SOME LIKE IT HOT (Billy Wilder, USA 1959, 1. & 3.1.) Ende der 50er Jahre war Marilyn Monroes Status als Superstar, Sexgöttin und begehrteste Frau der Welt längst zementiert und somit Subtext der Großaufnahme ihres Gesichts im Trailer, der sie in einem kreisrunden "O" zeigt, welches von den Buchstaben "H" und "T" eingerahmt wird. Gesicht und Wort formulieren hier jedoch nicht nur das Offensichtliche, sondern verweisen auf den Ausgangspunkt dieser rasanten wie rasendkomischen Komödie: zwei Männer in Frauenkleidung (glorios: Jack Lemmon und Tony Curtis) in ständiger Vermeidung ihres Begehrens und kontinuierlich auf der Flucht vor der Chicagoer Gangsterwelt. ACCATTONE (Pier Paolo Pasolini, Italien 1961, 2. & 4.1.) Pasolini wird immer wieder als "Kino-Physiognomiker" bezeichnet, der mit ACCATTONE einen radikal-neuartigen Blick auf die römischen Vorstädte, das dort lebende Subproletariat und ihre Sprache wirft: Vittorio (Laiendarsteller Franco Citti), der sich selbst "Accattone" (Schmarotzer, Bettler) nennt, kann sich mit Diebstählen, Gaunereien und Zuhälterei kaum über Wasser halten. Als er sich in die junge Stella verliebt, versucht er – erfolglos – sein Leben zu ändern. Von der Polizei verfolgt, verunglückt er und stirbt. Inmitten einer kargen Vorstadtwüste inszeniert Pasolini Accattones Leben als Passionsgeschichte. In Cittis wandelbarem Gesicht laufen dabei Gegenwart und Mythos, Archetyp und Ikone, Rebellion und Empfindsamkeit und nicht zuletzt Identität und Repräsentation zusammen. KÁRHOZAT (Verdammnis, Béla Tarr, Ungarn 1987, 6. & 9.1.) Schaum, Bartstoppeln, Haut – minutenlang wird Schicht um Schicht in dieser geradezu körperlich erfahrbaren Rasur eine Demaskierung vollzogen und damit das reg- und emotionslose Gesicht des Protagonisten Karrer freigelegt. Karrer führt in einer öden Kleinstadt ein tristes Leben, lässt sich durch den Tag und abends meist in der Titanic Bar treiben. Die bereits in der Exposition skizzierte Erstarrung grundiert die sich entwickelnde Dreiecksgeschichte um Karrer, eine Sängerin und ihren Ehemann, deren existentielle Nöte in Tarrs charakteristischer Inszenierung filmischer Räume und Landschaften eingeschrieben sind. PERSONA (Ingmar Bergman, Schweden 1966, 7. & 11.1.) "Die wesentlichste Qualität des Kinos ist die Möglichkeit, sich dem menschlichen Gesicht anzunähern." Bergmans Ausspruch verwundert kaum: Das Ausloten des menschlichen Gesichts und seiner Grenze, der dünnen Schicht zwischen Innen und Außen, ist ein zentrales Element im Werk des schwedischen Regisseurs. PERSONA beginnt mit einem Kaleidoskop von Bildern zwischen Albtraum und Hommage an das Kino: u.a. versucht ein schmächtiger Junge riesenhafte Gesichter, projiziert auf eine Leinwand, mit seiner Hand quasi zu ertasten. Dieser Prozess des Ergründens verlängert sich in den Film, der eine symbiotische Beziehung zwischen einer Krankenschwester (Bibi Andersson) und einer plötzlich verstummten Schauspielerin (Liv Ullmann) beschreibt. Während eines Genesungsaufenthalts in einem abgeschiedenen Sommerhaus verschränken sich die Persönlichkeiten der beiden Frauen – das emblematische Bild der Verschmelzung der Gesichter der beiden Frauen wird zum Kristallisationspunkt des Films. STAROJE I NOWOJE / GENERALNAJA LINIJA (Das Alte und das Neue / Die Generallinie, Sergej Eisenstein, UdSSR 1929, 8. & 13.1., am Klavier: Eunice Martins) Einzig das lächelnde Gesicht der Bäuerin Marfa Lapkina, die leidenschaftlich für die Kollektivierung der Landwirtschaft in der noch jungen Sowjetunion, gegen die Großgrundbesitzer