BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (Walther Ruttmann, D 1927, 1. & 3.7.) Emblematisch leuchtet Ruttmann in seinem Klassiker des Stadtsinfonie-Films den Lebensraum des Flaneurs aus: die schillernde Metropole Berlin Mitte der 20er Jahre und streift seinerseits bei genauerem Hinsehen auch den einen oder anderen ... In abwechselnd rasantem, dann wieder ruhigerem Tempo verschmelzen Aufnahmen des städtischen Lebens, von Häuserschluchten, Zügen, Straßen, Menschenmassen, Maschinen, Leuchtreklamen und Abendvergnügungen zu einem visuellen Rhythmus, einem pulsierenden Bilderfluss. Wir zeigen die restaurierte digitale Fassung des Films mit der Neueinspielung der Originalmusik von Edmund Meisel. LA NOTTE (The Night, Michelangelo Antonioni, I/F 1961, 1. & 2.7.) Langsam gleitet ein Fahrstuhl an einer Außenfassade hinab: Auf der einen Seite blickdichte Fenster, auf der anderen Seite öffnet sich eine moderne (Baustellen-)Stadtlandschaft, in die der Film gleich zu Beginn Zentimeter um Zentimeter abtaucht. Antonioni entwirft eine präzise, in gestochen scharfen, klaren Schwarzweiß-Bildern kadrierte Topografie zwischen Ödnis und Bauwut, in der sich die Ehe von Giovanni (Marcello Mastroianni) und Lidia (Jeanne Moreau) aufzulösen scheint. Auf ihren Streifzügen durch verfallene Hinterhöfe und über staubige Brachflächen durchmisst Lidia gleichzeitig eine hinter glänzenden Fassaden ausgehöhlte Stadt wie die Untiefen ihres eigenen Lebens. PERMANENT VACATION (Jim Jarmusch, USA 1980 | 5. & 8.7.) Als "tourist on a permanent vacation" zieht der 16-jährige Allie, ein stiller Rebell, dessen Vater die Familie verlassen hat und dessen Mutter in einer psychiatrischen Klinik untergebracht ist, durch das städtische Terrain der New Yorker Lower East Side. Ziellos unterwegs, trifft er auf skurrile Figuren: Kriegsveteranen, Frauen in Treppenhäusern, Männer in Kinos, Popcornverkäuferinnen. Der Film folgt Allies bedächtiger, sich dem Fortschreiten der Zeit entgegenlehnenden Wanderung durch die Metropole, bäumt sich in Allies spektakulärer Tanzszene zu den Klängen von Earl Bostics "Up There in Orbit" (in voller Länge!) auf, um schließlich der einzig möglichen Destination des jungen Drifters entgegenzustreben: Paris, der Ur-Stadt der Flaneure. CLÉO DE 5 À 7 (Mittwoch zwischen 5 und 7, Agnès Varda, F/I 1962, 6. & 11.7.) 90 Minuten Paris in Echtzeit, 90 Minuten, die die titelgebende Cléo (Chanteuse, Charmeuse, Flaneuse: Corinne Marchand) rastlos durch die französische Hauptstadt läuft, in Cafés sitzt, ein Hutgeschäft aufsucht, sich mit ihrem Geliebten trifft, eine Probe mit ihrer Band absolviert, ins Kino geht, einer möglichen neuen Liebe begegnet. All das, um die Zeit zu überbrücken, bis ihr das Ergebnis einer Krebsuntersuchung mitgeteilt wird. 90 Minuten, die nicht im Zeichen der Dramatisierung, des Bezwingens eines Schicksals stehen, sondern die Erfahrung der Stadt, das Erleben von Zeit und der eigenen Person vermitteln. BILDNIS EINER TRINKERIN (Ulrike Ottinger, BRD 1979, 7. & 14.7.) Dem drängenden Impuls folgend, die Vergangenheit zu vergessen, löst "Sie" (Tabea Blumenschein) – eine Mischung aus -Medea, Madonna, Beatrice, Iphigenie und Aspasia – ein One-Way-Ticket nach Berlin, um sich auf einem grotesken Streifzug durch Westberliner Kneipen, Hotels, Casinos und Bars zu Tode zu trinken. Entfremdet und unnahbar taucht sie ein in ein stilisiertes Berlin der späten 70er Jahre und trifft auf ihren nächtlichen Wanderungen auf Protagonisten des Insel-Undergrounds: Trinker, Rocksänger (spektakulär: Nina Hagen), Schriftsteller, Künstler und Taxifahrer. Ein Melodram. MANHATTAN (Woody