TSCHELOWJEK S KINOAPPARATOM (Der Mann mit der Kamera, Dsiga Wertow, UdSSR 1929, 1. & 13.8., am Klavier: Eunice Martins) Wertow ist nicht nur einer der bedeutendsten Pioniere der Filmgeschichte, sondern auch ein früher Filmtheoretiker, der u.a. für seine militanten Manifeste bekannt geworden ist. Auch der Eingangstext zu TSCHELOWJEK S KINOAPPARATOM gleicht einem Kurzmanifest: "Diese experimentelle Arbeit hat das Ziel, eine wahrhaft internationale, absolute Filmsprache zu erschaffen, welche auf der totalen Abgrenzung von der Sprache des Theaters und der Literatur basiert." Es folgt ein Strom von Bildern, die die verschiedenen Facetten eines Tages im bewegten Leben einer Großstadt illustrieren. RIDDLES OF THE SPHINX (Laura Mulvey, Peter Wollen, GB 1977, 2. & 4.8.) Laura Mulveys bahnbrechender Essay "Visual Pleasure and Narrative Cinema" (1975) gehört zu den klassischen Gründungs-Texten der feministischen Filmtheorie. Ihr Film RIDDLES OF THE SPHINX setzt die Untersuchung der narrativen und ästhetischen Codes im Kino filmisch fort und bietet in drei Abschnitten und 13 Kapiteln eine alternative Struktur weiblicher Repräsentation im Film. ES (Ulrich Schamoni, BRD 1966, 3. & 29.8.) Das Oberhausener Manifest von 1962 ist das bekannteste deutsche Film-Manifest der Nachkriegszeit. 26 Unterzeichner erklärten darin ihren "Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen." Die ersten abendfüllenden Spielfilme im Geiste des Oberhausener Manifests – vielfältig in Stil und Inhalt, experimentierfreudig, mit einem scharfen Blick auf Deutschland, seine Gesellschaft und die bundesrepublikanische Politik – entstanden Mitte der 60er Jahre. So auch Schamonis ES. Temporeich und ungezwungen kreist der Film um ein junges Paar, das unverheiratet in Berlin lebt. Als sie schwanger wird und das Kind heimlich abtreibt, gerät das vermeintlich unbürgerliche Paar in eine Krise. LES 400 COUPS (François Truffaut, F 1959, 5. & 11.8.) Auch wenn es bekanntermaßen kein Manifest der Nouvelle Vague gibt, hat Truffauts Text "Der französische Film krepiert an den falschen Legenden" (1957) manifestartigen Charakter für die sich damals formierende Bewegung. Er endet mit: "Ich stelle mir den Film von morgen vor wie ein Bekenntnis oder wie ein Tagebuch. Die jungen Filmer werden sich in der ersten Person ausdrücken und schildern, was ihnen widerfahren ist." Entsprechend autobiografisch grundiert ist LES 400 COUPS, die Geschichte des zwölfjährigen Antoine (Jean-Pierre Léaud), der in ärmlichen und lieblosen Verhältnissen aufwächst. PATHER PANCHALI (Satyajit Ray, Indien 1955, 6. & 25.8.) Unter der Überschrift "What Is Wrong with Indian Films?" meldete sich 1948 Satyajit Ray zu Wort und reklamierte, die indischen Regisseure sollten das Leben selbst wieder zum Rohstoff ihrer Filme werden lassen. Er forderte weniger Glanz, weniger Musik, weniger Mystik, dafür einen unverstellten Blick für die Bilder und Töne der Wirklichkeit. 