Film ist Theater ist Leben ist Film. Diese Gleichung steht im Zentrum des Kinos von Jacques Rivette. Der französische Filmemacher hat radikal wie kein anderer das Leben als Spiel und das Spiel als Kunst auf die Leinwand gebracht. Immer wieder setzt er die vielfältigen Beziehungen in Szene, die Fiktion und Realität, Kunst und Leben miteinander unterhalten können – Theaterproben sind nur deren bevorzugter Ausdruck. Rivettes Gabe, das Reale und Vertraute ganz unangestrengt ins Geheimnisvolle und Fantastische zu überführen ist prägend für sein Kino. Die Magie seiner Filme beruht auf der Kraft der Imagination.
Das Arsenal widmet Jacques Rivette eine komplette Retrospektive, darunter zahlreiche nur sehr selten zu sehende Filme. Auch Rivettes legendäres Opus magnum OUT 1, NOLI ME TANGERE (1970/90) mit einer Dauer von fast 13 Stunden kommt zur Aufführung. Zur Eröffnung am 2. Oktober präsentieren wir erstmalig in Berlin seinen letzten (und kürzesten) Film 36 VUES DU PIC SAINT LOUP (2009).
Jacques Rivette (*1928) gründete 1950 gemeinsam mit Eric Rohmer die Zeitschrift Gazette du cinéma. Nach deren Einstellung schrieb er von 1953 bis 1967 Kritiken für die Cahiers du cinéma, von 1963–65 als deren Chefredakteur. Früher als seine Kritiker-Kollegen Rohmer, Truffaut und Godard verwirklichte Rivette eigene Filmprojekte. Sein Kurzfilm LE COUP DU BERGER (1956) gilt als Beginn der Nouvelle Vague. Noch heute jedoch, nach über 20 Filmen in fünf Jahrzehnten, ist er der Außenseiter unter den großen Filmautoren Frankreichs und der Eigenwilligste der Nouvelle-Vague-Mitbegründer. Seine unkonventionelle und experimentierfreudige Arbeitsweise – ohne Drehbuch und mit viel Improvisation – macht schon die Dreharbeiten zu abenteuerlichen Unternehmungen. Doch auch das Sehen von Rivettes Filmen ist ein Abenteuer, da sie sich nicht an herkömmliche Erzählmuster halten, von außergewöhnlicher Dauer sind, und voller Rätsel, die ohne Auflösung bleiben. Die Stadt Paris spielt eine Hauptrolle – neben den Frauenfiguren, die Rivettes Filme dominieren, verkörpert von Schauspielerinnen wie Bulle Ogier, Juliet Berto, Sandrine Bonnaire, Emmanuelle Béart, Jane Birkin und Jeanne Balibar. Ihre Körper im Raum, in Bewegung bestimmen den Verlauf der Filme. Häufig inspiriert von Literatur (vor allem Balzac, aber auch Diderot, Racine, Emily Brontë, Henry James, Luigi Pirandello, Lewis Carroll, Robert Louis Stevenson u.a.) entwirft Rivette einzigartige labyrinthische und fantastische Spielanordnungen.
36 VUES DU PIC SAINT LOUP (36 Ansichten des Pic Saint Loup, F/I 2009, 2.10., Einführung: Andreas Kilb & 8.10.) Ein kleiner Wanderzirkus in Südfrankreich. Nach dem Tod ihres Vaters kehrt Kate (Jane Birkin) zu ihrer Artisten-Familie zurück, die sie vor 15 Jahren verlassen hatte. Auf dem Weg dorthin hilft ihr ein Porschefahrer (Sergio Castellitto) bei einer Autopanne – und in der Folge bei der Bergung ihres Geheimnisses und der Befreiung von einer schweren Last aus ihrer Vergangenheit. Die wunderbaren, kurzen Dialoge zwischen dem neugierig-wohlmeinenden Eindringling und der melancholisch-energischen Kate wechseln sich ab mit Landschaftsansichten und becketthaften Sketchen der Zirkusclowns vor fast leeren Rängen. Am Ende steht eine Folge von Auftritten: Die Darsteller treten durch den Eingang des Zirkuszelts