LA CHIENNE (Die Hündin, Jean Renoir, F 1931, 1. & 2.1.) Als so früher wie leidenschaftlicher Verfechter des Direkttons experimentiert Renoir auch in seinem zweiten Tonfilm mit den Möglich- und Notwendigkeiten der direkten Tonaufnahme an den jeweiligen Drehorten. Die lärmigen Straßen von Montmartre grundieren Renoirs Tra-gödie in Gestalt einer Farce um einen braven Kleinbürger und Sonntagsmaler, der von seiner nörgelnden Ehefrau tyrannisiert wird und einer Prostituierten verfällt. Als er entdeckt, dass sie, für die er gestohlen und seine Anstellung als Kassierer verloren hat, ihn betrügt, bringt er sie um. Der Verdacht fällt auf ihren Zuhälter, der verurteilt und hingerichtet wird. Künstler, ohne es zu wissen, und Mörder, ohne es zu wollen, wird der Kleinbürger schließlich zum Clochard. MEEK'S CUTOFF (Kelly Reichardt, USA 2010, 3. & 8.1.) Der Sound der klassischen Western ist von Krieg und Eroberungen bestimmt, durchzogen von Kugelhagel und Kampfgeschrei, Saloongetöse und Streitereien. Kelly Reichardt setzt diesem Sound-Mythos einen stillen Weste(r)n entgegen und geht dem Klang dieser Stille in der mittelamerikanischen Prärie nach, in der sich Mitte des 19. Jahrhunderts ein Trapper und drei Familien auf der Suche nach einer Abkürzung nach Oregon verirren. Die aufwendig aufgenommenen Umweltgeräusche – das Rauschen des Windes, das Knarren der Räder, das Knistern des Feuers – evozieren einen noch nie vernommenen Klangraum des amerikanischen Westens. M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER(Fritz Lang, D 1931, 5. & 10.1.) Gellende Schreie, ein gepfiffenes Leitmotiv, rhythmisierte Dialoge und immer wieder plötzliche Stille: In seinem ersten Tonfilm nutzt Lang das neue Gestaltungsmittel konsequent als zusätzliches dramaturgisches Element, das die Bilder erweitert, statt sie nur zu begleiten. Zentrale Gestalt in dieser Mischung aus Gangsterfilm, Psychodrama und Thriller: Peter Lorre in der Rolle des triebhaften und getriebenen Kindermörders, den zunächst die Polizei und bald auch die kriminelle Unterwelt verfolgt. Als "M" den Ganoven ins eng gespannte Netz geht, wird kurzerhand ein Gangster-Tribunal einberufen. REAR WINDOW (Alfred Hitchcock, USA 1954, 6. & 9.1.) Der deutsche Verleihtitel DAS FENSTER ZUM HOF ist einer der wenigen Glücksgriffe der deutschen Synchronbranche. Er verweist auf einen zentralen Ton-Ort des Films: den Hof. Hier trifft eine Vielzahl von Geräuschen und Stimmen aufeinander, die das Leben in den (auf den Hof führenden) Wohnungen hörbar machen. Nur eine Wohnung bleibt tonlos – die des Modeschmuckverkäufers Thorwald, dessen verdächtige Machenschaften die Aufmerksamkeit eines temporär an einen Rollstuhl gefesselten Fotojournalisten (James Stewart) erregt. Gemeinsam mit seiner Verlobten (Grace Kelly) geht er den verschiedenen Verdachtsmomenten nach. WAVELENGTH (USA 1967, 7. & 14.1.) und SEATED FIGURES (Kanada 1988, 7. & 14.1.), die beiden halblangen Filme des kanadischen Filmemachers, Künstlers und Komponisten Michael Snow – Meilensteine des amerikanischen Avantgardefilms – reflektieren, markieren und verwischen die Grenzen zwischen Bild und Ton. Während in WAVELENGTH ein ansteigender und lauter werdender Sinuston (sowie andere Geräusche) mit einem Zoom auf die Fensterwand einer Wohnung verschränkt werden, was gleichermaßen hypnotisierend wie irritierend wirkt, kontrastiert Snow in SEATED FIGURES Aufnahmen rasend vorbeiziehender Straßenoberflächen mit den Geräuschen, die ein Kinopublikum samt Projektor von sich geben. THE BIRDS (Alfred Hitchcock, USA 1963, 12. & 17.1.) Unheilverkündende Geräusche, deren Quelle das Filmbild nicht oder erst verzögert freigibt – ein klassischer Kunstgriff bei Hitchcock. So auch in seinem – je nach Interpretationsweise – ökologischen oder Mutter-Sohn-Horrorklassiker THE BIRDS: Der kollektive Schrei der Vögel, das Hämmern der Schnäbel gegen das Haus, in dem sich Familie Brenner und die kurz zuvor angereiste Melanie Daniels (Tippi Hedren) vor dem Angriff der Tiere verbarrikadiert haben, das Geräusch der schlagenden Flügel wird hörbar, aber nicht sichtbar. Ein Angriff des Tons – konzipiert vom deutschen Sounddesigner Oskar Sala und realisiert auf seinem selbst entwickelten Mixturtrautonium, einer frühen Form des Synthesizers, an keinem anderen Ort als in Berlin. BRAND UPON THE BRAIN! (Guy Maddin, Kanada 2006, 13. & 23.1.) Einer der Höhepunkte des Forums der Berlinale 2007 war die