1955 setzte er sein Manifest für das indische Autorenkino in seinem Debüt PATHER PANCHALI um. Im Mittelpunkt steht die Kindheit des kleinen Apu, der mit seiner Familie auf dem Land wohnt. TERRA EM TRANSE (Land in Trance, Glauber Rocha, Brasilien 1967, 8. & 15.8.) Ein zentraler Text des Cinema Novo ist die von Rocha 1965 verfasste "Ästhetik des Hungers", in der er die brasilianische Kultur als eine Kultur des Hungers definierte und eine revolutionäre Ästhetik der Gewalt forderte. In TERRA EM TRANSE zeichnet er ein komplexes Bild der Machtverhältnisse in seinem Land. Der Protagonist Paulo, ein dichtender Intellektueller, schließt sich erst einem rechtskonservativen Politiker, danach einem populistischen Reformer an. Enttäuscht muss er erkennen, dass es beiden nur um die Macht und nicht um gesellschaftliche Veränderung geht. DESERTIR (Wsewolod Pudowkin, UdSSR 1933, 9. & 17.8.) "Der Traum vom Tonfilm ist Wirklichkeit geworden", heißt es in Eisensteins/Pudowkins/Alexandrows "Manifest zum Tonfilm" (1928), in dem sie sich in Weiterentwicklung der Montagetheorie mit Möglichkeiten und Problemen des Tonfilms auseinandersetzten. "Nur eine kontrapunktische Verwendung des Tons wird neue Möglichkeiten der Montage-Entwicklung und Montage-Perfektion erlauben." Ein Beispiel kontrapunktischer Verwendung des Tons ist Pudowkins erster Tonfilm DESERTIR über einen Hafenarbeiter, der zum Streikbrecher wird, dann jedoch von seinen kommunistischen Kollegen eine zweite Chance erhält. L'ÂGE D'OR (Das goldene Zeitalter, Luis Buñuel, F 1930, 10. & 16.8.) "Ich glaube an die künftige Auflösung der beiden äußerlich so widersprüchlichen Zustände – Traum und Wirklichkeit – in einer Art von absoluter Wirklichkeit, der Surrealität." In seinem 1. Manifest des Surrealismus definierte André Breton 1924 den Surrealismus als „psychischen Automatismus“, bei dem das freie Spiel der Gedanken nicht durch die Vernunft kontrolliert werden sollte. Schlüsselfilm des Surrealismus ist L'ÂGE D'OR, dessen Flut von Bildern, Metaphern und Symbolen ein provokatives Pamphlet gegen die gesellschaftliche Ordnung der damaligen Zeit darstellte. DIE ARCHITEKTEN (Peter Kahane, DDR 1990, 12. & 18.8.) 1988 plädierten junge DEFA-Filmemacher*innen in ihrem sog. "Manifest der Nachwuchsgruppe" für einen "Bruch mit jeder Form von Tabuisierung", forderten mit "Zuspitzung in Prozesse der Realität einzugreifen, deren Resultat noch nicht feststeht." Einer, der sich mit diesem Manifest gegen die Verhinderungsmechanismen in der Filmproduktion der DDR zur Wehr setzte, war Peter Kahane, dessen Film DIE ARCHITEKTEN die erfolglosen Bemühungen um die Entstehung eines modernen Stadtteils zeigt, gleichzeitig eine eindringliche Metapher für die Situation der jungen DEFA-Filmemacher*innen war. BEIQING CHENGSHI (A City of Sadness, Hou Hsiao-Hsien, Taiwan 1989, 20. & 22.8.) Kaum bekannt ist das Manifest einer Gruppe taiwanesischer Filmschaffender um Hou Hsiao-Hsien und Edward Yang, die 1987 ihre Sorge um das taiwanesische Kino formulierten, das sie durch eine einseitig kommerziell orientierte Filmpolitik bedroht sahen. Das Manifest wurde zum Grundstein der Taiwanesischen Neuen Welle. Hous kurze Zeit später entstandener Film A CITY OF SADNESS zeigt das Schicksal des Landes im Spiegel des Lebens einer Familie, die zwischen 1945 und 1949 in die Unruhen und Wirrnisse im Land verwickelt wird. REMINISCENCES FROM A JOURNEY TO LITHUANIA (Jonas Mekas, USA 1971, 21. & 27.8.) "Wir haben die 'Große Lüge' im Leben und in der Kunst satt. Wir wollen keine falschen, auf Hochglanz