsanordnung, die dieser "gespielte Dokumentarfilm" situiert und von vornherein offenlegt: Die Therapeuten sind wirkliche Therapeuten, die Täter jedoch Schauspieler, die Sitzungen inszeniert. Die Aussagen der Männer sind sorgfältig erfunden, auf Basis von ausführlichen Recherchen. Die Laborsituation im Studio ist offensichtlich, der Filmemacher bisweilen im Bild – doch obwohl die mediale Inszenierung miterzählt wird, entsteht ein Schauspiel mit unmittelbarer Wirkung. Künstlerisch verdichtete Wirklichkeit, die Mechanismen realer Gewalt gegen Frauen zutage bringt.
ORAL HISTORY (Volko Kamensky, D 2009, 4.6., in Anwesenheit von Volko Kamensky) Vogelgezwitscher, ein Laubwald, darin eine Häusersiedlung, kein Mensch weit und breit. Irgendwie märchenhaft. Langsame Kamerafahrten. Telefonklingeln. Frauenstimmen erzählen aus dem Off verzückt von einem Ort am Waldrand, von Heimat und Gemeinschaft, Naturverbundenheit und Ausgrenzung. Hier bin ich geboren, hier gehöre ich hin. Leise Zweifel am Zusammenhang von Erzähltem und Bildern stellen sich ein. Es wird sich zeigen, dass die vermeintlich autobiografischen Geschichten von Mitarbeiterinnen einer kostenpflichtigen Telefonhotline zum Thema "Dorf am Waldrand" frei erfunden wurden. Erfundene Geschichten als dokumentarisches Material, das auf Reales verweist: die konkrete Realität stereotyper kollektiver Vorstellungen.
MICHAEL BERGER. EINE HYSTERIE (Thomas Fürhapter, Österreich 2010, 4.6., in Anwesenheit von Thomas Fürhapter) Die sagenhafte Biografie des jungen österreichischen Investment-Bankers Michael Berger: vom Sparkassen-Lehrling in Salzburg zum korrupten Dollar-Millionär an der Wall Street. Von der Liste der erfolgreichsten Auslandsösterreicher auf jene von "America's Most Wanted". Während eine Stimme aus dem Off im sachlichen Stil eines Protokolls Michael Bergers Lebensgeschichte nachzeichnet und dabei ungerührt Fakten und Anekdoten vermischt, bleibt dieser genauso ein Phantom wie die Erörterungen spekulativ. Kein einziges Bild von ihm gibt es zu sehen, nur Schauplätze seines Wirkens. Auf den Spuren des Verbrechers gerät durch diese objektivierende Form die Undurchschaubarkeit des verbrecherischen Systems in den Blick.
BESPRECHUNG (Stefan Landorf, D 2009, 4.6., in Anwesenheit von Stefan Landorf) Besprechungen, Konferenzen, Meetings und Sitzungen sind in der modernen Arbeitswelt Tagesgeschäft. Sie haben jeweils eigene sprachliche Kodes und folgen bestimmten Mechanismen, in denen sich die Verfasstheit eines Unternehmens abbildet. Mit Fokus auf die Architekturen von Besprechungsräumen, vor allem aber auf Sprache und Gesten der Beteiligten, zeigt der Film Sitzungen in unterschiedlichsten Institutionen. Er führt in eine Welt der Floskeln, Phrasen und Rituale und zeigt Besprechungen als Bühne für (Selbst-)Inszenierungen aller Art. Auf den Punkt gebracht wird das durch performative Auftritte, wo einzelne Sätze von Protagonisten wiederholt aufgesagt und von Schauspielern beim Kulissenschieben vorgetragen werden – als flexibel einsetzbare Versatz-Stücke, losgelöst von jeglichem Inhalt.
DER KICK (Andres Veiel, D 2006, 5.6., in Anwesenheit von Andres Veiel) Im brandenburgischen Dorf Potzlow wurde im Sommer 2002 der 16-jährige Marinus Schöberl von den Brüdern Marco und Marcel Schönfeld und deren Bekanntem Sebastian Fink grausam misshandelt und getötet. Nach monatelanger Recherche vor Ort entstand das Theaterstück Der Kick und der gleichnamige Dokumentarfilm – ein dichtes filmisches Protokoll mit zwei hauptsächlich monologisierenden Schauspielern in 18 Rollen: als Eltern und Kinder, als Täter und Angehörige des Opfers, als Bürgermeister, Pfarrer, Gutachter und Staatsanwalt. Ein Versuch, das Unfassbare darzustellen, das Nicht-Abbildbare einer monströsen Tat durch formale Askese zu betonen, die Strukturen hinter der Tat herauszuarbeiten. Eine vielstimmige Erzählung, die zugleich abstrahiert und vergegenwärtigt.
HAMBURGER LEKTIONEN (Romuald Karmakar, D 2006, 5.6., Einführung: Dominik Kamalzadeh) In einem Studio-Setting – neutraler Hintergrund, Hocker, Beistelltische und Scheinwerfer – liest der Schauspieler Manfred Zapatka einen Text, nüchtern, gleichmäßig, nur selten leicht die Stimme hebend. Er eignet sich die Worte nicht an, er spricht sie nur aus. Es handelt sich um zwei Predigten des Imams Mohammed Fazazi, die dieser im Januar 2001 in einer Hamburger Moschee gehalten hat. Erst die anti-illusionistische, ent-dramatisierte Versuchsanordnung des Films, sein spezifisches Dispositiv der Distanzierung, bewirken die Konzentration auf den Text und ermöglichen, dessen Binnenlogik, die rhetorischen Strategien der Koranauslegung und die Strukturen des zugrunde liegenden totalitären Denkmodells zu erschließen.
Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Österreichischen Kulturforum Berlin.