So sind mexikanische Filme zu einer festen Größe bei den wichtigsten internationalen Filmfestivals avanciert, wo der Innovationsgeist und die Experimentierfreude des neuen Filmschaffens immer mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Anstatt klischierte Bilder und Vorstellungen über Drogen, Armut und Gewalt ins Zentrum zu rücken, eröffnen viele Filme neue Sichtweisen auf das Land, hinterfragen gängige Medienbilder und beleuchten abseitige Regionen und Themen. Selbst wenn schmerzhafte Geschichten von Unrecht, Brutalität und Willkür im Vordergrund stehen, ist der Zugang zu ihnen stets ungewöhnlich und bewusst indirekt – der Zuschauer wird nicht an die Hand genommen, sondern zum Nachdenken angeregt, wodurch der Nachhall umso größer ist. Die enorme Komplexität und Vielfalt von Lebensrealitäten im heutigen Mexiko finden ihre Entsprechung in einem großen Spektrum verschiedener Ideen und Stimmungen: Es ist ein Kino, das sich große Freiheiten erlaubt und häufig auf Sinnlichkeit und atmosphärische Erfahrbarkeit setzt; ein experimentelles, poetisches und manchmal auch surreales Kino, das sich für Klassenverhältnisse, Mordfälle, Hip-Hop, indigene Traditionen und Bürokratie ebenso interessiert wie für Stille, Landschaft, Literatur, Alltagsrhythmen und geometrische Formen.
Da die Filmemacher*innen der hier vorgestellten Filme verschiedenen Generationen angehören und in unterschiedlichen Kontexten arbeiten, lassen sie sich nur schwer als Bewegung oder Schule begreifen. Ihre sehr diversen Filme haben aber doch eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie verweisen auf durchlässige Grenzen verschiedener Art. Nicht nur stellt die Vielfalt der Geschichten die Unterscheidung in Zentrum und Peripherie infrage, da das Geschehen in Tijuana im Norden, Chiapas im Süden oder Merida im Westen ebenso viel über das Land aussagt wie die Erzählungen, die in der Riesenmetropole von Mexiko-Stadt entstehen. Auch das hochpolitisierte Grenzgebiet zu den USA rückt in einigen Filmen ins Blickfeld: ein zwielichtiger Zwischenbereich, der Grenzgänger aller Art beheimatet und sich als Nährboden für Träume und Fiktionen erweist. Auf abwechslungsreiche Art und Weise verwischen viele Filmemacher*innen die Grenzen zwischen Spiel-, Essay- und Dokumentarfilm und schaffen damit ganz eigene Spielarten jener Mischformen, die seit Jahren eine wichtige Tendenz im internationalen Kino darstellen. Und wie im Zeitalter des globalisierten Filmschaffens üblich, gerät auch die Kategorie des "nationalen" Kinos ins Wanken: Mexikanische Filmemacher*innen leben, arbeiten und studieren grenzüberschreitend, genauso wie Regisseur*innen aus benachbarten Regionen sich in Mexiko ausbilden oder inspirieren lassen. Die neuen Wege im mexikanischen Film führen zugleich in das Land hinein wie aus dem Land heraus: "Mexikanische" Arbeiten entstehen ebenso in Kanada, Japan, der Dominikanischen Republik, Frankreich oder den USA.
Mit Ausnahme der zahlreichen mexikanischen Beiträge, die im Forum der Berlinale gezeigt wurden, ist dieses Kino hierzulande bisher kaum präsent. Vor diesem Hintergrund bietet das von James Lattimer kuratierte Programm "Durchlässige Grenzen – Neue Wege im mexikanischen Film" dem Berliner Publikum die einmalige Möglichkeit, sich mit dem Einfallsreichtum des zeitgenössischen mexikanischen Filmschaffens vertraut zu machen und ungewöhnliche Sichtweisen auf das Land zu entdecken. Die Auswahl besteht aus 15 langen, mittellangen und kurzen Filmen, die bei renommierten internationalen Festivals Erfolge feierten und in vielen Fällen zum ersten Mal in Deutschland vorgeführt werden. Neben Werken bereits etablierter Regisseur*innen wie Nicolás Pereda, Natalia Almada, Tatiana Huezo und Pedro González-Rubio zeigt die Reihe auch Arbeiten neuer, preisgekrönter Nachwuchsregisseure wie Ricardo Silva, Pablo Chavarría Gutiérrez und Pablo Escoto.
