Wajdas Tätigkeit als Film- und Theaterregisseur erstreckt sich über bald sechs Jahrzehnte und hält unvermindert an. Die damit einhergehenden unerbittlichen Drehpläne haben seine Anwesenheit als Ehrengast der Retrospektive in Berlin leider verhindert. Eingeladen über ihn zu sprechen, haben wir dafür zwei berühmte Wajda-Schauspieler: Wojciech Pszoniak und Jerzy Radziwiłowicz, wie auch eine Reihe von jungen Regisseuren, die an der Andrzej Wajda School of Film Directing Filme realisiert haben. Alle Gäste erwarten wir über den gesamten Monat verteilt im Arsenal und an den anderen Spielstätten der Reihe (Filmmuseum Potsdam, Hackesche Höfe, Zeughauskino). DANTON (F / Polen / BRD 1982, 2.12., zu Gast: Wojciech Pszoniak & 30.12.) Als nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 Wajdas Arbeitsbedingungen eingeschränkt wurden, verlagerte er seinen Wirkungsort zeitweise nach Frankreich, um hier ein polnisches Theaterstück über die Endphase der Französischen Revolution zu verfilmen. Mit Parallelen zum polnischen Kriegsrecht entwirft Wajda das Bild einer brutalen Terrorherrschaft durch das Revolutionstribunal von Robespierre (Wojciech Pszoniak), dem Danton (Gérard Depardieu) und die Ideale der Revolution zum Opfer fallen. POKOLENIE (Eine Generation, 1954, 3.12.) Wajdas neorealistisch anmutendes Debüt und erster Teil der Warschauer Trilogie kreist um den jungen Stach, der sich einer polnischen Widerstandsgruppe anschließt. Während des Warschauer Aufstands 1944 versuchen Stach und die Gruppe, Aufständische aus den unterirdischen Kanälen zu retten. Ohne jegliches Pathos formuliert der Film die Frage nach politischer und persönlicher Verantwortung – ein früher Tauwetterfilm. KANAL (1956, 3.12.) Fernab der offiziellen, stalinistischen Geschichtsinterpretation und -darstellung zeichnet Wajda die Niederlage einer polnischen Widerstandgruppe in den letzten Tagen des Warschauer Aufstandes. Als ihre Position in der Vorstadt nicht mehr zu halten ist, steigen auch sie in die weitverzweigte Warschauer Kanalisation ab. Ein Irrweg durch expressionistisch ausgeleuchtete Kanalgänge beginnt, die Ausmaße des Danteschen Infernos annehmen. POPIÓŁ I DIAMENT (Asche und Diamant, 1958, 5.12.) Wajda und der polnische Film finden mit ASCHE UND DIAMANT endgültig internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung. Die Geschichte eines Bruderkriegs spielt sich innerhalb weniger Stunden am 8. Mai 1945 ab. Maciek, ein national gesinnter ehemaliger Untergrundkämpfer (Zbigniew Cybulski) bereitet ein Attentat auf einen führenden Kommunisten vor. Zur gleichen Zeit wird die Siegesfeier vorbereitet. Kriegsprofiteure und Karrieristen beschließen das Fest mit einer Polonaise, während Maciek den Bezirks-Sekretär erschießt und dann selbst erschossen wird. Vorfilm: PAPARAZZI (Piotr Bernaś, 2011, 5.12., zu Gast: Piotr Bernaś). POPIOŁY (Legionäre, 1965, 6.12.) Der Verlust der staatlichen Souveränität und die Aufteilung Polens zwischen Preußen, Russland und Österreich Ende des 18. Jahrhunderts ist eines der kollektiven polnischen Traumata. Vor diesem Hintergrund und basierend auf einem Roman von Stefan Zeromski, der den Glauben an ein zukünftiges Polen formuliert, entwirft Wajda ein monumentales Fresko um eine Gruppe von polnischen Adligen, die in Napoleon den Befreier Polens sehen, deren Hoffnungen jedoch enttäuscht werden. KRAJOBRAZ PO BITWIE (Landschaft nach der Schlacht, 1970, 7.12.) Der Krieg ist vorüber, ein KZ wird befreit, die ehemaligen Häftlinge werden in ein DP-Camp umquartiert. Doch das Erlebte legt sich wie ein Schatten über