Allen, USA 1979, 9. & 13.7.) "He adored New York City, he idolized it all out of proportion." Famous first words, mit denen Isaac (Woody Allen) die Suche nach dem perfekten Einstieg für seinen Roman beginnt. Unterlegt von einer minutenlangen Kaskade von Manhattan-Aufnahmen und Gershwins Rhapsody in Blue tastet Isaac nach den richtigen Worten, um die Gefühle für eine Stadt und die eigene Befindlichkeit darin zu formulieren. In unterschiedlichen Ansätzen skizziert er en passant auch den Flaneur im Wandel – vom "romantic thriver on the hustle bustle of the crowds" zum "jungle cat". Letztere taucht dann ab in Allens auf Takt geschnittene Manhattan-Beschwörung, adäquater Schauplatz der Lebenskrise des zweimal geschiedenen Fernsehautors Isaac auf der Suche nach Liebe und Verständnis. ACCATTONE (Pier Paolo Pasolini, Italien 1961, 10. & 17.7.) Unter den Klängen von Bachs "Matthäus-Passion" driftet die titelgebende Hauptfigur Accattone durch die Randzonen einer großstädtischen Wüste, schlägt sich als Zuhälter und Dieb mehr schlecht als recht durch – liebt und stirbt. Accattone ist unauflöslich verbunden mit dem ihn umgebenden trist-kargen, neorealistisch anmutenden urbanen Niemandsland, den römischen "borgate", wo Pasolini nach seiner Ankunft in Rom Anfang der 50er Jahre selbst eine Weile gelebt hatte. Die mit Laiendarstellern gedrehte, eindrückliche Passionsgeschichte wird zum Fanal des italienischen Kinos der frühen sechziger Jahre. MENSCHEN AM SONNTAG (Robert Siodmak, Rochus Gliese, Edgar G. Ulmer, D 1929/30, 12. & 25.7., am Klavier: Eunice Martins) Präzise Beschreibung – Typ: neusachlicher "Wirklichkeitsfilm" – eines Wochenendes im Leben von fünf jungen Berlinern – vier umtriebigen Berlin- und Wannsee-Wandlern sowie einer Stubenhockerin. Die zumeist spielerisch-leichte Collage aus dokumentarischen Aufnahmen und improvisierten Spielfilmszenen beginnt mitten im pulsierenden Berlin, registriert Betriebsamkeit wie Müßiggang, verpasste Chancen und Zufallsbekanntschaften, bevor sich der Film im zweiten Teil an den sommerfrischen Wannsee verlegt. Eine hoch-bewegliche, geradezu "flanierende" Kamera (Eugen Schüfftan) oszilliert zwischen Nähe und Distanz, Sympathie und Ironie, Detail und Masse. LE PONT DU NORD (An der Nordbrücke, Jacques Rivette, F 1981, 16. & 18.7.) Marie (Bulle Ogier), gerade aus dem Gefängnis entlassen, trifft zufällig auf Baptiste (Pascale Ogier), eine junge Frau mit Lederjacke und Motorradhelm, die durch die Straßen von Paris irrt, immer bereit, gegen steinerne Löwen-Denkmäler zu kämpfen wie ein moderner Don Quixote. Die beiden Frauen finden einen rätselhaften Stadtplan, der sie immer weiter in mysteriöse Regionen führt. Zwei Frauen in Paris, das so real wie unwirklich ist, Schauplatz der urbanen Umwälzungen von 1980 und fantastischer Märchenort gleichermaßen. Ein improvisierter, labyrinthischer Film, der nur aus Außenaufnahmen besteht. MNJE DWADZAT LJET (I Am Twenty, Marlen Chuzijew, UdSSR 1962/65, 15. & 19.7.) Meilenstein des sowjetischen Kinos, Schlüsselwerk des Tauwetter-Kinos und nicht zuletzt einzigartiges Zeitdokument der Stadt Moskau und ihrer jungen Bewohner. Im Mittelpunkt stehen Serjoscha, Nikolaj und Slava (jeweils 20 Jahre alt und Freunde seit der Kindheit), ihre Suche nach Sinn und Selbstbestimmung sowie die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration. Chuzijew entwirft ein Moskau, wie man es selten gesehen hat: abwechselnd poetisch, romantisch, dynamisch, unmittelbar – und zeigt eine junge Generation, die, die Stadt durchstreifend, nicht nur diese, sondern auch ihr Leben in Besitz nimmt. SHIVREI TMUNOT JERUSHALAIM (Fragments*
