In Georgien ist eine neue Generation von Filmemachern erwacht, die damit begonnen hat, sich der eigenen Geschichte zu erinnern. GRZELI NATELI DGEEBI (Long Bright Days), der erste Spielfilm von Nana Ekvtimishvili und Simon Groß, nimmt mit der Geschichte zweier Freundinnen in dem von Bürgerkrieg und Armut geprägten Land des Jahres 1992 die verschütteten Traditionen des georgischen Kinos wieder auf, verwebt Gewaltausbrüche und Idylle, frühreife Kaltblütigkeit und kindliche Naivität zu einer rhythmischen filmischen Komposition. Der russische Spielfilm ZA MARKSA (For Marx) von Svetlana Baskova nimmt Karl Marx' Feststellung beim Wort, geschichtliche Tatsachen ereigneten sich stets zweimal, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Zwischen Groteske und Slapstick bewegt sich ihre Version einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen radikalen Gewerkschaftern und korrupten Unternehmern in einer heruntergekommenen Metallfabrik. Auch der griechische Spielfilm I AIONIA EPISTROFI TOU ANTONI PARASKEUA (The Eternal Return of Antonis Paraskevas) von Elina Psykou bedient sich des Stilmittels der Groteske, um von Abstürzen und Ungewissheit zu erzählen. Darin täuscht ein Fernsehmoderator, der seinen Stern sinken sieht, seine eigene Entführung vor und quartiert sich in einem verlassenen Luxushotel ein. Sein surreales Schicksal wird zum Kommentar über die gegenwärtige Lage des Landes. Im Zustand der Starre befinden sich auch die Protagonisten des ungewöhnlichen österreichischen Films DIE 727 TAGE OHNE KARAMO von Anja Salomonowitz. In vorwiegend in Gelbtönen gehaltenem Ambiente, und durch Geräusch-Collagen und fiktionalisierende Musik weiter stilisiert, beschäftigt sich dieser politische Dokumentarfilm mit der komplizierten, vom Staat stark reglementierten Lebensrealität binationaler Paare im Konflikt mit einer menschenfeindlichen Bürokratie. Auf ganz andere Weise setzt sich der Argentinier Matías Piñeiro mit dem Leben im Schwebezustand auseinander. VIOLA ist ein vergnügliches Spiel mit wechselnden Identitäten junger Frauen im heutigen Buenos Aires zwischen Lebensrealität und Theatralik, das sich unter anderem an Shakespeares "Was ihr wollt" anlehnt. Kunst, Realität und Fiktion mischen sich auch in dem österreichischen Filmexperiment SHIRLEY – VISIONS OF REALITY von Gustav Deutsch, das 13 Gemälde von Edward Hopper aus drei Jahrzehnten zum Leben erweckt und in ihnen eine mögliche gemeinsame Geschichte im Kontext amerikanischer Historie entdeckt. Auch vier deutsche Filme präsentiert das Programm dieses Jahres, allesamt junge, außergewöhnliche und originelle Beispiele für ein höchst diverses Filmschaffen. Ramon Zürchers Debüt DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN zelebriert anhand einer sommerlichen Familienzusammenkunft in einer Berliner Altbauwohnung eine Choreografie des Alltags, die ihren besonderen Blick auf Ausschnitte, Details und Gesten legt. In Nicolas Wackerbarths HALBSCHATTEN folgt eine Frau der Einladung ihres Geliebten nach Südfrankreich, trifft in dessen Bungalow jedoch lediglich die ihr gegenüber reservierten Kinder des Mannes an, mit denen sie sich in den kommenden Tagen des Wartens und der Ungewissheit arrangieren muss. Die Interaktionen eines verzweigten Freundeskreises, der sich nach dem Selbstmord eines der ihren in einem Haus auf dem Land trifft, stehen im Mittelpunkt von ECHOLOT. Das Spielfilmdebüt von Athanasios Karanikolas fängt die zunehmend entgleitende Stimmung dieses Zusammentreffens ein. Zwischen Inszenierung und dokumentarischer Darstellung bewegt sich Marcin Malaszczak mit SIENIAWKA, der in einer vom Kohletagebau entstellten Landschaft und einer heruntergekommenen Anstalt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfließen lässt: ein lyrisches Porträt der postsozialistischen Wirklichkeit zwischen Polen, Tschechien und Deutschland. Ergänzend zum Programm zeigen wir einige retrospektive Beiträge, darunter fünf restaurierte Filme des bedeutenden japanischen Regisseurs Keisuke Kinoshita als Beitrag zur Retrospektive im Arsenal, den ebenfalls neu restaurierten Dokumentarfilmklassiker PORTRAIT OF JASON von Shirley Clarke, sowie die Wiederentdeckung eines vergessenen dokumentarischen Meilensteins des französischen Kinos, LE COUSIN JULES von Dominique Benicheti aus dem Jahr 1973. Eine einmalige Aufführung im Delphi-Filmpalast gibt zudem Gelegenheit, den ältesten erhaltenen koreanischen Stummfilm CROSSROADS OF YOUTH von Ahn Yong-hwa aus dem Jahr 1934 in adäquater Form mit Musikbegleitung, Kinoerzähler und Live-Gesang zu erleben.