nach draußen, ins Freie. Ein milder, schwebender, leichter Film – voller Wehmut und Zärtlichkeit. LE COUP DU BERGER (Checkmate, F 1956, 2. & 8.10.) Eine junge, untreue Frau erfindet eine List, um vor ihrem Mann den Besitz des Pelzmantels zu rechtfertigen, den sie von ihrem Liebhaber geschenkt bekommen hat. Doch der Ehemann lässt sich nicht täuschen … Der erste Film der Nouvelle Vague. Godard, Truffaut und Chabrol agieren als Statisten, Rivette begleitet die Geschichte als Off-Erzähler und interpretiert das Geschehen als Züge einer Schachpartie. Das titelgebende "Schäfermatt" ist eine Eröffnungsfalle. NE TOUCHEZ PAS LA HACHE (Die Herzogin von Langeais, F/I 2007, 3. & 8.10.) Frankreich während der Restauration im 19. Jahrhundert: Ein General (Guillaume Depardieu), der in der Armee Napoleons gekämpft hat und die Spiele in den Pariser Salons nicht mehr gewohnt ist, verliebt sich in eine reiche, verheiratete Herzogin (Jeanne Balibar). Sie hält ihn hin und will geliebt werden, ohne sich selbst zu geben. Er wiederum hat gelernt, dass es sich zu kämpfen lohnt, dreht den Spieß um und lässt die Herzogin warten. Erst jetzt wird diese sich über ihre Gefühle klar und leidet. Aus einem Spiel von Verführung und Leidenschaft wird ein Duell um die Liebe, eine Schlacht der scharfen Worte. Ein faszinierendes Kammerspiel nach der Erzählung La Duchesse de Langeais von Honoré de Balzac, jede Szene ein Drama für sich, ganz konzentriert auf die Worte und Bewegungen der beiden Hauptfiguren. DUELLE (UNE QUARANTAINE) (Unsterbliches Duell, F1976, 3. & 5.10.) Die Sonnengöttin Viva (Bulle Ogier) und die Mondgöttin Leni (Juliet Berto) kämpfen um den Besitz eines magischen Diamanten, der ihre Frist auf Erden verlängern kann. Die eine ist blond, lebt vom Licht und ist im Dunkeln verwundbar. Die andere fürchtet den Tag und ist nur in der Dunkelheit mächtig. Beide spinnen Netze von Intrigen. Ihre Auseinandersetzung überträgt sich in den Kampf zwischen "magischem" und "realistischem" Kino: Vertraute Pariser Schauplätze (wie z.B. Jardin des Plantes, Gare d'Austerlitz, Parc Montsouris und die Rennbahn von Vincennes) werden zu Stätten des Magischen, umgeben von etwas Unheimlichem. Ein fantastischer Film noir mit live im Bild improvisierter Klaviermusik.PARIS NOUS APPARTIENT (Paris gehört uns, F 1958–61, 4. & 8.10.) Eine Studentin aus der Provinz kommt nach Paris und wird mit dem merkwürdigen Verhalten einer Gruppe von Intellektuellen konfrontiert, die für eine Aufführung von Shakespeares Perikles proben. Durch mysteriöse Todesfälle in ihrem Umkreis fühlen sie sich von einer weltweiten Verschwörung bedroht und im Visier einer Geheimorganisation. Philip, ein vor McCarthys Leuten geflohener Amerikaner, scheint zu wissen, dass die Organisation junge, idealistisch gesinnte Franzosen liquidieren lassen will. Der Film erzählt die Geschichte einer Idee, die der Verschwörung. Und dass es zu einfach ist, die Welt mit einer einzigen Idee erklären zu wollen. Rivettes unter schwierigen Bedingungen entstandenes Langfilmdebüt versammelt bereits seine Lieblingsmotive: das Theater, die Verschwörung, einen Irrgarten und die Stadt Paris. LE PONT DU NORD (An der Nordbrücke, F 1981, 4. & 10.10.) Marie (Bulle Ogier), gerade aus dem Gefängnis entlassen, ist auf der Suche nach ihrem früheren Geliebten (Pierre Clémenti). Zufällig trifft sie Baptiste (Pascale Ogier), eine junge Frau mit Lederjacke und Motorradhelm, die durch die Straßen irrt, immer bereit, gegen steinerne Löwen-Denkmäler zu kämpfen, wie ein moderner Don Quixote. Die beiden Frauen finden einen rätselhaften Stadtplan, der zum Spielplan wird und sie immer weiter weg vom Zentrum in mysteriöse Regionen führt. Die Ereignisse spitzen sich zu, als Marie eine Warnung und eine Waffe erhält … Zwei Frauen in Paris, das so real wie unwirklich ist, Schauplatz der urbanen Umwälzungen von 1980 und fantastischer Märchenort gleichermaßen. Ein improvisierter, labyrinthischer Film, der nur aus Außenaufnahmen besteht. NOROIT (UNE VENGEANCE) (Nordwestwind, F 1976, 5. & 23.10.) Giulia (Bernadette Lafont) regiert als Piratenfürstin einen Hofstaat am Ufer des Ozeans. Morag (Geraldine Chaplin) will ihren Bruder rächen, der von den Leuten Giulias getötet wurde. Mit magischen Kräften gewinnt sie das Vertrauen bei Hofe, nährt Rivalitäten, schmiedet Intrigen und spaltet den Hof schließlich in zwei Lager. Der Showdown des Rache-dramas ist ein Maskenball mit einem Tanz-Duell, bei dem immer wieder Farbe oder Ton verschwinden und die improvisierenden Musiker im Bild zu sehen sind. Mit Anklängen an das elisabethanische Stück "The Revenger's Tragedy" von Cyril Tourneur und an amerikanische Piratenfilme entwirft Rivette verwegen eine kunterbunte Fantasiewelt in leuchtenden Farben. JACQUES RIVETTE, LE VEILLEUR (Der Wächter, Claire Denis, Serge Daney, F 1990, 6. & 31.10.) Der sonst eher medienscheue Rivette ließ sich von seiner ehemaligen Assistentin Claire Denis für die Fernsehserie Cinéma, de notre temps im Gespräch mit dem Kritiker und Cinéphilen Serge Daney porträtieren. Die beiden beschäftigen sich in den zwei Teilen des Films (Le jour / La nuit) mit den Debüts der "Viererbande" Godard, Rivette, Rohmer, Truffaut, mit den Cahiers du cinéma, mit André Bazin und mit fünf zentralen Filmen Rivettes: PARIS NOUS APPARTIENT, L'AMOUR FOU, OUT 1, DUELLE und LE PONT DU NORD. LA RELIGIEUSE (Die Nonne, F 1966, 6. & 9.10.) Suzanne Simonin (Anna Karina), uneheliche Tochter verarmter Adliger, wird im Jahr 1757 -gegen ihren Willen zum Eintritt ins Kloster gezwungen. Dort begegnet sie blinder Unterwürfigkeit, Herrschsucht und Machtmissbrauch. Sie rebelliert gegen die Klosterregeln, woraufhin sie Schikanen und Misshandlungen ausgesetzt ist und zur Zielscheibe kollektiven Hasses wird. In ein anderes Kloster verlegt, macht ihr die dortige Oberin (Liselotte Pulver) sexuelle Avancen. Nach gelungener Flucht muss Suzanne erkennen, dass in der Welt draußen nur eine andere Form der Unterdrückung auf sie wartet. Rivettes dichte, theatrale Verfilmung des Romans von Denis Diderot, mit strengen, klaren Bild-Kompositionen, wurde nach heftigen Protesten klerikaler Kreise von der Zensur verboten und kam erst 1967 in die Kinos. HURLEVENT (Sturmhöhe, F 1985, 9. & 17.10.) Catherine und ihr Bruder Guillaume leben auf einem einsamen Bauernhof in der Ardèche. Obwohl Catherine den jungen Roch (Lucas Belvaux) liebt, heiratet sie Olivier, einen reichen Bourgeois. Roch, der daraufhin verzweifelt das Weite gesucht hat, kehrt drei Jahre später zurück. Er provoziert bei seinem Rivalen Olivier eine blutige Auseinandersetzung, indem er dessen Schwester