Wir freuen uns sehr, dass einige Regisseur*innen ihre Filme in Berlin persönlich vorstellen werden. Zwei Expert*innen ergänzen und kontextualisieren das Programm mit ihren Einführungen: der Filmwissenschaftler, Kurator und Festivalleiter Gonzalo de Pedro Amatria, der 2016 einen Artikel über die aktuelle mexikanische Kinolandschaft für das Magazin des Berlinale Forums verfasste, und die Festivalleiterin Eva Sangiorgi, die 2011 das Festival Internacional de Cine de la Universidad Nacional Autónoma de México (FICUNAM) in Mexiko-Stadt gründete, das sich zu einer wichtigen Plattform für das neue mexikanische Kino entwickelt hat.
EL PALACIO (The Palace, Nicolás Pereda, Mexiko/Kanada 2013, 2.6., zu Gast: Nicolás Pereda & 20.6.) Ein großes Haus mit Garten mitten in der Stadt: ein Hund, der im Hof angekettet ist; ein Esel, der ungestört durch die Zimmer wandert; 17 Frauen. Sie putzen sich die Zähne, kochen, führen den Haushalt – alles zusammen. Doch was zunächst wie eine eigenartige Wohngemeinschaft wirkt, entpuppt sich schließlich als skurrile Ausbildungsstätte für angehende Haushaltsgehilfinnen. Surreal und wirklichkeitsnah zugleich, ist Peredas mittellanger Film ein geheimnisvolles Porträt jener, deren Arbeit unsichtbar bleiben soll, und wirft dabei die provokante Frage auf, inwiefern man lernen kann, sich zu unterwerfen.
MINOTAURO (Minotaur, Nicolás Pereda, Mexiko/Kanada 2015, 2.6., zu Gast: Nicolás Pereda & 20.6.) Für die jungen, hippen Bewohner*innen einer geräumigen Großstadtwohnung ist harte Arbeit ein Fremdwort, auch wenn sie in ihrem sonnigen Zuhause ebenso gefangen zu sein scheinen wie die Protagonistinnen von EL PALACIO. Sie bestellen Pizza oder Drogen und lesen aus Romanen vor, immer wieder versinken sie in Schlaf – vielleicht träumen sie von Labyrinthen? "MINOTAURO spielt in einer Wohnung voller Bücher, Leser und Künstler. Eine Wohnung, die aus sanftem Licht, ewigen Nachmittagen, Schläfrigkeit und Träumen besteht. Die Außenwelt bleibt draußen. Mexiko brennt, aber die Figuren in MINOTAURO schlafen ungestört weiter". (NP)
LOS AUSENTES (The Absent, Nicolás Pereda, Mexiko/Spanien/Frankreich 2014, 3.6., mit einer Einführung von Gonzalo de Pedro Amatria und einem Gespräch mit Nicolás Pereda & 14.6.) Im Süden Mexikos wohnt ein alter Mann allein in einer Hütte am Strand. Weil er das Landstück jedoch nicht offiziell besitzt, droht ihm nach vielen Jahren der Umzug, was Erinnerungen an alte Zeiten hervorruft. Plötzlich taucht ein jüngerer Mann als weiterer Bewohner der Hütte auf. Handelt es sich um einen Eindringling, ein Gespenst oder lediglich um eine Rückblende? Auf rätselhafte Weise lässt Pereda verschiedene Erinnerungsschichten ineinanderfließen und verzichtet dabei weitgehend auf Dialog und Handlung zugunsten von Stimmung. Mit großer Anmut fängt die grandiose Kamera die simple Schönheit von Hütte, Wald und Strand ein und bewegt sich ständig und oft fast unbemerkt, um weitere, scheinbar unwichtige Details in den Blick zu nehmen: die Geografie der Strandsiedlung, das Straßengeschehen neben dem Gerichtssaal, die Kinder, die durch die Bäume zum Meer laufen.
