GELEGENHEITSARBEIT EINER SKLAVIN (Alexander Kluge, BRD 1973, 1. & 6.9.) Laut Wolf Donner "ein Film über ein Gesicht", nämlich das der im Juni diesen Jahres verstorbenen Ärztin und großartigen Schauspielerin Alexandra Kluge. Ausschließlich in einigen wenigen Filmen ihres Bruders Alexander Kluge zu sehen, war sie bei GELEGENHEITSARBEIT EINER SKLAVINauch als Drehbuchautorin tätig und prägte die Hauptfigur Roswitha somit in gleich zweifacher Weise. Nuanciert und mit außerordentlicher Leinwandpräsenz spielt Alexandra Kluge hier eine Hausfrau und Mutter, die als Ernährerin der Familie zunächst illegale Abtreibungen durchführt, um dann zur Arbeitskämpferin zu werden. IL VANGELO SECONDO MATTEO(Das Erste Evangelium – Matthäus, Pier Paolo Pasolini, I/F 1964, 2. & 7.9.) Gesichtsaufnahmen des Laiendarstellers Enrique Irazoqui dominieren Pasolinis Film über Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi. Nach langer Suche entdeckte der italienische Regisseur seinen Hauptdarsteller durch puren Zufall. "Als Enrique mein Arbeitszimmer betrat, wusste ich sofort: Das ist mein Christus. Er hatte genau das schöne, stolze, gleichzeitig menschliche und entrückte Gesicht der von El Greco gemalten Christusfiguren." Doch Pasolini ging es weniger um faktische Ähnlichkeiten zwischen Irazoqui und Christus-Darstellungen in der Kunstgeschichte. Vielmehr greift er auf kunsthistorische Inszenierungs-Strategien zurück und zeigt Jesus als universellen Archetyp und Ikone. SOME LIKE IT HOT (Billy Wilder, USA 1959, 3. & 12.9.) Ende der 50er Jahre war Marilyn Monroes Status als Superstar, Sexgöttin und begehrteste Frau der Welt längst zementiert und somit Subtext der Großaufnahme ihres Gesichts im Trailer, der sie in einem kreisrunden "O" zeigt, welches von den Buchstaben "H" und "T" eingerahmt wird. Gesicht und Wort formulieren hier jedoch nicht nur das Offensichtliche, sondern verweisen auf den Ausgangspunkt dieser rasanten wie rasendkomischen Komödie: zwei Männer in Frauenkleidung (glorios: Jack Lemmon und Tony Curtis) in ständiger Vermeidung ihres Begehrens und kontinuierlich auf der Flucht vor der Chicagoer Gangsterwelt. LA MORT DE LOUIS XIV (Der Tod von Ludwig XIV., Albert Serra, F/P/E 2016, 5. & 9.9.) Blass-silbrig schimmernd umkränzt ein monumentaler Haarturm das von Kerzenschein illuminierte, fahle Gesicht des sterbenden französischen Königs Ludwig XIV. – ein von Alter, Krankheit und Schmerzen gezeichnetes Schlachtfeld. In einem gespenstischen Sterbezimmer ans Bett gefesselt, umringt von Hofschranzen und Scharlatanen, gleitet der "Sonnenkönig" dem Tod entgegen. Grandios übersetzt Jean-Pierre Léaud als Louis XIV. den Zerfall eines Monarchen in nuancierte Mimik, wechselt mit kleinsten Gesichtsregungen vom Requiem zur Groteske. Ein Kammerspiel, ein Historienfilm, ein Totentanz. PERSONA(Ingmar Bergman, Schweden 1966, 8. & 11.9.) "Die wesentlichste Qualität des Kinos ist die Möglichkeit, sich dem menschlichen Gesicht anzunähern." Bergmans Ausspruch verwundert kaum: Das Ausloten des menschlichen Gesichts und seiner Grenze, der dünnen Schicht zwischen Innen und Außen, ist ein zentrales Element im Werk des schwedischen Regisseurs. PERSONA beschreibt eine symbiotische Beziehung zwischen einer Krankenschwester (Bibi Andersson) und einer plötzlich verstummten Schauspielerin (Liv Ullmann). In einem Sommerhaus verschränken sich die Persönlichkeiten der beiden Frauen – das emblematische Bild der Verschmelzung der zwei Gesichter wird zum Kristallisationspunkt des Films. KÁRHOZAT(Verdammnis, Béla Tarr, Ungarn 1987, 10. & 19.9.) Schaum, Bartstoppeln, Haut – minutenlang wird Schicht um Schicht in dieser geradezu körperlich erfahrbaren Rasur eine Demaskierung vollzogen und damit das reg- und emotionslose Gesicht des Protagonisten Karrer freigelegt. Karrer führt in einer öden Kleinstadt ein tristes Leben, lässt sich meist in der Titanic Bar durch den Tag und den Abend treiben. Die bereits in der Exposition skizzierte Erstarrung grundiert die sich entwickelnde Dreiecksgeschichte um Karrer, eine Sängerin und ihren Ehemann, deren