PRIPYAT (Österreich 1999, 9.5., zu Gast: Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer & 19.5.) Die ukrainische Stadt Pripyat lag 1986 im Epizentrum des Reaktorunfalls von Tschernobyl. Als Nikolaus Geyrhalter zwölf Jahre nach dem verheerenden GAU die Gegend erkundet, ist Pripyat eine Geisterstadt inmitten der radioaktiv verseuchten Sperrzone von 30 Kilometern rund um das Kraftwerk, in der man nichts essen, nichts trinken und keinen Staub einatmen sollte. Sein eindrücklicher Film zeichnet in genau kadrierten Plansequenzen das Porträt von Menschen, die dennoch dort leben und arbeiten: eine Laborantin, die viel von früher spricht, ein altes Ehepaar, das nach der Umsiedlung aus Heimweh freiwillig zurückkam, eine Frau, die ohne Gas und Telefon seit Jahren auf ihre Evakuierung wartet und ein Ingenieur im AKW, der selbstgewiss Sicherheit garantiert. Die dokumentarischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind durchlässig für Beckett’sche Absurdität und Science-Fiction im Stil von Tarkowskijs Stalker.
ABENDLAND (Österreich 2011, 9.5., zu Gast: Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer & 14.5.) Europa bei Nacht: Grenzzäune, Nachtsichtgeräte, Überwachungskameras, die Frühgeborenen-Station eines Krankenhauses, ein Seniorenheim, eine Sitzung im Europäischen Parlament, Johlen und Saufen beim Münchner Oktoberfest, ein robotergestütztes Krematorium, Migranten am Fließband einer Briefsortieranlage, der Papst in Rom, das TV-Studio von Sky News, ein Erotik-Club, die Telefonseelsorge, Flughäfen, Fabriken, Flüchtlingslager, Demonstrationen gegen den Castor-Transport, ein Techno-Rave … Aus zahlreichen szenischen Miniaturen, jeweils präzise fotografierte Totalen, setzt sich ausschließlich im Modus des Zeigens ein Zustandsbericht über den Kultur- und Wirtschaftsraum Europa zusammen, der von Abschottung nach außen, Geburt und Tod, Fürsorge und Ausschluss, Wohlstand und Grausamkeit, Anonymität und Kontrolle erzählt.
ANGESCHWEMMT (Österreich 1994, 10.5., Einführung: Bert Rebhandl & 19.5.) Der Wärter des "Friedhofs der Namenlosen" weiß viele Geschichten zu erzählen von Wasserleichen, die er aus dem Fluss gefischt und begraben hat. An den Ufern der Donau finden sich außerdem ein rumänisches Ehepaar, das auf einem Frachtschiff wohnt, ein buddhistischer Tempel mit Mönch, Kleingärtner, Obdachlose, Soldaten in der Ausbildung und ein Fischer, der über die „Weaner“ und den geplanten Nationalpark grantelt. Die Protagonisten stellen sich selbst vor und präsentieren ihr jeweiliges Revier. Geyrhalters im 16-mm-Format nicht weit von Wien gedrehter Debütfilm vermittelt den Eindruck, an einen fernen, fremden Ort zu reisen. Die körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Menschen und Landschaft erzeugen eine gewisse Entrücktheit, während die Eigenheiten der Donau-Anrainer nicht der Komik entbehren.
UNSER TÄGLICH BROT (Österreich 2005, 11. & 14.5.) Es sind imposante Bilder: Ein Flugzeug, das über einem Sonnenblumenfeld Pflanzenschutzmittel versprüht, Szenen aus Schlachthöfen, Legebatterien und Monokulturen in riesigen Gewächshäusern – Schauplätze der industriellen Nahrungsmittelproduktion an unbenannt bleibenden Orten in Europa. Monumentale Räume, surreale Landschaften und bizarre Klänge. Die Hightech-Landwirtschaft ist eine Welt, die von Maschinen beherrscht wird. Die Kamera bleibt auf Distanz zur Technik, zu Tieren und Menschen. Keine Interviews, kein Off-Kommentar – ein Dokumentarfilm ohne ein gesprochenes Wort. In statischen Einstellungen und symmetrischen, zentralperspektivischen Totalen komponiert, reihen sich die Bilder im Breitwandformat aneinander und machen den hochtechnisierten Charakter der Lebensmittelherstellung augenfällig.