polierten, glatten Filme – wir wollen sie rau, ungeglättet, aber lebendig." Mit diesen Worten endet die erste Erklärung der New American Cinema Group, einem Zusammenschluss unabhängiger Filmemacher, Produzenten und Verleiher um Jonas Mekas, Kenneth Anger, John Cassavetes, Shirley Clarke u.a., die das Ziel verfolgten, eine Verleihplattform für den künstlerischen, avantgardistischen, unabhängigen Film zu schaffen. Die sich aus der Erklärung entwickelnde Film-Makers' Cooperative existiert nach wie vor und verfügt über ein so umfangreiches wie beeindruckendes Verleihprogramm. Darunter auch REMINISCENCES FROM A JOURNEY TO LITHUANIA – ein Filmgedicht von Jonas Mekas, einer der zentralen Figuren der New American Cinema Group, und Zeugnis einer Reise in die Vergangenheit, zu den Ursprüngen: jenen der Herkunft und jenen des Mediums. ZHANTAI (Platform, Jia Zhang-ke, China 2000, 23. & 26.8.) Auf die Frage nach der entscheidenden Kraft in der Entwicklung des Filmemachens antwortete Jia ohne Zögern: "The age of amateur cinema will return!" Kurze Zeit darauf fasste er seine Gedanken zu einem Manifest unter gleicher Überschrift zusammen und formulierte eine Absage an die künstlerische und kreative Erstarrung. Stattdessen forderte er mehr kulturelle Diversität im Film, größere Offenheit gegenüber neuen Wegen, mehr Leidenschaft, Gewissenhaftigkeit und Integrität beim Filmemachen. Jias ZHANTAI – drei Jahre zuvor entstanden – thematisiert bereits die Auswirkungen von Gegenströmungen im kulturellen Mainstream und betrachtet den dramatischen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel in China in den 80er Jahren. Im Mittelpunkt stehen Mitglieder einer Theatergruppe in einer chinesischen Kleinstadt, die die großen und kleinen Umbrüche auf und hinter der Bühne durchleben. GENUINE (Robert Wiene, D 1920, 24. & 31.8., am Klavier: Eunice Martins) Der umfangreichste Text der in dieser Magical History Tour versammelten Schriften ist zweifellos Rudolf Kurtz' Abhandlung zum expressionistischen Film von 1926. Als Fürsprecher der expressionistischen Kunstbewegung legte der Filmkritiker die erste ausführliche Bestandsaufnahme des expressionistischen Filmschaffens in Deutschland vor. Kurtz' Hauptaugenmerk lag dabei u.a. auf Wienes Genuine, der aus seiner Perspektive einer der wirklich expressionistischen Filme war. Der Film kreist um ein geheimnisvolles Haus, in dem eine Vampirin in einer unterirdischen Grotte haust. Als ein junger Mann das Haus betritt, nimmt die Tragödie um Mord und Liebe, Wahnsinn und Leidenschaft ihren Lauf. FESTEN (Das Fest, Thomas Vinterberg, DK 1998, 28. & 30.8.) Mit einem "Keuschheitsgelübde2 wartete das 1995 zum 100. Geburtstag des Kinos vorgestellte Manifest Dogma 95 auf. Zwei dänische Regisseure, Lars von Trier und Thomas Vinterberg, kritisierten darin die Wirklichkeitsentfremdung und den Illusionscharakter des zeitgenössischen Kinos und stellten zehn Regeln auf, die einen neuen Bezug zur Wirklichkeit schaffen sollten. Der erste Dogma-Film, FESTEN, zerlegt eine nur vordergründig intakte Familie an der 60. Geburtstagsfeier des Familienvaters. Hinter der großbürgerlichen Fassade tun sich Abgründe auf – der Festsaal wird zum Austragungsort einer schonungslosen Abrechnung. (mg)