und Popen kämpft, tritt als Individuum aus einer Masse von Gesichtern hervor, die Eisenstein in DIE GENERALLINIE in erster Linie als kulturelle oder soziale Exponenten einsetzt. Wir sehen Kaskaden von Gesichter-Klassen und -Typen, oft karikiert, monströs, süffisant, aufgebläht. Unter ihnen Marfa Lapkina, deren Initialen und in die Ferne gerichtetes Lächeln den Zuschauer an eine andere mediale Ikone im Pariser Louvre denken lassen. MOUCHETTE (Robert Bresson, F 1967, 10. & 14.1.) Bressons Beweggründe für die Arbeit mit Laiendarstellern, die er als "Modelle" bezeichnet, finden sich in seinen Notizen zum Kinematographen und haben ebenso viel mit seinem Verständnis des Spiels wie mit seinem Verständnis der Inszenierung zu tun: "Keine Schauspieler. (Keine Schauspielführung). Keine Rollen. (Kein Rollenstudium). Keine Inszenierung. Sondern die Verwendung von Modellen, aus dem Leben genommen. SEIN (Modelle) anstatt SCHEINEN (Schauspieler)." Dabei maß Bresson dem Gesicht ganz besondere Bedeutung zu: "Modell: Ganz Gesicht!" Ganz in diesem Sinne entfaltet sich das misstrauische Wesen der kleinen Mouchette immer wieder in ihrem trotzigen Gesichtsausdruck und Blick, mit dem sie die enge Welt eines französischen Provinzdorfes bedenkt. Eine Kette von Enttäuschungen, Anfeindungen, seelischen wie körperlichen Verletzungen und menschliche Kälte bringen sie dazu, ihrem Leben ein Ende zu setzen. DIE FREUDLOSE GASSE (G. W. Pabst, D 1925, 15. & 17.1., am Klavier: Eunice Martins) Die starke körperliche Präsenz Asta Nielsens in ihren Filmen bzw. die ihres (Mienen-)Spiels ist eines der beeindruckendsten Charakteristika dieses Stars des frühen Kinos. Der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs sah in ihr als körpersprachlicher Erzählerin die Offenbarung filmischer Ausdruckskunst, ihr mimisches Vokabular bezeichnete er als exemplarisch. In Der sichtbare Mensch beschreibt er eine Szene aus DIE FREUDLOSE GASSE, in der Aufnahmen von Nielsens Gesicht zur "dramatischen Bühne" der Metamorphose des Schmerzes angesichts der Untreue ihres Geliebten werden. Für Balázs ist dies ausdrucksstarkes Beispiel seiner Theorie der polyphonen Physiognomik. Asta Nielsen spielt in DIE FREUDLOSE GASSE ein Proletariermädchen, das im Wien der Inflationszeit aus Not und Hunger zur Prostituierten wird. FACES (John Cassavetes, USA 1965–68, 16.1.) Als einer der Pioniere des amerikanischen Independent-Kinos stemmt sich Cassavetes hier erneut gegen alle formalen, narrativen und technischen Normen Hollywoods. Direktton und eine leichte 16-mm-Kamera ermöglichen Dreharbeiten, die man als "dokumentarisches Aufzeichnen von Fiktion im Moment ihrer Entstehung" (Ulrich Gregor) bezeichnen kann. Eine irisierende Fiktion – das Zerbrechen einer Ehe über einen Zeitraum von 36 Stunden hinweg –, die Cassavetes in weiten Teilen über Close-ups der Gesichter seines großartigen Ensembles erzählt: John Marley, Lynn Carlin, Gena Rowlands und Seymour Cassel. Gesichter (und Körper) zwischen Eruption und Starre, Exzess und Apathie werden zu beredten Außenflächen einer inneren Trümmerlandschaft. MEPHISTO (István Szabó, HU/BRD/A 1980, 18., 19. & 22.1.) Panzer und Versteck, Grimasse und Fassade: Eine flächige Mephisto-Maske als zweites Gesicht wird zur visuellen Entsprechung der vollständigen Gesichtslosigkeit des Protagonisten. Gleichermaßen maskiert/entblößt sich der ehrgeizig-eitle Schauspielers Hendrik Höfgen (Klaus Maria Brandauer), der seinem Karrierestreben unter den Nazis die eigenen Überzeugungen, Freunde und Gefühle opfert