ihre Gegenwart und Zukunft, Kampf, Gewalt und Rache bestimmen auch im neuen Lager ihr Leben. Dennoch entwickelt sich eine vorsichtige Beziehung zwischen einer Jüdin und dem Intellektuellen Tadeusz (Daniel Olbrychski). Als sie unabsichtlich erschossen wird, flüchtet er sich in Zynismus und verlässt das Camp. Eine stark ästhetisierte, ausgewaschen anmutende Anfangssequenz verbildlicht das Grundmotiv des Films: den Verlust der menschlichen Identität in der Unmenschlichkeit der Lebensbedingungen im KZ. SAMSON (1961, 8.12.) Die alttestamentarische Legende von Samson, der sich gegen seine Unterdrücker auflehnt und mit ihnen stirbt, dient als titelgebender Referenzpunkt für die Geschichte des jüdischen Studenten Jacub Gold in Polen vor und während des Zweiten Weltkriegs. Aus dem Gefängnis entlassen, folgt er seiner Mutter ins Ghetto, kann von dort fliehen, findet Unterschlupf und Anschluss an eine Widerstandgruppe in einer illegalen Druckerei, bis diese von deutschen Soldaten gestürmt wird. Ausgehend von Jacubs allmählicher Wandlung mündet der Film in ein Nachdenken über das Verhältnis von Individuum und Geschichte. BEZ ZNIECZULENIA (Ohne Betäubung, 1978, 9. & 29.12.) Im Mittelpunkt dieser Zustandsbeschreibung Polens Ende der 70er Jahre steht der erfolgreiche Journalist Jerzy, der über die Anforderungen seines Berufs die politischen wie auch die privaten Zeichen der Zeit aus den Augen verliert. Seine Unfähigkeit sich anzupassen führt mit beklemmender Zwangsläufigkeit zur persönlichen und beruflichen Niederlage. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Diktat falscher Ideale, dem Konformismus und der Mittelmäßigkeit. POLOWANIE NA MUCHY (Fliegenjagd, 1969, 10. & 28.12.) Diese groteske Karikatur des polnischen Kulturbetriebs ist eine von Wajdas zwei Satiren. Ein gescheiterter Student wird zum Opfer des übersteigerten Ehrgeizes seiner Geliebten, seiner Schwiegereltern und seiner Ehefrau, die einen anerkannten Übersetzer aus ihm machen und ihn in die "Kultur-Schickeria" einführen wollen. Eine Erkundung der Condition Humaine im Mantel der Gesellschaftskomödie. Vorfilm: PRZEKŁADANIEC (Rollkuchen, Polen 1968, 10.12.) Die kurze Science-Fiction-Komödie von überraschender Aktualität basiert auf einer Erzählung von Stanislaw Lem: Einem Rennfahrer werden nach Unfällen diverse Organe transplantiert, was bei ihm zu einer umfassenden Identitätsverwirrung führt. Ein Bild der Welt Warschauer Intellektueller – voller Gags, Cartoons und Karikaturen. CZŁOWIEK Z ŻELAZA (Der Mann aus Eisen, 1981, 11.12., zu Gast: Jerzy Radziwiłowicz & 17.12.) In der Fortsetzung von MANN AUS MARMOR schildert Wajda den politischen Umschwung Anfang der 80er Jahre aus dem Blickwinkel eines opportunistischen Reporters, der die Biografie eines der Streikführer recherchiert. "Unsere Idee war es, die Ereignisse des August 1980 aus dem Blickwinkel des August 1980 zu erzählen." (A. W.) Die Unmittelbarkeit in der Darstellung der Streikwelle des "Polnischen Augusts" findet in der nervösen Intensität der Bilder, der fragmentarischen Narration, dem Zusammenfügen unterschiedlicher Bildebenen ihren überzeugenden formalen Ausdruck. WESELE (Die Hochzeit, 1973, 13. & 26.12.) Werkgetreue Adaption des berühmten Dramas von Stanisław Wyspiański über die verlorene Identität und den Mythos Polens. Auf zwei Ebenen entfaltet sich das um die Jahrhundertwende angesiedelte Geschehen: Der schwelgerischen Hochzeit eines Dichters und einer Bauerntochter wird eine surreale Phantasmagorie in Form einer Zwiesprache der Hochzeitsgäste mit Gestalten der polnischen Geschichte