Jerusalem, Ron Havilio, Israel 1986–1997, 20.7.: Teil 1; 21.7.: Teil 2; 23.7.: Teil 1 & 2) Private Aufnahmen und historische Fotografien, Erinnerungen von Familienmitgliedern und offizielles Archivmaterial, städtebauliche und sozialgeschichtliche, religiöse und ethnische Überlegungen fügen sich zum künstlerischen Mosaik einer Stadt, einer Epoche, eines Lebens und einer Familie. Havilios Opus Magnum ist sechs Stunden lang, in sieben Kapitel gegliedert und in elf Jahren Arbeit entstanden – entsprechend dehnt Havilio den Begriff des Flanierens und wird zum Wanderer durch Raum und Zeit. LE FRANC (Der Aufrechte, Djibril Diop Mambéty, Senegal 1994, 22. & 30.7.) & LA PETITE VENDEUSE DE SOLEIL (Das kleine Mädchen, das die Sonne verkaufte, Djibril Diop Mambéty, Senegal 1999, 22. & 30.7.) Die Filme von Djibril Diop Mambéty sind unauflöslich mit Dakar, der Hauptstadt von Senegal, verbunden, durch die sich die Protagonisten seiner Filme als rastlose Wanderer bewegen. Mambétys Kamera bleibt ihnen dabei zumeist dicht auf den Fersen, schlägt Haken für Szenen des Alltagslebens der Stadt, für Besonderheiten des urbanen Raums. Sili in LA PETITE VENDEUSE … versucht, sich über alle Vorbehalte hinwegzusetzen und sich als Zeitungsverkäuferin zu behaupten. LE FRANC,im Sinne des deutschen Titels "Der Aufrechte",ist Marigo, der im Lotto gewonnen hat, den Preis jedoch nur abholen kann, wenn er seine Eingangstür, auf der das Los aufgeklebt ist, durch halb Dakar trägt. Silis und Marigos Streifzüge durch Dakar sind eingebettet in ein komplexes Gewebe von kleinen Vignetten, Szenerien, Nebenlinien, die nicht nur den Rhythmus des Films prägen, sondern auch Dakar für uns erschließen. VIAGGIO IN ITALIA (Reise in Italien, Roberto Rossellini, I 1954, 24. & 27.7.) Um ein geerbtes Haus zu verkaufen, begeben sich Catherine und Alex Joyce, ein britisches, kinderloses Ehepaar, nach Neapel. Die "italienische Reise", die für Catherine (Ingrid Bergman) auch eine in die Vergangenheit ist, führt zu einer tiefen Ehekrise. Fern der Heimat bemerken die beiden, dass sie sich einander entfremdet haben; die Scheidung steht im Raum. Erkundungsgänge durch Neapel, durch seine Museen und Ausgrabungsstätten werden für Catherine zur emotionalen Tour de Force, die eine vorsichtige Wiederannäherung möglich scheinen lässt. COUNTING (Jem Cohen, USA 2015, 26. & 28.7.) "Jem Cohen ist Flaneur und Straßenarbeiter zugleich, sein Film ein Archiv seiner Schritte – ein Lagerraum voll traumhafter Erinnerungen." (Ansgar Vogt) New York, Moskau, Porto, St. Petersburg, Istanbul sind nur einige der Städte, die Cohen aufsucht, um ein Porträt des gegenwärtigen Lebens zu schaffen, wie er es im Moment um sich herum wahrnimmt. Seine Alltags- und Straßenszenen, Aufnahmen von Häuserfronten und Lichtreflexen, von Menschen und Tieren verdichten sich zu einer intensiven, geradezu hypnotischen Bilderwelt, zu einer persönlichen Reflexion über das Verborgene, Flüchtige und nicht zuletzt über die Wahrnehmung von Zeit. CENTRAL PARK (Frederick Wiseman, USA 1989, 29. & 31.7.) Sommer in New York: In vergleichsweise leichtem, heiteren Tonfall porträtiert Wiseman den Central Park als einladenden Schauplatz urbaner Vitalität. Scheinbar beiläufig beschreibt er das breite Spektrum der großstädtischen Parkbenutzer, zeigt Erholung suchende Menschen, Sonntagsmaler, Tanzgruppen, Freizeit-Ornithologen und Dinosaurier-Imitatoren, Musiker und Tanzende genauso wie Gärtner und das Verwaltungspersonal des Parks. Eine Reverenz an das grüne Herz der Stadt, gleichzeitig Anziehungspunkt für klassische Flaneure wie Ausgangspunkt einer filmischen Flanerie. (mg)