Alain Resnais (*1922) wollte ursprünglich Schauspieler werden, studierte dann jedoch an der Pariser Filmhochschule IDHEC Schnitt – bis heute ist der Montage-Gedanke grundlegend für sein Werk. Ab 1946 drehte er Künstlerporträt-Miniaturen, in den 50er Jahren kurze Dokumentarfilme zu ganz verschiedenen Themen, häufig als Auftragsarbeiten und meist in essayistischer Form. Fragen nach dem Verhältnis von Film, Kunst, Sprache, Geschichte und Gesellschaft standen dabei im Vordergrund. Resnais war zwar Zeitgenosse der Nouvelle Vague, fühlte sich aber eher der losen Gruppe der "Rive Gauche" (vor allem Marker und Varda) zugehörig. Anders als die von den Cahiers du Cinéma kommenden Regie-Kollegen hat Resnais bis heute kein einziges Drehbuch selbst verfasst, sondern zunächst Originaldrehbücher von Romanautoren wie Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet und Jorge Semprún verfilmt, später dann Theaterstücke von Alan Ayckbourn oder Jean Anouilh adaptiert. Zum kinematografischen Aufbruch in die Moderne trug er mit seinen Filmen HIROSHIMA MON AMOUR (1959) und L'ANNEE DERNIERE A MARIENBAD (1961) maßgeblich bei. Das Aufbrechen der traditionellen linearen Erzählstrukturen zugunsten von komplexen Kompositionen verschiedener zeitlicher und räumlicher Relationen wurde zu Resnais' Markenzeichen. Während bis Ende der 60er Jahre seine Arbeiten um das Thema Krieg und das komplizierte Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, Erinnern und Vergessen kreisen, entdeckte er in den 80er Jahren die Künstlichkeit des Theaters für den Film und entwickelt seitdem eine ganz eigene Form von Anti-Realismus. In der Folge wuchs sein Interesse am Trivialen, er wandte sich Stoffen aus dem Boulevardtheater, der Unterhaltungsliteratur und schließlich auch dem Gesang zu. Die Kluft zwischen Hoch- und Populärkultur überwindet er dabei bis heute spielerisch. VOUS N'AVEZ ENCORE RIEN VU (Ihr werdet euch noch wundern, F 2012, 1.9., Einführung: François Thomas) Sabine Azéma, Pierre Arditi, Mathieu Amalric, Lambert Wilson, Michel Piccoli und einige andere mehr: Eine illustre Schar französischer Schauspieler kommt – seinem letzten Willen folgend – im Landhaus eines soeben verstorbenen Dramatikers zusammen, mit dem sie alle eine lange persönliche und berufliche Beziehung verbunden hat. Dort wird ihnen ein Film präsentiert: Aufnahmen von Proben zu einer Inszenierung von Jean Anouilhs Eurydice – ein Stück, das sie selbst unter der Regie des toten Autors schon gespielt haben. Sie beginnen kurzerhand, in ihre Rollen von einst zu schlüpfen. Zwischen Bühnenillusion und digitalen Effekten, Irisblenden und Splitscreen nimmt in betont künstlicher Kulisse ein selbstreflexives Spiel um Variation und Wiederholung, Vergangenheit und Gegenwart, Liebe und Tod, Theater und Film seinen Lauf. HIROSHIMA MON AMOUR (F / Japan 1959, 2. & 22.9.) Während der Dreharbeiten zu einem Antikriegsfilm in Hiroshima begegnen sich eine französische Schauspielerin (Emmanuelle Riva) und ein japanischer Architekt. Eine Liebesnacht der beiden wird zur Rückerinnerung an das Kriegsende in Japan und in Frankreich: Während er von seiner durch die Atombombe ausgelöschten Familie erzählt, tauchen bei ihr Erinnerungen an ihre erste Liebe auf, einen deutschen Besatzungssoldaten, der am Tag der Befreiung vor ihren Augen erschossen wurde. Resnais schlug in seinem Langfilmdebüt neue Wege des Erzählens ein: Die Verwendung von jump cuts, verschiedenen Zeitebenen und die Überlagerung der Musik mit den literarischen Dialogen von Marguerite Duras machen den Film zur innovativen Reflexion über das Erinnern und Vergessen. VAN GOGH (F 1948, 3.9.) Ein Künstlerporträt, das ausschließlich über Aufnahmen seiner Gemälde von Leben und Werk des Malers Vincent van Gogh erzählt. Resnais filmt sozusagen das Innenleben des Künstlers, indem er Schwarzweiß (!)