zur Seite gestellt. Es entfaltet sich ein mythischer Reigen, ein entfesselter Rausch. PANNY Z WILKA (Die Mädchen von Wilko, 1979, 14.12.) Als Wiktor Ruben (Daniel Olbrychski) nach 15 Jahren wieder in das ländliche Wilko zurückkehrt, beginnt für ihn und die Schwestern eines benachbarten Gutes eine Reise in die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit: einen gemeinsam verbrachten unbeschwerten Sommer. Im Blick zurück verschmelzen die Zeitläufe, spitzen sich Träume und Hoffnungen noch einmal zu. Eine elegisch-melancholische Reflexion über eine verlorene Generation. BRZEZINA (Birkenhain, 1970, 13. & 25.12.) Ein so stilles wie stimmungsvolles Kammerspiel um zwei ungleiche Brüder: den zurückgezogenen Witwer Bolesław, der mit seiner Tochter auf dem Land lebt, und den lebenslustigen, aber todkranken Stanislaw, der aus der Schweiz in die Heimat zurückkehrt, um hier zu sterben. ZIEMIA OBIECANA (Gelobtes Land, 1974, 4.12., zu Gast: Wojciech Pszoniak) Monumentales Gesellschaftspanorama der Textilmetropole łodz Ende des 19. Jahrhunderts, eines Brennpunkts der sich rasant entwickelnden Industriellen Revolution. Drei Glücksritter wollen am ökonomischen Aufbruch teilhaben und gründen eine Fabrik. Zunehmend skrupellos verfolgen sie ihr Ziel: Geld, Macht und Besitz. Basierend auf dem Roman des Nobelpreisträgers W. S. Reymont führt Wajda eine Vielzahl von unterschiedlichen Figuren in einem brodelnden, erbarmungslosen Hexenkessel zusammen und zeigt eine Gesellschaft am moralischen Abgrund. CZŁOWIEK Z MARMURU (Der Mann aus Marmor, 1977, 15.12.) Eine Meditation über Entdecken und Verdrängen und das Potential des Films zur ideologischen Manipulation. Wajda setzt die unmittelbare Gegenwart der 70er Jahre mit den Jahren des sozialistischen Aufbaus in Verbindung, verschachtelt die Zeitebenen mittels Rückblenden und Archivmaterial. Wie ein Mosaik setzt die junge Regisseurin Agnieszka (Krystyna Janda) unterschiedliches Material zusammen, um das Leben eines einstigen "Helden der Arbeit" zu rekonstruieren, der nach einem Unfall abgeschoben wird. Die Verdrängung des einst gefeierten Helden in den 50er Jahren findet in der Abwehrhaltung des Fernsehredakteurs, den Agnieszka mit ihren Entdeckungen konfrontiert, 20 Jahre später ihre Entsprechung. WSZYSTKO NA SPRZEDAŻ (Alles zu verkaufen, 1969, 16. & 27.12.) "Ein Film über das Unvermögen, einen Menschen ohne seine Anwesenheit zu fassen." (A. W.) Wajdas sehr persönliche Hommage an den emblematischen Schauspieler Zbigniew Cybulski, den polnischen James Dean, wird zum Dokument seiner Trauerarbeit aber auch einer Selbstbefragung und persönlichen Bestandsaufnahme. In diesem Film-im-Film werden die Dreharbeiten von der Nachricht des Todes des Hauptdarstellers jäh unterbrochen. Unsicher, wie er mit dem Verlust umgehen soll, gerät der Regisseur in eine tiefe persönliche und kreative Krise. TATARAK (Der Kalmus, 2009, 18.12.) Eine andere filmische Form der Auseinandersetzung mit dem Verlust eines Menschen, in diesem Fall des Kameramanns Edward Kłosiński, finden Krystyna Janda, Kameramann Pawel Edelman und Wajda in DER KALMUS. Fließend gehen die drei Ebenen des Films ineinander über: reduzierte Sequenzen, in denen Janda sich an die letzten Tage mit ihrem Mann erinnert, Set-Aufnahmen der Dreharbeiten und die eigentliche Spielfilmhandlung über die brüchige Idylle des letzten Sommers einer sterbenskranken Frau. Variationen des Umgangs mit Vergänglichkeit, Tod und Trauer. Vorfilm: TRÓJKA DO WZIĘCIA (Three for the Taking, Bartosz Konopka, 2007, 18.12.) KORCZAK (Andrzej Wajda, Polen / BRD 1990, 19.12.) Eine Verschränkung von zeitgenössischen Wochenschauen und zurückgenommenen Schwarzweißaufnahmen bildet den Hintergrund der Geschichte des polnisch-jüdischen Kinderarztes und Pädagogen Korczak, der im Warschauer Ghetto ein Waisenhaus leitet und trotz aller Widrigkeiten den Geist von Menschlichkeit und Toleranz aufrechtzuhalten versucht. 