EMIGRAZIONE ’68 (Emigration 68, Luigi Perelli, I 1969) und TREVICO – TORINO. VIAGGIO NEL FIAT-NAM (Trevico-Turin. Eine Reise nach Fiat-Nam, Ettore Scola, I 1973, 10.5., zu Gast: Luigi Perelli) Infolge der Anwerbeabkommen mit einer Reihe nordeuropäischer Länder drängte der italienische Staat Männer aus den armen Regionen des Südens als „Gastarbeiter“ ins Ausland zu gehen: EMIGRAZIONE ’68 dokumentiert die Verlusterfahrungen der Emigranten durch Alltagsbilder, die immer wieder gespensterhaft in die Optik des Negativs verkehrt werden. In Ettore Scolas Spielfilm TREVICO – TORINO verschlägt es den jungen Fortunato Santospirito aus Trevico, einem Dorf im italienischen Süden, nach Turin, um wie Tausende andere bei Fiat zu arbeiten. In Briefen an seine Familie erzählt er von seinem neuen, unbekannten Leben im italienischen Norden und den Begegnungen mit der Politik.
APOLLON, UNA FABBRICA OCCUPATA (Apollon, eine Fabrik wird besetzt, Ugo Gregoretti, I 1970, 11.5.) 1970 rekonstruiert eine Gruppe von Filmemachern um den Regisseur Ugo Gregoretti in APOLLON die Besetzung einer römischen Druckerei durch die Arbeiter, die so gegen ihre Entlassung protestierten. Aufnahmen der Besetzung werden durch Szenen ergänzt, in denen die Arbeiter und Arbeiterinnen der Fabrik mit erkennbarer Freude sich selbst spielen. APOLLON hält die fragile Balance zwischen Lehrstück und individuellem Beispiel der konkreten Besetzung und stellt eine von Gian Maria Volonté gesprochene Kommentarstimme neben die rauflustigen Dialoge der rekonstruierten Szenen. (10.5.)
Kurzfilmprogramm „Neue Linke – Neue Formen“ (12.5.): Schon 1968 versuchte Alessandra Bocchetti in DELLA CONOSCENZA (Vom Bewusstsein) einen ersten Überblick über die verschiedenen Gruppierungen der italienischen Neuen Linken. Pier Paolo Pasolini lässt in dem Segment LA SEQUENZA DEL FIORE DI CARTA (I 1969) aus Amore e rabbia Ninetto Davoli mit einer riesigen Papierblume durch die Straßen Roms tanzen und schneidet Horrorbilder des 20. Jahrhunderts dagegen. Während eines Verhörs im Polizeipräsidium von Mailand stürzt der Anarchist Giuseppe Pinelli am 15. Dezember 1969 aus dem Fenster. Elio Petri zerpflückt mit Hilfe einer Gruppe von Schauspielern um Gian Maria Volonté in TRE IPOTESI SULLA MORTE Di G. PINELLI (Drei Hypothesen über den Tod von G. Pinelli, I 1970) die drei offiziellen Versionen, wie es angeblich zu dem Sturz gekommen sein soll. Die Neue Linke Italiens ging einher mit einer visuellen Revolution: Nahezu im Alleingang realisierte der Grafiker Giancarlo Buonfino den Animationsfilm TOTEM über Geschichte und Gegenwart des italienischen Kapitalismus.
Kurzfilmprogramm „Politische Praxis und urbaner Raum“ (12.5.): LA CASA È UN DIRITTO NON È UN PRIVILEGIO (Wohnen ist ein Recht und kein Privileg, I 1970) dokumentiert die Hausbesetzungswelle Ende der 60er Jahre in Rom: Die proletarischen Bewohner der borgate, der linke Priester Don Lutte, die der kommunistischen Partei nahestehenden Mieterräte und dasComitato di Agitazione Borgate – eine 1969 gegründete Selbstorganisation von Bewohnern und Studierenden – kommen zu Wort. Weniger beobachtend geht LOTTA PER LE CASE (Kampf um die Häuser, I 1972) bei der Darstellung kollektiver, spontaner „Beschlagnahmungen“ in Mailand vor: Fabrikkämpfe wurden auf urbanes Terrain übertragen, die Hausbesetzung ist nicht nur eine symbolische Tat, sondern wird militant verteidigt.