existentielle Nöte in Tarrs charakteristischer Inszenierung filmischer Räume und Landschaften eingeschrieben sind. THE SCARLET EMPRESS(Josef von Sternberg, USA 1934, 13. & 17.9.) Viele bezeichneten ihr Konterfei als das Gesicht des 20. Jahrhunderts: Marlene Dietrich. Remarque beschrieb das Ergebnis von Sternbergs jahrelanger Stilisierungsarbeit als "a cool, bright face that didn't ask for anything, that simply existed, waiting; a face that could change with any wind of expression. One could dream anything into it." So auch die Rolle der Kaiserin Katharina, die Marlene Dietrich in verschwenderischen Kostümen und umgeben von schwerer Symbolik mit kühler, erotischer Verve meisterlich verkörpert. TWENTY CIGARETTES(James Benning, USA 2011, 14. & 30.9.) Ein Film von 20 Zigarettenlängen: 20 Freundinnen und Freunde Bennings unterschiedlicher Herkunft und Altersgruppen; 20 Arten zu rauchen, routiniert, souverän, verunsichert, widerstrebend; 20 Gesichter, die sich vor variierendem Hintergrund rauchend dem Zuschauer zuwenden. Seine so intimen wie präzisen Porträts, screen tests gleich, zeugen nicht nur von der Suche Bennings nach "real faces", sondern auch von der Annäherung des Chronisten der amerikanischen (Industrie-)Landschaften an ein neues Terrain filmischer Auseinandersetzung. MEPHISTO (István Szabó, HU/BRD/A 1980, 15. & 24.9.) Panzer und Versteck, Grimasse und Fassade: Eine flächige Mephisto-Maske als zweites Gesicht wird zur visuellen Entsprechung der vollständigen Gesichtslosigkeit des Protagonisten. Gleichermaßen maskiert entblößt sich der ehrgeizig-eitle Schauspieler Hendrik Höfgen (Klaus Maria Brandauer), der seinem Karrierestreben unter den Nazis die eigenen Überzeugungen, Freunde und Gefühle opfert und erst in einer gespenstischen Abschlussszene im Berliner Olympiastadion sein persönliches Versagen realisiert. Basierend auf Klaus Manns gleich-namigem Roman, dessen Titelfigur Gustaf Gründgens entlehnt ist, zeigt Szabó die Korrumpierbarkeit der Kunst und der Künstler im Nationalsozialismus. DRUGSTORE COWBOY (Gus Van Sant, USA 1989, 16.9.) "Die Vision eines Junkie-Gehirns“ (Van Sant) – folgerichtig beginnt und endet der Film mit langen Großaufnahmen des leicht entrückten Gesichts der Hauptfigur (Matt Dillon). Aus dem Off beginnt Bob, seine Geschichte und die seiner Gang zu erzählen, deren Alltag von regelmäßigen (sehr erheiternden) Apotheken-Überfällen, aber auch riskanten Einbrüchen bestimmt ist. Ihr von der übrigen Welt völlig losgelöstes Leben navigiert fortwährend am Abgrund, bis ein Mitglied ihrer Viererbande an einer Überdosis stirbt. Beeindruckend der Gast-Auftritt (inklusive Close-up!) von Schriftsteller W.S. Burroughs als suspendiertem Pfarrer und bekennendem Junkie. REPRISE(Wiederaufnahme, Hervé Le Roux, F 1996, 18.9.) Ausgangspunkt des Films ist ein Foto, auf dem man das wütende Gesicht einer Frau sieht, die drohend ihre Faust erhebt. Das Foto stammt aus einem kurzen Dokumentarfilm von 1968 über das Ende eines Streiks und die Wiederaufnahme der Arbeit in der Fabrik "Wonder" bei Paris. 25 Jahre später macht sich Regisseur Le Roux auf die Suche nach der Frau – ausgestattet allein mit dem Foto ihres Gesichts. Er sucht nach Beteiligten des damaligen Streiks, konfrontiert sie mit dem historischen Material, hält ihre Reaktionen fest, fragt nach ihren Erinnerungen an die damaligen Vorkommnisse und an die mysteriöse Frau auf dem Foto. LA PASSION DE JEANNE D'ARC (Carl Theodor Dreyer, F 1928, 21. & 26.9.) "Nichts in der Welt kann mit dem menschlichen Gesicht verglichen werden. Es ist eine Landschaft, die zu erforschen man niemals müde wird. Zu sehen, wie es von innen heraus beseelt wird und sich in Poesie verwandelt." (Dreyer) In reduzierten Dekors, zurückgenommener Darstellungsweise sowie starker Verknappung der zeitlichen Abläufe kondensiert Dreyer Prozess, Verurteilung und Hinrichtung der historischen Figur. Umso deutlicher treten die Gesichter und die Mimik der Protagonisten in den Vordergrund, Folien der Erstarrung, Grausamkeit, aber auch der emotionalen Erschütterung. (mg)