TODO LO DEMÁS (Everything Else, Natalia Almada, Mexiko 2016, 4. & 22.6.) Doña Flors Alltag ist beinahe aufdringlich unspektakulär: Tag für Tag steht sie in ihrer faden Wohnung auf, die sie mit ihrer geliebten Katze teilt; anschließend fährt sie mit der U-Bahn zur Arbeit, überprüft bei ihrem farblosen Job in der öffentlichen Verwaltung penibel Dokumente und führt abends pedantische Listen. Doch während sie versucht, alles minutiös zu kontrollieren, spielt die Außenwelt nicht mit – seien es die Kunden, die in der falschen Farbe schreiben oder außerhalb des Kastens kritzeln, die Fernsehreportagen, die vom tagtäglichen Chaos berichten, oder die gewaltsamen Angriffe, die sich draußen auf den Straßen ereignen. Als plötzlich auch noch Doña Flors Katze stirbt, bröckelt ihre hermetische Existenz zusehends. Der erste Spielfilm der gefeierten Dokumentarfilmerin Natalia Almada behält sowohl die scharfe Beobachtung und präzise Kadrierung ihrer bisherigen Arbeiten bei, als auch die Fähigkeit, ungewöhnliche Perspektiven auf ihr Land zu finden: Bürokratie ist auch eine Art von Gewalt, die alle andere Ge-waltarten befördert.
AS WITHOUT SO WITHIN (Mexiko/USA/Großbritannien 2016, 5. & 24.6.) Manuela de Labordes auf Filmmaterial gedrehte Abschlussarbeit am California Institute for the Arts ist eine geheimnisvolle Untersuchung von Farben, Texturen und geometrischen Formen, mathematisch und sinnlich zugleich. AS WITHOUT SO WITHIN gehört bereits zu den meistbesprochenen Kurzfilmen der letzten Jahre.
SANTA TERESA Y OTRAS HISTORIAS (Santa Teresa and Other Stories, Nelson de los Santos Arias, Mexiko/USA/Dominikanische Republik 2015, 5.6., zu Gast: Nelson de los Santos Arias & 24.6.), ebenfalls ein CalArts-Abschlussfilm, nähert sich auf experimentelle Art einem Meisterwerk des jungen Jahrhunderts an: dem Roman „2666“ des chilenischen Autors Roberto Bolaño, der um die ungelöste Serie von Frauenmorden in Ciudad Juárez an der US-amerikanischen Grenze kreist, die Bolaño als Santa Teresa fiktionalisierte. Im Geist der ebenso freien Vorlage fügt der dominikanische Regisseur Nelson de los Santos Arias eine wilde Mischung unterschiedlicher Elemente zu einem stimmungsvollen, essayistischen, schwer zu bestimmenden Ganzen zusammen: Religiöse Zeremonien treffen auf Tanzpartys, schwarzweiße Digitalbilder auf farbige Filmpassagen, atemberaubende Landschaftspanoramen auf stille Innenaufnahmen, aus dem Off gelesene Romanpassagen auf in die Kamera gesprochene Zitate.
TE PROMETO ANARQUÍA (I Promise You Anarchy, Julio Hernández Cordón, Mexiko/Deutschland 2015, 8. & 23.6.) Miguel lässt sich gerne durch Mexiko-Stadt treiben, auf seinem Skateboard, im Auto oder in der U-Bahn. Er hängt mit anderen Skatern ab, kifft, oder schaut zu, während seine Kumpels rappen. Sein Leben wäre gänzlich unbekümmert, stünden Geld und Liebe nicht im Weg: Über die Runden kommt er nur, indem er seine Freunde dazu bringt, Blut zu spenden; und nichts wünscht Miguel sich sehnlicher als eine Beziehung mit Johnny, dem Sohn der Haushaltshilfe seiner Mutter, der auf seine Freundin nicht ganz verzichten möchte. Als die Dealer, die das Blut weitergeben, auf immer größere Mengen bestehen und dabei ihr wahres Gesicht zeigen, erfährt Miguel, dass es oft einfacher ist, die Wahrheit auszublenden, als sich ihr zu stellen. In seinem ersten mexikanischen Spielfilm setzt Cordón auf schwungvolle Kamerafahrten und pulsierende Musik, um eine Geschichte zu erzählen, die zwischen Coming-of-Age-Story, schwuler Liebesgeschichte und Krimi changiert und auf eindrückliche Weise verdeutlicht, wie Klassenzugehörigkeit und Privilegien blind machen.