-Fotos der Originalbilder mit der Kamera erforscht. PAUL GAUGUIN (F 1950, 3.9.) Ein weiterer Versuch, Malerei in filmischer Form zu erfassen, paradoxerweise ebenfalls in Schwarzweiß gedreht. Mit einem Text von Paul Gauguin. GUERNICA (zusammen mit Robert Hessens, F 1950, 3.9.) Im April 1937 wurde die Stadt Guernica im Baskenland während des spanischen Bürgerkriegs durch ein Flächenbombardement der deutschen Legion Condor zerstört und mehr als 2.000 Menschen getötet. Dieser Filmessay erkundet das gleichnamige monumentale kubistische Gemälde von Picasso über das Massaker. "Ein Musterbeispiel Resnaisscher Methode. Montierte Elemente aus verschiedenen Kunstbereichen, Picassos Fresko, der Text von Paul Eluard, die Stimme von Maria Casarès, plus Dokumentarbilder." (Frieda Grafe) LES STATUES MEURENT AUSSI (Auch Statuen sterben, zusammen mit Chris Marker, F 1953, 3.9.) Ein Dokumentarfilm über Kunst aus Afrika in europäischen Museen. Zusammen mit Chris Marker (der den Kommentar geschrieben hat) realisierte Resnais dieses antikolonialistische und antirassistische Pamphlet. Im Gewand eines Kulturfilms wird die ethnografisch-museale Darstellung afrikanischer Skulpturen thematisiert. Eine essayistische Meditation über den Umgang mit kulturellen Zeugnissen, Kunst und Geschichte. Der Film wurde aufgrund „antikolonialistischer Tendenzen“ verboten und konnte erst in den 60er Jahren öffentlich gezeigt werden. NUIT ET BROUILLARD (Nacht und Nebel, F 1956, 3.9.) Mitte der 50er Jahre, zu einem Zeitpunkt also, als die historische Forschung zu diesem Thema gerade erst einsetzte, drehte Resnais seinen epochalen Essayfilm über die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Er kombinierte eigene, in Farbe gedrehte Aufnahmen der Lager zehn Jahre nach Kriegsende mit schwarzweißen dokumentarischen Archivaufnahmen der Allierten von Deportation und Vernichtung, historischen Aufnahmen der Befreiung und Ausschnitten aus Spielfilmen. Dazu montierte er den Kommentar des Schriftstellers und KZ-Überlebenden Jean Cayrol sowie die Musik von Hanns Eisler. Ein Politikum: Die bundesdeutsche Regierung sorgte seinerzeit dafür, dass der Film nicht im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes gezeigt werden konnte. L'ANNEE DERNIERE A MARIENBAD (Letztes Jahr in Marienbad, F / Italien 1961, 4. & 22.9.) In einem prächtigen Barockschloss begegnet ein Mann einer eleganten Frau (Delphine Seyrig) und will sie an gemeinsame Erlebnisse erinnern. Während er sie mit Fragmenten aus der Vergangenheit konfrontiert, versucht sie sich zu erinnern. War es nicht letztes Jahr in Marienbad? Hat die Erinnerung recht? Oder sind das Träume, Fantasien? Handelt es sich um eine Strategie der Verführung, eine Intrige gar? Endlose Gänge, unzählige Räume und eine Stimme, die bedacht ist, eine Vergangenheit heraufzubeschwören, die vielleicht nie existiert hat. Resnais lässt in diesem außergewöhnlichen Formexperiment (nach dem Drehbuch von Alain Robbe-Grillet) die Zeiten verschwimmen und kreiert ein faszinierendes erzählerisches Labyrinth. MURIEL OU LE TEMPS D'UN RETOUR (Muriel oder die Zeit der Wiederkehr, F / Italien 1963, 5. & 7.9.) Die Antiquitätenhändlerin Hélène (Delphine Seyrig) trifft nach vielen Jahren ihren ehemaligen Geliebten Alphonse wieder. Er deutet eine