verführt. Zur Verfilmung angeregt durch die Federzeichnungen von Balthus in Emily Brontës Roman Wuthering Heights, verlegte Rivette die Geschichte ins ländliche Frankreich der 1930er Jahre. Die sehr jungen Schauspieler wurden dazu angehalten, auf der Grundlage des Textes zu improvisieren und eigene Erfahrungen einzubringen. VA SAVOIR (F/I/D 2001, 10. & 21.10., mit Buchpräsentation (siehe www.arsenal-berlin.de/de/kino-arsenal/programm/einzelansicht/article/4374/3006.html - external-link-new-window "Opens external link in new window">hier) und Einführung: Stefanie Diekmann) Die Schauspielerin Camille (Jeanne Balibar) kommt nach drei Jahren in ihre Heimatstadt Paris zurück, um mit einer italienischen Theatergruppe ein Stück von Pirandello aufzuführen. Geplagt vom Lampenfieber und der Angst, ihrem ehemaligen Liebhaber zu begegnen, führt sie häufig Selbstgespräche. Sie ist die Geliebte des Regisseurs (Sergio Castellitto), der auf der Suche nach einem Manuskript von Goldoni durch Pariser Bibliotheken geistert. Irrungen und Wirrungen nehmen ihren Lauf, ein wunderbarer Reigen der Möglichkeiten, in dem immer neue Kombinationen von Verführern und Verführten auftauchen. Das Leben auf der Bühne und im Alltag vermischt sich, die Grenzen zwischen Spiel und Realität lösen sich auf. L'AMOUR PAR TERRE (Theater der Liebe, F 1984, 11.10., reguläre Kinofassung & 15.10., Director's Cut auf DVD) Ein erfolgreicher Bühnenautor lädt zwei befreundete Schauspielerinnen (Jane Birkin, Geraldine Chaplin) und einen Kollegen nach Hause ein, um mit ihnen sein neues, noch nicht vollendetes Theaterstück einzustudieren, in dem es um Liebe und Eifersucht geht. Im Zuge der Proben werden die großen Gefühle Wirklichkeit und vermischen sich mit dem Alltag der Künstler, die bald nicht mehr zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden können. Die Figuren des Stücks scheinen von den Schauspielerinnen Besitz zu ergreifen, seine weitere Handlung aber speist sich aus den Aktionen seiner Protagonisten in der "Realität". MERRY-GO-ROUND (F 1981, 11. & 23.10.) In New York und in Rom erhalten Ben (Joe Dallesandro) und Léo (Maria Schneider), die einander nicht kennen, die Aufforderung zu einem mysteriösen Treffen in Paris. Im Hotel, in das sie von Elisabeth (Léos älterer Schwester, die zugleich Bens Freundin ist) bestellt wurden, wird diese vor ihren Augen entführt. Beide verfolgen ihre Spur und werden dabei mit der Familiengeschichte von Léo und ihrer Schwester konfrontiert. In der Folge geht es um die Suche nach dem verschwundenen Vater, geheimnisvolle Nachrichten, ein rotes Kreuz auf Mauern oder Postkarten, den Schlüssel zu einem Bankschließfach und einen Koffer voller Geld. Und um die Zahl drei, die eine magische Bedeutung hat. Dazu: live im Bild improvisierter Jazz. L'AMOUR FOU (F 1968, 12.10.) Ein Theaterregisseur (Jean-Pierre Kalfon) inszeniert Racines Andromaque. Seine Frau (Bulle Ogier) spielt die Hauptrolle – legt dann aber die Arbeit nieder und verlässt die Theatertruppe. Eifersucht, Verzweiflung und Hassliebe münden in ein Schauspiel der Selbstzerstörung. Der Film unternimmt eine groß angelegte Untersuchung der Schnittstellen von Leben und Kunst/Theater: Während echter Theaterproben (die von Rivette in 35 mm, von André S. Labarthe in 16 mm gefilmt wurden), kommt es