und erst in einer gespenstischen Abschlussszene im Berliner Olympiastadion sein persönliches Versagen realisiert. Basierend auf Klaus Manns gleichnamigem Roman, dessen Titelfigur Gustaf Gründgens entlehnt ist, zeigt Szabó die Korrumpierbarkeit der Kunst und der Künstler im Nationalsozialismus sowie die Illusion der Kompromissmöglichkeit mit der Macht. REPRISE (Wiederaufnahme, Hervé Le Roux, F 1996, 20. & 21.1.) Ausgangspunkt des Films ist ein Foto, auf dem man das wütende Gesicht einer Frau sieht, die drohend ihre Faust erhebt. Das Foto stammt aus einem kurzen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1968 über das Ende eines Streiks und die Wiederaufnahme der Arbeit in der Fabrik „Wonder“ bei Paris. 25 Jahre später macht sich Regisseur Le Roux auf die Suche nach der Frau – ausgestattet allein mit dem Foto ihres Gesichts. Er sucht nach Beteiligten des damaligen Streiks, konfrontiert sie mit dem historischen Material, hält ihre Reaktionen fest, fragt nach ihren Erinnerungen an die damaligen Vorkommnisse und an die mysteriöse Frau auf dem Foto. Le Rouxs umfassende Untersuchungen münden in ein komplexes Bild der damaligen Situation. DRUGSTORE COWBOY (Gus Van Sant, USA 1989, 22. & 27.1.) "ist die Vision eines Junkie-Gehirns." (Van Sant) Folgerichtig beginnt und endet der Film mit langen Großaufnahmen des leicht entrückten Gesichts der Hauptfigur (magnetisch: Matt Dillon). Aus dem Off beginnt Bob, seine Geschichte und die seiner Gang zu erzählen, deren Alltag von regelmäßigen (sehr erheiternden) Apotheken-Überfällen, aber auch riskanten Einbrüchen bestimmt ist. Ihr von der übrigen Welt völlig losgelöstes Leben navigiert fortwährend am Abgrund, bis ein Mitglied ihrer Viererbande an einer Überdosis stirbt. Beeindruckend der Gast-Auftritt (inklusive Close-up!) von Schriftsteller W.S. Burroughs als suspendierter Pfarrer und bekennender Junkie. BROKEN BLOSSOMS (USA 1919, 24. & 30.1., am Klavier: Eunice Martins) Der Legende nach hat die Bewunderung der Schönheit seiner Hauptdarstellerinnen D.W. Griffith auf die Idee gebracht, die Gesichter seiner weiblichen Stars in Großaufnahmen zu zeigen. In der Tat gehört Griffith zu den ersten Regisseuren, die mit Großaufnahmen von Gesichtern gearbeitet haben: In BROKEN BLOSSOMS setzt er dieses Stilmittel bereits mit einiger Vollendung ein. Derart ins Bild gesetzt wird Lillian Gish, das Griffith'sche Gesicht par excellence: eine klassische viktorianische Heldin mit "reiner Seele, von geradezu spiritueller Strahlkraft, nobel und würdig auch im tiefsten Kummer und Schmerz". In BROKEN BLOSSOMS spielt sie die Tochter eines tyrannischen Berufsboxers, der sie mit Gewalt der fürsorglichen Obhut eines chinesischen Kaufmanns entzieht. THE SCARLET EMPRESS (Josef von Sternberg, USA 1934, 29. & 31.1.) Viele bezeichneten ihr Konterfei als das Gesicht des 20. Jahrhunderts: Marlene Dietrich. Remarque beschrieb das Ergebnis von Sternbergs jahrelanger filmischer Stilisierungsarbeit als "a cool, bright face that didn't ask for anything, that simply existed, waiting; a face that could change with any wind of expression. One could dream anything into it." Ein breites Spektrum der Träume fließt im sechsten Sternberg-Dietrich-Film zusammen: Zwischen Surrealismus und Expressionismus, Tragödie und Farce, umgeben von verschwenderischen Kostümen, üppigen Dekors und schwerer Symbolik dekliniert die Dietrich eine atemberaubende Verwandlung von der unschuldigen preußischen Prinzessin zur kühl-erotischen, männerdominierenden russischen Zarin Katharina die Große. (mg)