LAS LETRAS (The Letters, Pablo Chavarría Gutiérrez, Mexiko 2015, 9.6., zu Gast: Pablo Chavarría Gutiérrez & 21.6.) Im Juni 2000 fand im ländlichen Chiapas im Süden Mexikos ein Überfall auf einen Streifenwagen statt, bei dem alle Polizisten ums Leben kamen. Auf der Suche nach einem Sündenbock beschuldigte man Alberto Patishtán, einen Professor indigener -Herkunft, den Überfall ausgeübt zu haben und verurteilte ihn zu 60 Jahren Haft. Anstatt Erklärungen zu suchen oder Interpretationen zu liefern, setzt der ehemalige Biologe Chavarría auf Sinnlichkeit und atmosphärische Erfahrbarkeit, um sich dem strittigen Fall anzunähern: Seine Kamera ist ständig in Bewegung, während sie die Landschaft abtastet oder den Kindern Patishtáns folgt, die ohne ihren Vater aufwachsen. Neben zeitgenössischen Tanzeinlagen, Nahaufnahmen von Gesichtern und Texturen der Umgebung sind es die titelgebenden Briefe, die als Hauptbindeglied für Chavarrías ambitionierten Dokumentarfilm fungieren und mitten im Bild eingeblendet werden: zutiefst bewegende Zeichen der Liebe und Solidarität.
INORI (Pedro González-Rubio, Japan 2012, 10. & 29.6.) Nach dem Erfolg seines Spielfilmdebüts Alamar lud die bekannte japanische Regisseurin Naomi Kawase Pedro González-Rubio ein, einen Film in ihrer Heimat zu realisieren. Die daraus resultierende Dokumentation porträtiert ein abgelegenes, durch demografischen Wandel in seiner Existenz bedrohtes Bergdorf und baut auf die gleichen Qualitäten auf, mit denen González-Rubio schon bei seinem Spielfilm bezauberte: geduldige Beobachtung, ein intuitives Verständnis von Bildkomposition und Schnitt, eine besondere Zärtlichkeit gegenüber seinem Subjekt. Zwischen Alltagsverrichtungen und Gesprächen über die Vergangenheit nehmen bestechende, beinahe meditative Bilder der natürlichen Umgebung großen Raum ein: dunkle Pinienwälder, plätschernde Flüsse, steile Berghänge, vom Wind getragene Blüten. Obwohl die Einwohner beklagen, dass die Natur das Dorf langsam verschluckt, legt der Film nahe, dass lediglich eine Phase des Lebens in eine andere übergeht.
PACÍFICO (Pacific, Fernanda Romandía, Mexiko 2016, 10. & 29.6.) An der Pazifikküste wird ein Haus gebaut, dessen glatte Betonwände und modernistischer Baustil wenig mit der eher rustikalen Gegend gemein haben. Auf der Baustelle begegnen sich die siebenjährige verträumte Coral, die sich dort gern die Zeit vertreibt, und der Bauarbeiter Oriente, ein Möchtegern-Dichter, der immer ein Cervantes-Zitat parat hat. Während das Haus Gestalt annimmt, entsteht eine zarte Freundschaft zwischen den fantasievollen Außenseitern. Angenehm beiläufig wird nebenbei der Alltag des kleinen Küstenorts eingefangen: Ausflüge mit dem Boot, Pausen auf der Baustelle, faule Nachmittage am Strand. Ein ruhiges, gelassenes Porträt vom Leben am Meer, in dem sich das Erfundene sachte in das Dokumentarische einfügt, mit einer Kamera (u.a. Pedro González-Rubio), die mühelos die Feinheiten von Licht und Strukturen auffängt.
CIUDAD MAYA (Andrés Padilla Domene, Mexiko/Frankreich 2016, 15. & 28.6.) Moderne Technik beleuchtet präkolumbianische Traditionen: Entstanden an der französischen Filmschule Le Fresnoy erkundet Padilla Domenes Kurzfilm die Maya-Kultur im ost-mexikanischen Merida und verknüpft auf atmosphärische Weise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
LA BALADA DEL OPPENHEIMER PARK (The Ballad of Oppenheimer Park, Juan Manuel Sepúlveda, Mexiko 2016, 15. & 28.6.) ist ein zutiefst empathischer Dokumentarfilm, der sich der Lebenswirklichkeit der amerikanischen Urein-wohner*innen widmet. Porträtiert werden die Nutzer des titelgebenden Parks in Vancouver – hier stand früher eine indigene Begräbnisstätte, heute ist der Park das Zentrum eines inoffiziellen Reservats. In lichtdurchfluteten Einstellungen beobachtet Sepúlveda den schwierigen Alltag der mehrheitlich drogen- oder alkoholabhängigen und obdachlosen Parkbewohner und gibt ihnen einen Raum, in dem sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen können. Vom Regisseur eingebrachte Gegenstände aus der Geschichte ihrer Vorfahren – Pfeile, Wagen, Kopfschmuck – schaffen eine spielerische Möglichkeit, dieses Kulturerbe zu den eigenen Bedingungen zu würdigen.
