NO HOME MOVIE (B/F 2015, 1.9., Einführung: Birgit Kohler) Zunächst ist minutenlang ein Baum in einer Wüstenlandschaft zu sehen, womöglich in Israel, vom Wind gepeitscht, doch unbeugsam. Die Einstellungsdauer ist genauso unnachgiebig wie der Baum in seinem Durchhaltevermögen. Bis auf Skype-Gespräche, die Chantal Akerman aus der Ferne mit ihrer Mutter führt, verlässt die Home-Movie-Kamera deren Brüsseler Wohnung danach nicht mehr. Die Tochter filmt ihre immer schwächer werdende Mutter beim Essen, Schlafen und bei gemeinsamen Gesprächen am Küchentisch. Es geht um ungebundene Schnürsenkel, eingelegte Gurken und Familienanekdoten – den Versuchen, sie über das Lager zum Sprechen zu bringen, entzieht sich die Mutter bis zuletzt. Eine große Nähe und Zärtlichkeit ist spürbar und die überaus enge Bindung von zwei Unzertrennlichen. Es ist ein bewegender Film, der vom nahenden Abschied geprägt ist – und von einem tiefen Schmerz darüber, "no home" zu haben.
JEANNE DIELMAN, 23 QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES (B/F 1975, 2.9.) Drei Tage im Leben von Jeanne Dielman (Delphine Seyrig), einer Witwe, die ihren 16-jährigen Sohn großzieht. Meist ist sie allein in der Wohnung, beschäftigt mit Hausarbeiten: aufräumen, Betten machen, Staub wischen, Geschirr spülen, Essen kochen. Am Nachmittag empfängt sie Herrenbesuch und verdient so ein Zubrot als Gelegenheitsprostituierte. All dies geschieht wortlos und mit ritueller Strenge. Die alltäglichen Routinen wirken in den langen, teilweise in Echtzeit und überwiegend mit unbewegter Kamera aufgenommenen Einstellungen wie eine Choreografie. Als die präzise Mechanik der immer gleichen Abläufe erschüttert wird, zerbricht die fragile Ordnung und es kommt zur Eskalation. "Der Film handelt davon, wie man die Zeit totschlägt, um seelischen Qualen aus dem Weg zu gehen. Vielleicht ist dieser Film ein Liebesfilm über meine Mutter." (C.A.) Ein Meilenstein der Filmgeschichte.
NEWS FROM HOME (Briefe von Zuhaus, B/F/BRD 1976, 3.9.) Ein strukturalistischer Essayfilm, der in langen, statischen Einstellungen sorgfältig kadrierte Bilder vom New York der 70er Jahre (Straßenfluchten, U-Bahnstationen, Häuserfronten) mit einem Soundtrack aus den Geräuschen der Stadt und Akermans Stimme aus dem Off kombiniert. Die Kamera bleibt auf Distanz und reagiert nicht auf das, was sich vor ihr abspielt. Auf der Tonspur ist Straßenlärm zu hören, der die Stimme der Filmemacherin manchmal übertönt. Chantal Akerman liest monoton und emotionslos 20 Briefe ihrer Mutter vor, geschrieben aus Brüssel an die 20-Jährige, die nach New York aufgebrochen war, um Filmemacherin zu werden – sie sind liebevoll, besorgt und bedrängend. Eine Spannung zwischen Ton und Bild, Intimität und Distanz, Familie und Welt prägt den Film.
TOUTE UNE NUIT (Eine ganze Nacht, B/F 1982, 3.9.) Eine schwüle Sommernacht in Brüssel – eine Nacht der Leidenschaften, der Verrücktheiten, der Sehnsüchte, der Schlaflosigkeit, der Trennungen und Wiederbegegnungen, der Hoffnungen und Enttäuschungen. Ein Reigen von Miniaturen, Fragmente von Geschichten, Paare und Passanten, eine Choreografie von Gesten des Begehrens und Abwehrens. Taxis und Bahnhöfe, Bars, Straßenecken und Hotelzimmer sind die Orte des Geschehens. Ein Film fast ohne Worte, nur der Ton der Straße ist zu hören, die nächtliche Sinfonie einer Großstadt. Unter den vielen Menschen, von deren Liebesverlangen und Einsamkeit der Film erzählt, ist auch Chantal Akermans Mutter Natalia: Sie lehnt in einem gelben Kleid, eine Zigarette rauchend, an der Außenwand ihres Hauses, und geht hinein, als die Stimme ihrer Tochter aus dem Off "Maman" ruft.