Schuld an, die er in Algerien auf sich geladen habe. Die Begegnung löst bei Hélène eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit aus, während ihr Stiefsohn von seinen Erinnerungen an ein im Algerienkrieg zu Tode gequältes Mädchen bedrängt wird. Aus Handlungsfragmenten setzt sich die Tragödie mehrerer Leben zusammen, die auf Selbstbetrug und Halbwahrheiten gebaut sind. Die elliptische Erzählweise, der Einsatz der Farben, die Rezitative für Sopran von Hans Werner Henze, das Tabuthema Algerien, die Architektur und die Narben der nach dem Krieg schnell wiederaufgebauten Stadt Boulogne-sur-Mer – all das zeugt von der komplexen Konstruktion des Films. JE T'AIME JE T'AIME (Ich liebe dich, ich liebe dich, F 1968, 6. & 28.9.) Claude Ridder lässt sich nach einem erfolglosen Selbstmordversuch von einigen Wissenschaftlern für ein radikales Experiment rekrutieren: eine Zeitreise in seine eigene Vergangenheit. Er wird um ein Jahr zurückversetzt und zwar in eine einzige Minute seines Lebens. Durch technische Komplikationen landet er in einer Achterbahn aus kurzen Augenblicken seiner Biografie, einem Strudel aus Ellipsen und Variationen. Im Zentrum steht dabei seine mehrjährige Liebesgeschichte mit Catrine, die er vielleicht umgebracht hat. Im Gewand einer Science-Fiction-Story erzählt Resnais mit brillanter und bisweilen verwirrender Montage der Zeitebenen eine anrührende Geschichte, die zugleich spannend wie ein Thriller ist. CŒURS (Herzen, F / Italien 2006, 9. & 30.9.) Paris im Winter. Sechs Personen wie in einem Spinnennetz: Der Immobilienmakler Thierry, seine fromme Kollegin Charlotte, die er im Stillen verehrt, der Barkeeper Lionel, sein bester Gast Dan, der sich in Gaëlle, die Schwester von Thierry verliebt und schließlich Nicole – Dans Verlobte. Bei aller Unterschiedlichkeit vereint sie doch alle: ihre Suche nach der Liebe. Ein Reigen der einsamen Herzen, die ihre Scheu zu überwinden suchen. Sie begegnen einander, sie verpassen sich, in unzähligen kurzen Szenen und verschiedenen Konstellationen. Und die ganze Zeit fällt Schnee, manchmal auch in den Innenräumen. Eine tragikomisch-melancholische Adaption eines Theaterstücks von Alan Ayckbourn. Alles ist Bühne. Tür auf, Tür zu. Und am Ende bleibt jeder allein. STAVISKY… (F / Italien 1974, 12. & 19.9.) Inspiriert vom tatsächlichen Skandal im Frankreich der 1930er Jahre, seit dem der Name Stavisky für korrupte Machenschaften zwischen Wirtschaft, Hochfinanz und Politik steht, entwirft der ereignisreiche Film ein Zeitbild in Schwarz und Weiß mit Tupfern tiefen Rots. Er erzählt vom Ende einer Epoche und folgt dabei zwei Erzählsträngen: dem Leben des Finanzmaklers, Spielers und Betrügers Serge Alexandre alias Stavisky (Jean-Paul Belmondo) und der Irrfahrt Leo Trotzkis durchs Exil in Frankreich. Ein dritter Diskurs wird raffiniert mit Vor- und Rückblenden ins Geschehen eingeflochten: das Vorgehen des Untersuchungsausschusses in Sachen Stavisky. LA BAGUE (F 1946, 13.9.) Dieser stumme Film aus dem Jahr 1946 ist der älteste zur Verfügung stehende Amateur-Film von Alain Resnais. Ein Mimodrama mit dem 23-jährigen Pantomimen Marcel Marceau. Marceau und Resnais waren als Soldaten im besetzten Deutschland (1945/46) Mitglied der gleichen Theatergruppe. PORTRAIT DE HENRI GOETZ (F 1947, 13.9.) Ein Atelierbesuch bei Henri Goetz (1909–1989), wobei die Kamera ins Innere der Gemälde vordringt und die Entstehung eines Bildes über drei Wochen hinweg bis zur Fertigstellung und Signierung verfolgt. HANS HARTUNG (F 1947, 13.9.) Ein Atelierbesuch bei Hans Hartung (1904–1989), der damals als lyrischer Abstrakter galt. "Der Film scheint mir besonders gelungen, weil die Stille und die Intensität der Arbeit sicht- und hörbar sind – soweit man das bei einem stummen Film überhaupt sagen kann." (Hans Hartung, 1976) FELIX LABISSE (F 1947, 13.9.) Ein Besuch in der Mühle des Surrealisten Félix Labisse (1905–1982). Die Kunstgriffe bei der Montage geben einen Vorgeschmack auf den drei Jahre später gedrehten Film GUERNICA. CHRISTINE BOOMEESTER (F 1947, 13.9.) Christine Boumeester (1904–1971), die Frau von Henri Goetz, beginnt am Abend ein Bild zu malen und stellt es frühmorgens fertig. DOMELA (F 1947, 13.9.) César Domela (1900–1992) bei der Arbeit in seinem Atelier: Die sukzessiven Etappen der Entstehung eines abstrakten Gemäldes werden in Mehrfachbelichtung übereinandergelegt. PROVIDENCE (F / Schweiz 1977, 14. & 29.9.) Im Zentrum des Films: ein schwerkranker, betrunkener Schriftsteller, der sich mit allen Mitteln gegen den Tod stemmt, mit Fantasie und Zynismus, mit Alkohol und Schmerzmitteln und mit der Kraft seiner Alpträume. Während einer schlaflosen Nacht überarbeitet er im Geiste sein jüngstes Buch, indem er seine nächsten Angehörigen und Freunde zu Romanfiguren macht. Wie Marionetten lässt er sie durch eine Geschichte um Recht, Moral und Ehebruch tanzen. Der erste englischsprachige Film von Resnais (mit Dirk Bogarde, John Gielgud und Ellen Burstyn) ist eine vielschichtige Reflexion über die Entstehung von Kunst und den Prozess künst-lerischer Kreativität, über Alter, Tod und Gewalt. MON ONCLE D'AMERIQUE (Mein Onkel aus Amerika, F 1980, 14. & 23.9.) Mit einer rasanten Montage der Entwicklungsgeschichten von drei Menschen (Gérard Depardieu, Nicole Garcia und Roger Pierre), die aus verschiedenen sozialen Milieus und Gegenden Frankreichs stammen, beginnt dieser übermütige Film. Die Lebensgeschichten dieser "Versuchskaninchen" verbinden sich mit den Thesen des Verhaltensforschers Henri Laborit, der das Geschehen kommentiert, in der Folge zu einem vergnüglichen Puzzle. Dabei werden die Thesen des Wissenschaftlers von den Erlebnissen der Protagonisten ebenso oft illustriert wie widerlegt und gerne auch mal parodiert: dann laufen die Darsteller mit Rattenköpfen herum. PAS SUR LA BOUCHE (Not on the Lips, F / Schweiz 2003, 16. & 25.9.) Entstaubte Operette im Kino: Gilberte (Sabine Azéma), viel umschwärmte Pariser Society-Königin, ist trotz zahlreicher Bewunderer eine treue Ehefrau. Ihr Mann Georges (Pierre Arditi), ein reicher Geschäftsmann, nimmt die Tatsache, dass seine Frau so begehrt ist, gelassen hin. Plötzlich erweist sich jedoch sein neuer US-amerikanischer Geschäftspartner als der erste Ehemann seiner Frau … Das Personal wird komplettiert von ein paar Möchtegern-Liebhabern von Gilberte sowie ihrer ledigen Schwester, die am Schluss hilft, alle Verwicklungen zu entwirren und jedem den richtigen Partner zuzuführen. Rasante Reime, schräge Komik und viel Gesang machen diese Rekonstruktion eines heiteren Singspielerfolgs von 1925 zu einer amüsanten, schwungvollen Burleske. LE MYSTERE DE L'ATELIER QUINZE (zusammen mit André Heinrich, F 1957, 17.9.) Ein Film zum Thema Sicherheit am Arbeitsplatz am Beispiel eines Betriebsarztes, der den Grund für die plötzliche Erkrankung eines Fabrikarbeiters sucht. Resnais entwarf und montierte den Film, kam aber nur zwei Mal ins Studio, um ein paar Einstellungen zu drehen – dennoch ist es unverkennbar ein Resnais-Film. Den Kommentar schrieb Chris Marker. CLAUDE RIDDER (F 1967, 17.9.) Resnais' Beitrag zu "Loin du Vietnam", einem