UN PROCESSO PER STUPRO (Ein Prozess wegen Vergewaltigung, Maria Grazia Belmonti, I 1979, 13.5., Einführung: Cecilia Valenti) Die 18-jährige Fiorella hat vier Männer wegen Vergewaltigung angezeigt. Ein Frauenkollektiv aus Rom filmt mit Videokameras das Geschehen im Gerichtssaal. Die Kamera arbeitet heraus, wie sich eine Mauer männlicher Kumpanei formiert und Fiorella von der Klägerin zur Angeklagten gemacht wird. Gedreht für das öffentlich-rechtliche Fernsehen Italiens verhält sich Un PROCESSO PER STUPRO konträr zu den üblichen TV-Live-Tribunalen: Während diese „die Verhandlung eines Verbrechens aus der Perspektive der Ordnungshüter“ (Cornelia Vismann) zeigen, ist die Kamera in Belmontis Film solidarisch mit der Frau.
PROCESSO A CATERINA ROSS (Prozess gegen Caterina Ross, Gabriella Rosaleva, I 1982, 13.5.) In einer leerstehenden Fabrik in der Nähe des Mailänder Bahnhofs Bovisa reinszeniert Gabriella Rosaleva in PROCESSO A CATERINA ROSS einen Hexenprozess, der 1667 in Poschiavo in der italienischen Schweiz stattgefunden hat. Die Bildkomposition ist minimalistisch, die Gestaltungsmittel sind überschaubar gehalten: eine Off-Stimme als Inquisitor; eine Schauspielerin als die der Hexerei Beschuldigte. Das Skript greift auf originale Gerichtsprotokolle zurück. Erinnern und Vergessen, Sagbares und Nicht-Sagbares sind gleichermaßen an der Formierung des Hexendiskurses beteiligt.
Doppelprogramm „Weibliche Lebensrealitäten“ (15.5.): SABATO DOMENICA LUNEDÌ (I 1968) Samstag, Sonntag, Montag – ein Wochenende dient dem Filmemacher Ansano Giannarelli als Rahmen, um am Beispiel dreier Frauen weiblichen Lebenswirklichkeiten im Italien der 60er Jahre nachzuspüren. Der Kommentartext der Publizistin Miriam Mafai schlägt einen großen Bogen von der allgemeinen Situation zum konkreten Beispiel der drei Frauen. L’AGGETTIVO DONNA (I 1968) vom Collettivo femminista di cinema ist längst ein Klassiker des feministischen Kinos geworden: Mit umwerfender Leichtigkeit türmt der Film Werbebilder voller Rollenklischees, historische Aufnahmen und Interviews mit Frauen über ihren Alltag zu einer Kampfansage gegen die Vorstellung von Frauen als aggettivo– als Anhängsel.
LA FOLLIA (D)E(L)LA RIVOLUZIONE (Der Wahnsinn der / und die Revolution, Franco Barbero, Claudio Caligari, I 1977, 16.5.) Der Psychoanalyse gelang es lange nicht, in Italien Fuß zu fassen. Der Idealismus, der Katholizismus und der Faschismus betrachteten sie gleichermaßen als Pseudowissenschaft, der Marxismus als bourgeoise Ideologie. Erst nach 1968 veränderte sich die Lage allmählich: Es entstanden zahlreiche an Lacan orientierte Gruppen, wie das Mailänder Kollektiv Semiotica e psicoanalisi, das 1976 einen internationalen Kongress zum Thema Wahnsinn organisierte. LA FOLLIA (D)E(L)LA RIVOLUZIONE zeichnet die Redebeiträge der Teilnehmer mittels Video auf und zeigt, wie Autoritätskritik an die Frage nach den Bedingungen einer „anderen“ Kommunikation gekoppelt ist.
NESSUNO O TUTTI (Keiner oder alle, I 1975, 17.5.) Zwei lange Dokumentarfilme drehten Silvano Agosti, Marco Bellocchio, Sandro Petraglia und Stefano Rulli gemeinsam, bevor sich ihre Wege als Filmemacher trennten. NESSUNO O TUTTI – der erste von beiden – ist ein Monument der italienischen Antipsychiatriebewegung. In seinen zwei Teilen – Tre storie (Drei Geschichten) und Matti da slegare (Irre, die loszubinden sind) – widmet sich der Film zwei Varianten des Wegsperrens. Der erste Teil greift die Erzählungen von Paolo, Angelo und Marco auf, die als Kinder in Anstalten eingeschlossen wurden, der zweite zeigt die Realität in einer geschlossenen Anstalt. (ft/cv)
Mit freundlicher Unterstützung des Istituto Italiano di Cultura di Berlino.
Das Programm findet statt im Rahmen von Archive außer sich. Archive außer sich ist ein Projekt des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. im Rahmen einer Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und der Pina Bausch Foundation, Teil des HKW-Projekts Das Neue Alphabet, gefördert von der Beauftragten für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.