Der 1899 in London geborene Hitchcock war seit seiner Kindheit theater- und filmbesessen und begann seine Laufbahn mit Anfang 20 in der englischen Filmindustrie als Illustrator von Zwischentiteln. Nebenbei schrieb er zum Spaß Drehbücher, wurde bald Regieassistent und auch für Dekors und Bauten zuständig. In dieser Zeit lernte er die Cutterin und Scriptgirl Alma Reville kennen, die er 1926 heiratete und die seine wichtigste Mitarbeiterin werden sollte. Spätestens mit THE LODGER (1926) galt er als riesiges Regietalent, das von Kritik und Publikum gleichermaßen geschätzt wurde. THE PLEASURE GARDEN (GB/D 1926, 1.2.) Hitchcocks erste Regiearbeit, eine deutsch-britische Koproduktion, die in München und Italien gedreht wurde, trug im Deutschen den Titel "Irrgarten der Leidenschaft" und ist in der Welt der Amüsierlokale angesiedelt. Zwei Tänzerinnen des Londoner Nachtklubs "The Pleasure Garden" stehen im Zentrum der Handlung, ihre amourösen Verwicklungen, unerfüllten Sehnsüchte und moralischen Überschreitungen: Melodram und mörderische Eifersucht nehmen ihren Lauf. Ganz Hitchcock ist "die Betonung kleiner entlarvender Gesten anstelle ausladender Theatralik, die bei Stummfilmregisseuren so beliebt war." (Donald Spoto) THE LODGER (GB 1926, 3.2.) Von Hitchcock selber als erster "echter Hitchcock-Film" bezeichnet, ist "a story of the London fog", so der Untertitel, ein klassischer Suspense-Thriller. London wird von einem selbsternannten "Avenger" heimgesucht, der im Schutz der Dunkelheit junge blonde Frauen umbringt. In diesem Klima der Angst löst der geheimnisvolle neue Untermieter der Familie Bunting einen schrecklichen Verdacht aus: Ist er der gesuchte Mörder? Das expressionistische Licht, die düsteren Sets, die Schatten und Spiegeleffekte verraten Hitchcocks Interesse am deutschen Film der Zeit. Hitchcock schwebte ein offenes Ende vor, doch der vom Superstar Ivor Novello gespielte Untermieter sollte sich den Vorgaben der Produzenten gemäß als unschuldig herausstellen – womit er der erste in der langen Reihe von unschuldig Verfolgten in Hitchcocks Œuvre werden sollte. DOWNHILL (GB 1927, 5.2.) Der tiefe Fall eines Zöglings der Oberschicht: Der junge Roddy (Ivor Novello) wird aufgrund falscher Verdächtigungen vom Internat verwiesen und von seinem Elternhaus verstoßen. Er sucht sein Auskommen in den Vergnügungslokalen der Großstadt, und eine unverhoffte Erbschaft ermöglicht ihm die Heirat mit einer umschwärmten Schauspielerin, die sich bald als Betrügerin herausstellt. Aller Illusionen beraubt, setzt Robby seinen Abstieg in ein halluzinierendes Delirium fort, bis seine Eltern von seiner Unschuld erfahren. Als zentrales Motiv stellt Hitchcock die Täuschung durch den falschen Schein heraus, die sowohl den Protagonisten als auch die Zuschauer_innen erfasst. EASY VIRTUE (GB 1927, 6.2.) Ein Melodram nach einem Bühnenstück von Noël Coward, in dem eine geschiedene, wiederverheiratete Frau von ihrem schlechten Ruf und den Vorurteilen der Gesellschaft eingeholt wird. "Es geht in dem Film um Urteile und Vorurteile, Sichtweisen und Voyeurismus, Sinnlichkeit und Prüderie. Und es geht um Suspense und elegante filmische Auflösungen. Es treten auf: eine coole Blonde, ein schwacher Junge und eine monströse Mutter. Man möchte diesen kleinen Film beinahe als ein Prélude zu vielen späteren Werken Hitchcocks verstehen. Die Credits liegen über der Silhouette einer Kamera: weil EASY VIRTUE vom Bildermachen handelt, in jeglicher Beziehung." (Hans Schifferle) In einer bezaubernden Szene vermittelt sich der Gesprächsverlauf eines Heiratsantrags einzig im Gesicht der mithörenden Telefonistin, deren Ausdruck sich von Freude, Bestürzung, gespannter Erwartung hin zum Triumph wandelt. THE RING (GB 1927, 7.2.) Ein Liebesdrama im Boxmilieu nach einem Originaldrehbuch von Hitchcock, wobei der titelgebende Ring sowohl für den Box- wie für den Ehering steht. Zwei Boxer begehren die gleiche Frau, die mit dem einen verlobt ist, aber von dem anderen nicht lassen kann. Mit atemberaubender Virtuosität gefilmt, lässt Hitchcock sein Leitmotiv nie aus den Augen: Der Ring, den er in zahlreichen Szenen und Bildern findet, aber auch die moralische Zweideutigkeit des Symbols wie der Protagonisten.