zur fiktionalen Beziehungskrise zwischen dem Regisseur und seiner Frau. Die Kamera beobachtet die Auseinandersetzungen des Paars, die von Bildern der Probe unterbrochen und kommentiert werden – ein komplexes Geflecht von Fiktion und Wirklichkeit, Inszenierung und Improvisation. Erstmalig ohne Drehbuch und zum Teil in Echtzeit gedreht, ist dieser "Spiel"-Film eine Absage an herkömmliche Spielfilme. JEAN RENOIR, LE PATRON (F 1967, Teil 1, La recherche du relatif, 13.10.) Die Bedeutung Renoirs für Rivette ist nicht hoch genug einzuschätzen. Für Cinéastes de notre temps, die legendäre Fernsehserie mit Filmen über Filmemacher, drehte Rivette 1966 ein dreiteiliges Porträt über Jean Renoir. Im ersten Teil, frei nach Balzac "La recherche du relatif" betitelt, erklärt Renoir unter anderem anhand von Pferden, dass sich die Welt nicht bloß in Schwarz und Weiß einteilen lässt. JEAN RENOIR, LE PATRON (F 1967, Teil 2, La direction d'acteurs, 13.10.) Über die Dreharbeiten zu La chienne und Boudu sauvé des eaux sowie über Schauspielführung und Inszenierung sprach Jean Renoir mit Michel Simon im Jahr 1966. Ein Porträt zweier Komplizen, die ständig zwischen tiefgründigen Überlegungen zum künstlerischen Prozess und schallendem Gelächter hin- und herwechseln. JEAN RENOIR, LE PATRON (F 1967, Teil 3, La règle et l'exception, 13.10.) Der dritte Teil von Rivettes Renoir-Porträt ist vor allem La règle du jeu gewidmet: Gemeinsam mit dem Darsteller Marcel Dalio besucht Jean Renoir das Schloss, in dem er diesen Film drehte. Ihr Gespräch über die Erschaffung von Dalios Figur veranlasste Dave Kehr zu der Bemerkung: "Der Zuschauer fühlt sich dabei wie der Zeuge eines der größten Momente der Filmgeschichte." LA BANDE DES QUATRE (Die Viererbande, F/CH 1989, 13. & 22.10.) Vier Freundinnen wohnen zusammen in einem Haus am Stadtrand von Paris und nehmen Schauspielunterricht bei der strengen Constance Dumas (Bulle Ogier). Sie proben Marivaux’ La Double Inconstance und haben auch privat mit der Unbeständigkeit der Liebe zu kämpfen. Eine gemeinsame Freundin scheint in eine mysteriöse Geschichte verwickelt zu sein. Ein Fremder verschafft sich Zutritt zum Haus, und es dauert nicht lange und jedes der Mädchen hat ein Geheimnis vor den anderen. Der stilisierte Film in leuchtenden Primärfarben reiht die Szenen, ohne sie in die Logik einer Geschichte zu zwängen. Reflexionen über das Theater, Ordnung und Zufall, das Geheimnisvolle im Alltäglichen und – junge Frauen, wie sie frühstücken, Feste feiern, schlafen, weinen, telefonieren, im Café sitzen und Theater spielen. CELINE ET JULIE VONT EN BATEAU (Céline und Julie fahren Boot, F 1974, 14. & 26.10.) Céline (Juliet Berto), eine Gauklerin, die in einem Nachtklub auftritt, und die schüchterne Buchhändlerin Julie (Dominique Labourier) lernen sich auf den Spuren von Alice im Wunderland kennen und werden mittels Zauber-Bonbons in die geheimnisvollen Vorgänge rund um eine viktorianische Villa verwickelt, wo sich vor ihren Augen bruchstückhaft ein Melodrama entfaltet. Schließlich greifen sie erfolgreich in dessen Handlung ein. Ein wunderbar leichter, zauberhafter, verspielter Film über Paris, ein Haus, eine Familie von Gespenstern und zwei Frauen, die sich mühelos zwischen Traum und Realität, Fantasie- und Erinnerungswelten hin- und herbewegen. OUT 