DAS JAHR NACH DAYTON (Österreich 1997, 12. & 16.5.) Bewegende Beobachtungen aus dem Jahr 1996, kurz nach dem dreieinhalbjährigen Krieg in Bosnien und Herzegowina, der durch das Friedensabkommen von Dayton Ende 1995 beendet wurde: Ein Serbe muss zum zweiten Mal mit seiner Familie das Haus verlassen, in dem er lebt, weil das Gebiet, in das er während des Krieges geflohen war, nun wieder an die moslemisch-kroatische Föderation zurückgegeben wird. Ein Schauspieler hat durch eine Granate beide Beine verloren. Ein moslemischer Schafhirte möchte seinen Freund im kroatischen West-Mostar wiedersehen. Ein kleiner Junge spielt mit den UN-Soldaten Fußball in den Ruinen der Nationalbibliothek in Sarajewo. Zerstörung allerorten und verzweifelte Menschen, die unter Verlusten und Entbehrungen leiden. Der vierteilige Film konzentriert sich in unkommentierten Interviewpassagen auf Schicksale Einzelner ungeachtet ihrer Nationalität. Es geht nicht um Schuld oder Unschuld, auch nicht um Erklärungen zu Ursache und Verlauf des Krieges, sondern um die Erfahrungen der Menschen und die offene Frage nach dem Miteinanderleben.
ELSEWHERE (Österreich 2001, 15.5., Einführung: Bert Rebhandl & 20.5.) Niger, Finnland, Namibia, West-Papua, Grönland, Australien, Nordindien, Sibirien, China, Sardinien, Kanada, Mikronesien – das sind die zwölf Stationen einer Reise, die das Filmteam in den zwölf Monaten des Jahres 2000 für diesen groß angelegten Konzept-Film unternahm. Zwölf Episoden à 20 Minuten gingen daraus hervor. Geyrhalter ist auf Spurensuche nach autarken, minoritären Lebensformen rund um den Globus, in entlegenen Regionen unserer globalisierten Welt und beobachtet die Menschen bei alltäglichen Verrichtungen in der Wüste, im Eis, im Dschungel oder auf den Bergen. Ein Mann findet ein gefrorenes Rentier ohne Kopf, zwei Robbenfänger beklagen sich über Brigitte Bardot, Kinder spielen Nintendo im Regenwald, Inuit-Frauen kaufen Fisch im Supermarkt. Bildgewaltige Tableaus von verschiedenen Formen der Zivilisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
7915 KM (Österreich 2008, 13. & 18.5.) 7.915 Kilometer beträgt die Distanz der legendären Rallye Paris-Dakar. Den Reifenspuren dieses rasanten Motorsport- und Medienspektakels folgend, das nur im Prolog zu sehen ist, macht der Film ausgiebig Station entlang des Streckenverlaufs: in Marokko, der Republik Sahara, Mauretanien, Mali und dem Senegal. Er setzt auf Entschleunigung und Verweilen, interessiert sich für die konkreten Lebensumstände der Bewohner/innen, führt Gespräche mit Männern, Frauen und Kindern. Ein ortskundiger Marokkaner macht sich lustig über das Vertrauen der Fahrer in ihre GPS-Systeme. Ein Mädchen ruft seine Ziege „Rallye“. In Mali warten junge Männer auf Überweisungen von Verwandten, die nach Europa gegangen sind. Die meisten empfinden sich als abgeschnitten von „Möglichkeiten“ jeder Art. Anhand der Bilder von den vielfältigen Lebensrealitäten offenbaren sich verschiedene Aspekte des Verhältnisses von "Afrika" und "Europa". (bik)
Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Österreichischen Kulturforum Berlin.