Kollektivfilm über den Vietnamkrieg, der die Solidarität der Beteiligten mit dem vietnamesischen Volk zum Ausdruck bringen sollte, ist die einzige fiktive Episode – obwohl er sich als Dokumentarist bereits einen Namen gemacht hatte. Der Schriftsteller Claude Ridder führt in seiner Wohnung vor einer stummen Zuhörerin in Form eines Monologs verschiedene Diskurse zum Thema Krieg. Seine intellektuelle Rede mündet in Hilflosigkeit und Verzweiflung. Er fühlt sich als passiver Zuschauer mit einem schlechten Gewissen. CINE TRACT NO. 2 (F 1968, 17.9.) Die Ciné-tracts sind kurze, agitatorische Flugblattfilme, die im Mai / Juni 1968 im Umfeld der gerade einberufenen "Generalstände des Kinos" entstanden. Es handelte sich um ein kollektives Projekt unter Mitwirkung von Godard, Resnais und Marker, von dem die Idee ausging. Im einzigen Beitrag von Resnais wechseln sich die Ereignisse auf den Straßen ab mit dazwischenmontierten Versen eines von einem anonymen Studenten verfassten Gedichts vom 23. Mai 1968. CONTRE L'OUBLI: POUR ESTEBAN GONZALEZ GONZALEZ, CUBA(F 1991, 17.9.) Ein filmischer Brief an Fidel Castro, in dem die Freilassung eines politischen Gefangenen gefordert wird, ist Renais’ Beitrag zu dem von Amnesty International in Auftrag gegebenen Gemeinschaftsfilm Contre l’oubli. Esteban González González wurde schließlich freigelassen. TOUTE LA MEMOIRE DU MONDE (Alles Gedächtnis der Welt, F 1956, 22.9.) Eine Erkundung des Innenlebens der Bibliothèque Nationale in Paris. Die Abläufe sind Arbeit an der Erinnerung: sammeln, klassifizieren, katalogisieren, konservieren, transportieren, reproduzieren, lagern, ausleihen, lesen. Gezeigt werden Säcke mit Zeitschriften, Zeitungen, Büchern, die Kataloge und auch der Weg eines Buches hinein ins riesige Archiv. Und ein Dick-Tracy-Comic. Ausgedehnte Kamerafahrten, dazu die Musik von Maurice Jarre (wie in einem Kriminalfilm) und ein Kommentar, der schwärmerisch und beklommen zugleich ist – angesichts der Idee eines allumfassenden Gedächtnisses der Menschheit. LE CHANT DU STYRENE (F 1958, 28.9.) Ein Dokumentarfilm über die Herstellung von Kunststoff, in Auftrag gegeben von der Société Pechiney, um ihre Produktvielfalt zu preisen. Doch der Film unterläuft die Regeln des Industriefilms. Er beginnt mit einem Zitat von Victor Hugo, ist im Scope-Format gedreht und voll mit majestätischen Kamerafahrten. Er arrangiert synthetische Farben wie im Rausch und kommt mit einem in Alexandrinern abgefassten Kommentar daher, den Raymond Queneau spricht. „Ein Plastik-Gedicht.“ (Frieda Grafe) LES HERBES FOLLES (Vorsicht Sehnsucht, F / Italien 2009, 28. & 30.9.) Ein Film voll leuchtender, intensiver Farben: Knallrote und giftgrüne Schuhe, eine Handtasche in leuchtendem Blau, orangefarbene Haare. Rot ist auch das Portemonnaie, das Georges (André Dussollier) findet. Anhand des Inhalts (ein Pilotinnenschein!) stellt er Spekulationen über die Besitzerin (Sabine Azéma) an und verliebt sich in ihr Passbild. Er stellt ihr nach, bis sie die Polizei einschaltet. Doch irgendwann sitzen sich die beiden dann doch gegenüber mit ihren jeweiligen Spleens. Außerdem mit von der Partie: ein seltsamer Erzähler, auf den kein Verlass ist. Eine entfesselte Kamera, die sich umherschweifend Tolldreistes erlaubt. Sowie Rätsel und Merkwürdigkeiten aller Art. Ein Film, der sich alle erzählerischen Freiheiten nimmt, surreal, heiter anarchisch und wunderbar durchgeknallt. Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Institut français. Dank an die Cinémathèque française, das Centre Pompidou und an François Thomas.