1: SPECTRE (F 1971, 16.10.) OUT 1: SPECTRE ist ein viereinhalbstündiges Kondensat der 13 Stunden von OUT 1, NOLI ME TANGERE (1970/90). Rivette und sein Team montierten ein Jahr nach dem Dreh diesen für das Kino bestimmten Film. Die Erzählung von zwei Theatergruppen und zwei Außenseitern, die sich auf den Spuren einer Verschwörung bewegen, wurde fragmentiert und neu zusammengesetzt. Die Ereignisse blieben dabei nicht unbedingt in derselben Reihenfolge, manche wurden beibehalten, andere verändert. Doch der Geist des Geschehens ist der gleiche. JEANNE, LA PUCELLE – LES BATAILLES (Johanna, die Jungfrau – Der Kampf, F 1994, 17.10.) Die 16-jährige Bauerntochter Jeanne (Sandrine Bonnaire) fühlt sich berufen, Frankreich von der Okkupation durch die Engländer zu erlösen. Sie schafft es, zum Dauphin vorzudringen, versteht, die am Boden liegende französische Armee für den Kampf gegen England und seine Verbündeten zu begeistern und befreit schließlich Orléans. Rivette erzählt in seinem zweiteiligen Film den Weg der Jungfrau von Orléans in den zwei Jahren ihres öffentlichen Auftretens (1429 bis 1431) – zunächst ein Weg des Aufstiegs in der Erfüllung ihrer Mission, der Rettung Frankreichs. Er zeigt Jeanne nicht als Heilige, sondern als eine junge Frau, die mit großer Ernsthaftigkeit eine Idee verfolgt, dabei aber auch kichert wie ein Teenager, ungeduldig ist, Schmerz empfindet und Angst hat. JEANNE, LA PUCELLE – LES PRISONS (Johanna, die Jungfrau – Der Verrat, F 1994, 18.10.) Nach der Königskrönung in Reims folgen Abstieg und Scheitern. Jeanne (Sandrine Bonnaire) wird gefangengenommen und an die Engländer ausgeliefert. Man macht ihr den Prozess vor einem Inquisitionsgericht, und das gnadenlos durchexerzierte kirchliche Dogma bringt sie schließlich als Ketzerin auf den Scheiterhaufen. Die Betonung ihres Martyriums und der Blick auf soziale, sexuelle und ständische Machtverhältnisse geschehen nüchtern und unprätentiös. Nicht die Großaufnahme und das Detail, sondern Totale und Halbtotale, Schauplatz und Gruppenbild dominieren den Film. HAUT BAS FRAGILE (Vorsicht: Zerbrechlich!, F/CH 1995, 19.10., Einführung: Ekkehard Knörer & 28.10.) Ninon (Nathalie Richard) ist ständig in Bewegung, tagsüber fährt sie als Botin auf Inline-Skates durch Paris und begeht kleine Betrügereien, nachts tanzt sie, lange und selbstvergessen. Louise (Marianne Denicourt), eine reiche Erbin, gerade aus einem fünfjährigen Koma erwacht, pendelt noch etwas schlaftrunken zwischen ihrem Hotelzimmer und dem alten, verwunschenen Haus einer Tante hin und her. Die Bibliothekarin Ida (Laurence Côte) durchquert die Stadt auf den Spuren eines Liedes, das ihr Anhaltspunkt bei der Suche nach ihrer Mutter ist. Die Wege der drei bestimmen Verlauf und Rhythmus des Films, der immer wieder unvermittelt in Gesang- und Tanznummern übergeht. Ein beschwingtes Pariser Sommermärchen. OUT 1, NOLI ME TANGERE (F 1970/90, 20.10.) Zwei Theatergruppen proben Stücke von Aischylos, ein taubstummer junger Mann (Jean-Pierre Léaud) zieht durch Pariser Cafés, legt Schicksalsbotschaften auf die Tische und spielt Mundharmonika, ein Mädchen im roten Häkelponcho (Juliet Berto) betrügt in einem anderen Café frech und sehr charmant diverse Männer um diverse Francs. Beide stoßen auf die Spuren eines Geheimbunds und einer