1942 soll das Heim aufgelöst, die 200 Kinder sollen deportiert werden. Korczak begleitet sie in den Tod. Offene Waggons und Kinder, die sich im Herbstnebel verlieren, sind die letzten Bilder des Films. "Der Absprung vom Zug der Geschichte evoziert das Schlimmste, das in Nacht und Nebel sich verbarg." (Karsten Witte) LAS KATYŃSKI (Der Wald von Katyn, Marcel Łoziński, Andrzej Wajda, Polen 1990, 20.12.) Früher Fernsehdokumentarfilm über das Massaker von Katyn, das sich auf Archivbilder, Zeugenaussagen und die Erinnerung der Beteiligten stützt. KATYŃ (Das Massaker von Katyn, 2007, 20.12.) Die von Stalin verordnete Ermordung von 22.000 polnischen Offizieren, Polizisten und Intellektuellen – darunter Andrzej Wajdas Vater – im Wald von Katyn im Frühjahr 1940 gehört zu den großen Traumata der jüngeren polnischen Geschichte. Die Sowjets lasteten das Massaker jahrzehntelang der deutschen Wehrmacht an, bis Jelzin 1992 die Archive öffnete. In seinem Spielfilm nähert sich Wajda dem lange tabuisierten Geschehen mit Bedacht: Während und nach dem Krieg machen sich verschiedene Hinterbliebene auf die Suche nach Vätern, Söhnen, Brüdern und der Wahrheit, die zwischen vermeintlich übergeordneten Interessen zerrieben wird. NASTASJA (Polen / Japan 1994, 21. & 30.12.) Wajdas filmische Bearbeitung des letzten Kapitels von Dostojewskis Der Idiot geht auf das Zusammentreffen mit dem japanischen Kabuki-Theaterstar Tamasaburo Bando zurück, der für seine Darstellung weiblicher Rollen berühmt ist. In NASTASJA verkörpert er zunächst Fürst Myschkin, der gemeinsam mit Rogoshin Wache am Totenbett der geliebten Nastassja hält. Im Verlauf der Totenwache verliert sich Myschkin in der Erinnerung an die Verstorbene und nimmt die Gestalt der titelgebenden Protagonistin an. ZEMSTA (Rache, 2002, 22.12.) Zwei verfeindete Nachbarn müssen erkennen, dass ihre Kinder heiraten wollen. Als unbeabsichtigtes Gegenstück zu Mickiewicz' PAN TADEUSZ gibt die Gesellschaftskomödie des polnischen Bühnenautors und Dichters Fredro aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen wesentlich weniger heroischen, aber umso humorvolleren Eindruck des polnischen Landadels, dargestellt von Roman Polański, Janusz Gajos und Daniel Olbrychski. PAN TADEUSZ (1998, 23.12.) "Unverfilmbar!" hieß es lange Zeit in Bezug auf das identitätsstiftende polnische Nationalepos in Versform von Adam Mickiewicz. Wajda behält den polnischen Alexandriner des nationalen Heiligtums bei, findet schwelgerisch opulente Bilder und große Schauspieler (Bogusław Linda, Daniel Olbrychski, Grażyna Szapołowska). Die Handlung – eine Familienfehde wird angesichts der Bedrohung durch russische Truppen beigelegt – spielt an wenigen Tagen Anfang des 19. Jahrhunderts und kulminiert wie so oft bei Wajda in der Polonaise, im symbolhaften Reigen, in dem Zeitläufe, Mythen und Legenden zu verschmelzen scheinen. Besonderer Dank an das Polnische Institut Berlin (Kornel Miglus, Monika Richter) für das Zustandekommen der Retrospektive. Mit Unterstützung des Polish Film Institute, der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, dem Adam Mickiewicz Institute, der Andrzej Wajda Studio & Film School Warschau und der Filmoteka Narodowa (Maciej Kornacki).