THE FARMER'S WIFE (GB 1928, 8.2.) Der Farmer Samuel Sweetland, Witwer in den besten Jahren, macht sich auf Brautschau. Die von ihm auserkorenen Kandidatinnen probiert er der Reihe nach durch, um erstaunt feststellen zu müssen, dass sein Vorschlag bestenfalls auf Gelächter, schlimmstenfalls auf erbosten Widerstand stößt. Dass das Gute so nah liegt, dass man es nur zu leicht übersieht, bemerkt er erst am Ende. Die rustikale, aber auch bissige Komödie, die nach Wunsch der Produzenten den riesigen Erfolg des gleichnamigen Bühnenstücks wiederholen sollte, ist vor allem eine Studie über skurrile Typen des Landlebens, von Hitchcock mit urkomischem Witz inszeniert. CHAMPAGNE (GB 1928, 9.2.) Eine amüsante, leichtfüßige Komödie über eine verwöhnte, amerikanische Erbin, deren Vater beschließt, ihr eine Lektion zu erteilen. Schon der erste Auftritt der sorglosen Betty ist eine Wucht: Mit der Absicht, ihren Vater zu ärgern, arrangiert sie mitten über dem Atlantik eine Landung ihres Flugzeugs, um das Schiff ihres Geliebten zu erreichen. Aus Wut lässt sie der Vater im Glauben, das – durch Champagnerhandel erworbene – Familienvermögen habe sich in Luft aufgelöst, womit Bettys berufliche Laufbahn in Amüsierlokalen, wo der Champagner in Strömen fließt, beginnt. Wie immer voll mit visuellem Witz, beginnt und endet der Film mit einem Blick durch ein Champagnerglas. THE MANXMAN (GB 1929, 10.2.) Eine Dreiecksgeschichte um zwei Kindheitsfreunde, Fischer der eine, Richter der andere, und die von beiden geliebte Frau (Anny Ondra). Hin- und hergerissen zwischen Liebe und Loyalität, verstricken sich die Protagonisten in Schuldgefühlen und Leidenschaft und versuchen verzweifelt, dem sie erstickenden Schicksal zu entkommen. In Kontrast dazu steht die Weite und Schönheit der Landschaftsaufnahmen des auf der Isle of Man angesiedelten Films. In seinem vielleicht schönsten Stummfilm nimmt Hitchcock seine stilistischen Spielereien zugunsten des emotionalen Gehalts und einer dichten Darstellung des Liebesdramas stark zurück. BLACKMAIL (GB 1929, 11.2.) markiert die Schwelle vom Stumm- zum Tonfilm und wurde gleichzeitig mit beiden Verfahren gedreht, ist aber sehr selten als Stummfilm zu sehen. Er ist vor allem eine Studie über Schuld und zeigt den "Master of Suspense" in seinem ganzen Können. "BLACKMAIL birgt eine Anthologie hitchcockscher Versatzstücke und leitmotivischer Themen: rasante Exposition, ironische Variation über Tat und Schuld, Verstrickung im Netz der Justizmaschinerie, bösartiges Happy-End." (Harry Tomicek) In einem seiner ersten und längsten Cameo-Auftritte ist Hitchcock als U-Bahn-Fahrgast zu sehen, der von einem kleinen Jungen geärgert wird. (al) "The Hitchcock 9" ist ein Gemeinschaftsunternehmen von BFI, Rialto Pictures/Studiocanal und Park Circus/ITV.