Verschwörung. Rivettes Opus magnum erzählt frei nach Balzacs Histoire des 13 in beinahe 13 Stunden und acht Episoden die Geschichten von 13 Menschen, die in Paris leben und irgendwie miteinander verbunden sind, aber nicht voneinander wissen. Ein einzigartiges Experiment: Der längste Spielfilm der Filmgeschichte entsteht ohne Drehbuch, vollständig improvisiert, nur nach einem Plan, der lose die Begegnungen seines riesigen Ensembles (u.a. Bernadette Lafont, Michael Lonsdale, Jean-François Stévenin, Bulle Ogier, Eric Rohmer, Bernard Eisenschitz, Barbet Schroeder, Jacques Doniol-Valcroze) vorgibt. Die Reflexion einer Bohème nach dem Scheitern der Hoffnungen von 1968. HISTOIRE DE MARIE ET JULIEN (Die Geschichte von Marie und Julien, F/I 2003, 24. & 29.10.) Das Leben, ein Traum? Julien (Jerzy Radziwilowicz) restauriert Uhren und lebt zurückgezogen mit seiner Katze Nevermore in einer Villa in Paris. Ein kleines Zubrot verdient er sich, indem er Madame X erpresst, die mit gefälschter chinesischer Seide handelt. Eines Tages tritt die schöne Marie (Emmanuelle Béart) in sein Leben. Die beiden erleben und erfinden eine Liebe voller sexueller Leidenschaft (die, erstmalig bei Rivette, auch gezeigt wird). Doch Marie umgibt ein Geheimnis – und Madame X scheint es zu kennen. Die Verquickung von Liebes- und Kriminalgeschichte verschwindet hinter dem Wechsel von Allegorie und Buchstäblichkeit, Traum und Wirklichkeit und dem Aufheben der Grenze zwischen Leben und Tod. Ein Geisterfilm. SECRET DEFENSE (Geheimsache, F 1998, 25.10.) Die Forscherin Sylvie (Sandrine Bonnaire) und ihr Bruder vermuten, dass der Tod des Vaters vor fünf Jahren kein Unfall, sondern ein von seinem Geschäftspartner arrangierter Mord war. Als ihr Bruder ankündigt, den Schuldigen töten zu wollen, beschließt Sylvie, ihm zuvorzukommen. Wie in einer zeitgenössischen Version des Elektra-Mythos macht sie sich mit einer Pistole in der Tasche auf, den Vater zu rächen. Die halbstündige Zugfahrt zum Landhaus des Verdächtigen ist von höchster Spannung und Suggestionskraft und zeigt ein Drama, das sich vorrangig in Gestik und Mimik seiner Hauptdarstellerin abbildet. Ein präziser Thriller mit Reminiszenzen an Hitchcock: eine kühle Heldin, die ein Geheimnis umgibt, und eine ausladende Treppe, die zum zentralen Handlungsort wird. LA BELLE NOISEUSE (Die schöne Querulantin, F/CH 1991, 27.10.) Frenhofer, ein älterer Maler (Michel Piccoli), künstlerisch seit langem in einer Schaffenskrise, empfängt auf seinem Landsitz im Süden Frankreichs den jungen Künstler Nicolas und dessen schöne Freundin Marianne (Emmanuelle Béart). Frenhofers letztes, unvollendetes Werk, für das einst seine Frau Liz (Jane Birkin) Modell stand, verbirgt sich in seinem Atelier. Nicolas bietet dem Meister Marianne als Aktmodell an und dieser akzeptiert. Ein schweigsamer Kampf zwischen Maler und Modell beginnt. Als das Werk nach fünf Tagen vollendet ist, haben sich die Beziehungen der Beteiligten zueinander tiefgreifend verändert. Frei nach Balzacs Novelle "Le chef-d'oeuvre inconnu" inszeniert Rivette eine ästhetische Obsession als Geschichte einer Disziplinierung und hinterfragt auf mehreren Erzählebenen die Grenze zwischen Kunst und Leben. Eine Veranstaltung mit freundlicher Unterstützung des Institut français und der Botschaft von Frankreich.