Live-Vertonung von Maddins "Stummfilm" BRAND UPON THE BRAIN! Unter der Leitung des Regisseurs Maddin und des Komponisten Jason Staczek schufen das 30-Personen-Orchester, der Knabenchor, die Kinoerzählerin Isabella Rossellini und vier Geräuschemacher eine Klangebene, die sich auf die Tradition der Stummfilmbegleitung in den 10er und 20er Jahren bezog und sie aus einer heutigen Perspektive neu definierte. Das damalige spektakuläre Live-Event liegt mittlerweile als Bild-Ton-kombinierte Kopie vor: ein expressionistischer Detektivfilm um junge Forscher im Gefühlsstrudel der ersten Liebe, herrsch- und experimentsüchtige Eltern, Waisenkinder mit rätselhaften Wunden und eine Insel mit Leuchtturm. ENTUSIASM (Simfonija Donbassa, Dsiga Wertow, UdSSR 1930, 15. & 18.1.) Wertow sah im Tonfilm die Vervollkommnung des Mediums. "ENTUSIASM demonstriert die Möglichkeiten von Geräusch und Musik mit solch programmatischer Brillanz, dass der Film noch heute wie ein unüberholtes Lehrstück in Sachen Bild-Ton-Montage erscheint. Der Beginn, in dem die Gesänge des alten orthodoxen Russlands mit Einstellungen von Kirchen, Betenden und Alkoholikern gekoppelt sind, und die darauffolgenden 'Gesänge' von Hochöfen, Kolben und Erntemaschinen zählen zum Faszinierendsten in Wertows Schaffen." (Harry Tomicek) THE ELEPHANT MAN(David Lynch, USA/GB 1980, 16. & 21.1.) Wummernde Fabrikgeräusche des viktorianisch-industriellen Londons und das knistrige Rauschen der Gasbeleuchtung dominieren die bedrohlich-allgegenwärtige Soundstimmung der Welt des titelgebenden "Elefantenmenschen" John Merrick, der aufgrund seines deformierten Gesichts ein Leben als verspottete und gedemütigte Jahrmarktsattraktion fristen muss. Der Arzt Dr. Treves bringt ihn zwecks wissenschaftlicher Forschung in einem Hospital unter. Bald aber merkt er, dass er es mit einem feinfühligen und intelligenten Mann zu tun hat, der durch seine erzwungene Isolierung jahrelang stumm blieb, und versucht, ihm ein würdevolles Leben zu ermöglichen. APOCALYPSE NOW REDUX(Francis Ford Coppola, USA 1979/2001, 19. & 28.1.) Eineinhalb Jahre arbeiteten Dutzende Toningenieure, Sounddesigner und Cutter an einer Tonspur, die schließlich aus bis zu 200 Spuren in einem acht Monate dauernden Prozess zusammengesetzt wurde. Vor allem in der 2001 bearbeiteten, 50 Minuten längeren Fassung von Coppolas Vietnam-Drama entfaltet sich ein fulminantes, eigenständiges Klangmonument. DOUBLE TIDE (Sharon Lockhart, USA 2009, 20. & 25.1.) Das schmatzende Geräusch des Wattenschlicks, das Vögelzwitschern und das Nebelhorn in der Bucht von Maine wurden für die Künstlerin und Filmemacherin Lockhart zur Inspirationsquelle des Films. Für den Zuschauer werden sie zu wichtigen Koordinaten eines aufregend-schönen Klangraums, einer im Gegensatz zu den Bildern verlässlichen, auditiven Orientierungshilfe. Aus den poetischen Landschaftstönen taucht langsam das Arbeitsfeld einer Muschelsammlerin auf, die zweimal am Tag, morgens und abends, bei Sonnenauf- und -untergang ins weitläufige Watt zieht, um im Schlick der Bucht in mühsamer Handarbeit Muscheln zu sammeln. "Nur eine kontrapunktische Verwendung des Tons in Beziehung zum Bild wird neue Möglichkeiten der Montage-Entwicklung eröffnen." So Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow in ihrem Manifest zum Tonfilm (1928). Die praktische Umsetzung erfolgte 1933 in Wsewolod Pudowkins erstem Tonfilm DESERTIR (UdSSR 1933, 24. & 29.1.), in dem die Tonspur einen eigenständigen, vom Bild unabhängigen Rhythmus entwickelt. Zum Teil in Deutschland gedreht, handelt der Film von einem Hafenarbeiter, der zum Streikbrecher wird, dann jedoch von seinen kommunistischen Kollegen eine zweite Chance erhält. KING KONG (Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack, USA 1933, 27. & 30.1.) Der Sounddesigner und Autor Dirk Schaefer hat den für die Soundeffekte in diesem frühen Monster-/Ton-Film verantwortlichen Murray Spivack als einen der "ersten Sounddesigner" der Filmgeschichte bezeichnet. Seine auf unkonventionellste Weise entstandenen Toneffekte und die Kompositionen Max Steiners, denen sie in einer frühen Form des Mixens zugespielt wurden, erweisen sich bei genauem Hinhören als essentielle Informationen für das sich entspannende Drama um den König einer Insel mit urtümlicher Flora und Fauna, den Riesengorilla Kong. Von einem Abenteuerfilmteam entdeckt und gefangen, wird er als Attraktion nach New York verschifft. (mg)