AUJOURD'HUI, DIS-MOI (Sag mir, F 1980, 4.9.) In dieser für die Fernsehserie "Grand-mères" entstandenen Arbeit besucht Chantal Akerman drei ältere jüdische Frauen in Paris, die aus Osteuropa stammen und das KZ überlebt haben. Ihre Berichte von den Erinnerungen an ihre Großmütter und von deren Leben vor und nach dem Holocaust sind in festen Einstellungen gefilmt. Ausgangspunkt ist eine Abwesende: Chantal Akermans Großmutter, Sidonie Ehrenberg, die als junge Frau deportiert und 1942 in Auschwitz ermordet wurde. Der autobiografische Aspekt wird explizit gemacht, indem Akermans Frage "Sag mir, Mama, welche Erinnerungen hast Du an Deine Mutter?" den Film eröffnet und die Antwort ihrer Mutter im Weiteren immer wieder aus dem Off zu hören ist.
HISTOIRES D'AMÉRIQUE – FOOD, FAMILY AND PHILOSOPHY (F/B 1988, 4.9.) Wie auf einer Theaterbühne treten nahe der Williamsburg Bridge im nächtlichen New York Menschen vor die Kamera und erzählen eine Geschichte. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung der ersten Generation jüdischer Flüchtlinge aus Osteuropa, die vor Pogromen und Vernichtung aus der alten in die neue Welt fliehen konnten. Es sind Geschichten von Überlebenden, aber nun Heimatlosen, gefunden in jiddischen Zeitungen, gesprochen von Schauspielern und durchsetzt mit jüdischen Witzen, die wie Boulevardtheatersketche inszeniert sind. Ein Diaspora-Film zwischen Fiktion und Dokument, Tragik und Komik, der kollektive Erinnerung gegen die Verdrängungen der Elterngeneration wachhalten möchte. Zum Problem der Tradierung sagt Chantal Akerman zu Beginn aus dem Off: "Meine eigene Geschichte ist voll von Lügen und voll von Rissen und ich habe nicht einmal ein Kind."
DEMAIN ON DÉMÉNAGE (Tomorrow We Move, F/B 2004, 5.9.) Die tolpatschige Charlotte (Sylvie Testud), Akermans Alter Ego, müht sich mit dem Schreiben eines erotischen Romans ab. Dass nach dem Tod des Vaters ihre Mutter Catherine (Aurore Clément) mit einem Piano bei ihr einzieht, macht das Leben nicht einfacher. Also wird der nächste Umzug geplant, worauf ein unablässiges Kommen und Gehen von Klavierschülern und Kaufinteressenten einsetzt. Eine musikalische Komödie mit viel Slapstick – in der gleichzeitig unverblümt die Erinnerung an den Holocaust thematisiert wird. Catherine hat das Lager überlebt, und sie liebt es zu lachen. Unter der heiteren, boulevardesken Oberfläche des Films lauern Grauen, Schmerz und eine schwere Last, für Mutter und Tochter. In die Fiktion integriert Akerman in einer zentralen Szene das reale Tagebuch ihrer eigenen, in Auschwitz ermordeten Großmutter mütterlicherseits.
LES RENDEZ-VOUS D'ANNA (Annas Begegnungen, F/B/BRD 1978, 6.9.) Bahnhöfe, Züge, Hotelzimmer, Flure, Hallen, Fenster, Siedlungen (mit statischer Kamera aufgenommen) – Anna (Aurore Clément) ist eine belgische Filmemacherin, die von Essen über Brüssel nach Paris unterwegs ist, um ihren neuen Film vorzustellen. Sie bleibt dabei zutiefst allein, obwohl sie Menschen trifft, die mit ihr sprechen: ein deutscher Lehrer, der die Last der Geschichte auf seinen Schultern trägt, eine Freundin ihrer Mutter, ein Unbekannter im Zug. Ihre Monologe formieren sich zu einer kollektiven Klage über den Zustand Europas. Das nüchterne (Selbst-)Bildnis einer Regisseurin – und eines Europas, das es nicht mehr gibt. Ein Wiedersehen mit der Mutter (Lea Massari) endet damit, dass die beiden im gleichen Hotelbett übernachten und Anna von ihrer Liebe zu einer Frau erzählt. (bik)
NO HOME MOVIE ist auch am 3.9. im Rahmen der Dokfilmwoche im fsk-Kino zu sehen.