TEMPESTAD (Tatiana Huezo, Mexiko 2016, 16.6., zu Gast: Tatiana Huezo & 25.6.) Aus dem Off erzählt eine Frau, wie sie aus der Haft entlassen wurde und durch ganz Mexiko reisen musste, um nach Hause zu gelangen; wie sie durch das Zusammenspiel von Korruption, Kartellmacht und Pech im Gefängnis landete und wie die alltägliche Brutalität dort nur schwer auszuhalten war. Obwohl die Bilder, die ihre Geschichte begleiten, sich nicht direkt auf die Ereignisse -beziehen, evozieren sie die entsprechende Stimmung: eine Busreise durch das Land, Polizeikontrollen, die Gesichter von Reisenden, Landschaftsaufnahmen durch eine milchige Fensterscheibe, ein aufkommendes Gewitter. Abrupt wird die Erzählung unterbrochen und eine andere Stimme kommt zu Wort. Nun spricht eine andere Frau, die auch im Bild erscheint, sie erzählt von ihrer Arbeit beim Zirkus, von der Geburt ihrer Tochter, von Erinnerungen, die sie nicht loslassen. Tatiana Huezos radikaler Dokumentarfilm lässt eine Leidensgeschichte nahtlos in eine andere übergehen und verlässt sich darauf, dass der Zuschauer sie miteinander in Verbindung bringt und im Kopf um jene Bilder des Schreckens ergänzt, auf die der Film selbst verzichtet.
NAVAJAZO (Ricardo Silva, Mexiko 2014, 17.6., Einführung: Eva Sangiorgi & 30.6.) Obwohl die ersten Bilder aus alten Amateurfilmen vor Wärme strotzen, sprechen die eingeblendeten Titel bereits von einem Krebs, der sich langsam ausbreitet. Dass die Grenzstadt Tijuana sich nicht gerade im besten Zustand befindet, geht ebenso aus den darauffolgenden Kurzporträts hervor: Jungen aus der Nachbarschaft, die sich gegen Bezahlung bekämpfen; ein Filmproduzent, der Pornofilme mit wahrer Liebe anreichern will; Obdachlose, die Heroin vor laufender Kamera spritzen; ein Grufti am Keyboard, der vom Untergang der Stadt singt, ein Spielzeugsammler, dessen Sammlung einem Friedhof ähnelt. Je häufiger die Kamera auf sich aufmerksam macht und die Protagonisten eine Synchronklappe mit den Händen nachahmen, desto klarer wird, dass vieles von dem, was man sieht, reines Spiel ist. Rau, provokant und grotesk entwirft Ricardo Silvas preisgekrönter Debütfilm ein Bild von Tijuana, das bewusst in der Grauzone zwischen realem Leiden und externen Klischees angesiedelt ist.
RUINAS TU REINO (Ruins Your Realm, Pablo Escoto, Mexiko 2016, 17.6., Einführung: Eva Sangiorgi & 30.6.) Ein Fischerboot im Golf von Mexiko: an Deck ein Berg glitschiger Krabben und Fische, Seile und Kabel, das Auf und Ab des Bugs, die immer wechselnde Farbe von Wasser und Himmel, Sonnenlicht auf Körpern und Segeln, ein schnarchender Fischer, der vom Meeresboden träumt, nächtliche Blitzschläge. Eine Frau an Land: stille Innenräume, ein Waldspaziergang im Sonnenuntergang, zirpende Grillen und Vogelgesang. Eingefangen mit einer Kamera, die ständig in Bewegung ist und stets nach abstrakten Formen sucht, ist der erste Langfilm des erst 20-jährigen Pablo Escoto eine immersive Studie vom Leben am Meer, die Bilder, Töne, Texturen und Assoziationen auf sinnlich-intuitive Weise aneinanderreiht. Die Poesie der körnigen Digitalbilder findet ihren Widerhall in den maritimen Zitaten aus Werken von Pico della Mirandola, Jules Michelet und Raúl Zurita. (jl)
Das Programm wurde ermöglicht durch eine Förderung des Hauptstadtkulturfonds und kuratiert von James Lattimer. Dank an Hanna Keller, Dane Komljen und Carlos A. Gutiérrez.