Die deutsche Filmgeschichte seit den 60er Jahren sähe ohne die Mitwirkung des Fernsehens deutlich anders aus. Bis heute wird der Regienachwuchs gefördert und mancher Kinoerfolg durch die Unterstützung einzelner Sendeanstalten ermöglicht. So wurde beispielsweise Dani Levys Komödie über den Zusammenprall von orthodoxer und säkular-urbaner Lebensweise in einer jüdischen Familie, ALLES AUF ZUCKER! (D 2005, 28.10.), ursprünglich als Fernsehfilm vom WDR beauftragt. Der Film entwickelte sich im Kino zu einem wahren Publikumserfolg und gewann mehrere Lolas, die höchste Auszeichnung für deutsche Kinofilme.
Auch Margarethe von Trottas Auseinandersetzung mit dem bewaffneten Widerstand in der BRD, DIE BLEIERNE ZEIT (BRD 1981, 25.10.) ist zweifellos mehr Kino- als Fernsehgeschichte und doch mit Geldern des Sender Freies Berlin (SFB) entstanden. Angelehnt an die Biografie der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin reflektiert der Film nicht nur die politische Stimmung in der Bundesrepublik nach 1968, sondern erzählt auch die Geschichte einer besonderen Schwesterbeziehung. Eine weitere deutsche Filmemacherin konnte dank der Unterstützung der Fernsehsender ästhetisch und inhaltlich eigenwillige und radikale Filme drehen: Helma Sanders-Brahms realisierte SHIRINS HOCHZEIT (BRD 1976, 26.10.) für den WDR. In archaisch anmutenden Schwarz-Weiß-Bildern entfaltet sich die tragische Geschichte der jungen Türkin Shirin, die aus einer Zwangsehe auf der Suche nach ihrem imaginierten Geliebten nach Deutschland flieht und dort als Gastarbeiterin am Rand der Gesellschaft lebt.
Die 70er Jahre gelten als die Sternstunde der Fernsehexperimente und der profilierten Fernsehredaktionen. Abseits der heute gängigen Formate konnte sich ein Werk wie der essayistische Dokumentarfilm FLUCHTWEG NACH MARSEILLE (Ingemo Engström, Gerhard Theuring, BRD 1977, 28.10.) über gewohnte Zeit- und Genrevorgaben hinwegsetzen. Der dreieinhalbstündige Film ist eine von Anna Seghers’ Roman „Transit“ ausgehende Recherche über die deutsche Emigration im besetzten Frankreich. Archivbilder, Zeitzeugenaussagen, Textpassagen werden mit Aufnahmen der Orte montiert, die die beiden Filmemacher auf ihrer Reise aufsuchen. Obwohl FLUCHTWEG NACH MARSEILLE quasi verschollen war und erst jetzt wieder – neu digitalisiert – verfügbar ist, erfuhr er eine langlebige Rezeption, die über Harun Farocki bis zu Christian Petzold reicht.
Petzold gehört einer späteren Generation von Filmemachern an, für die das Fernsehen einen festen Platz sowohl als Zuschauer als auch im Produktionszusammenhang einnimmt. Sein 2003 für das ZDF gedrehte Fernsehspiel WOLFSBURG (D 2003, 26.10.) ist trotz dieses Hintergrunds ein vom Kino aus gedachter Film: ein kühl inszeniertes Melodrama über eine Mutter, die sich in ihrem Schmerz über den Unfalltod ihres Kindes auf die Suche nach dem fahrerflüchtigen Täter macht. Dieser, von seinem schlechten Gewissen getrieben, sucht die Nähe der verzweifelten Mutter. Die Liebe, die zwischen beiden entsteht, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Schulung an filmischen Vorbildern, die in WOLFSBURG zu erkennen ist, verdanken nicht nur Regisseure wie Christian Petzold Fernsehprogrammen, die sich der Vermittlung von Filmgeschichte verschrieben hatten. Mittlerweile finden sich Werke der Filmgeschichte nur noch in den Nachtprogrammen einzelner Sender. Mit der Produktion von Neukompositionen für Stummfilme kümmert sich zumindest der Sender ARTE noch um neue Vermittlungsformen des Filmerbes. In Kooperation mit der Murnau-Stiftung wurde kürzlich DER GEIGER VON FLORENZ (Paul Czinner, D 1928, 27.10.) restauriert und neu vertont. Mit Conrad Veidt und Elisabeth Bergner als Vater und Tochter stehen in diesem Film zwei der bemerkenswertesten Charakterdarsteller des Weimarer Kinos vor der Kamera: Die junge Renée wird auf Betreiben ihrer Stiefmutter in ein Schweizer Internat verschickt, von wo sie, als Junge verkleidet, flieht. Sie lernt einen Maler kennen, der, fasziniert vom androgynen Charme des Knaben, sie zu seinem Modell macht.
Auch in der DDR bemühte sich das Fernsehen in den Anfangsjahren gezielt um namhafte Regisseure und prestigeträchtige Projekte. So sollte Konrad Wolf für den Deutschen Fernsehfunk (DFF) zur Premiere des Farbfernsehens Antoine de Saint-Exupérys Literaturklassiker DER KLEINE PRINZ (DDR 1966/1972, 28.10.) verfilmen. Die aufwendige Produktion verschlang Unmengen an Geld und geriet im Zuge des 11. Plenums zudem politisch unter Verdacht. Die Fernsehausstrahlung und ein Kinostart wurden letztlich aber durch fehlende Autorenrechte verhindert.
Helke Misselwitz, eine der wichtigsten Filmemacherinnen der DDR, hat sowohl vor als auch nach der Wende für das Fernsehen gearbeitet, ihre dramaturgischen und ästhetischen Ansprüche aber durch das Medium nicht einschränken lassen. Für ihren Spielfilm ENGELCHEN (D 1996, 25.10.) schuf ihr langjähriger Kameramann Thomas Plenert eindrückliche und poetische Bilder, die auf dem Bildschirm nur ungenügend zur Geltung kommen. Susanne Lothars berührende Darstellung der in sich verkapselten Ramona, die in der Liebe zu einem polnischen Zigarettenschmuggler kurz aufblüht, nur um letztlich umso tragischer zugrunde zu gehen, entfaltet sich erst auf der Leinwand – in den Großaufnahmen ihres Gesichts und ihrer Verlorenheit in den unwirtlichen Räumen des Films.
Im Zusammenspiel von Fernseh- und Filmarchiven spielen jedoch nicht nur die Produktionszusammenhänge eine Rolle. Die materialtechnische Überlieferung des Filmerbes wird an dieser Schnittstelle leicht prekär, wenn z.B. Fernsehproduktionen nicht ihren Weg ins Archiv finden. Andererseits kann es vorkommen, dass Werke nur dank ihrer Fernsehausstrahlung überleben. Für die Überlieferung des Filmerbes auf Sendekopien ist ENDSTATION LIEBE (BRD 1958, 26.10.) ein Beispiel. Georg Tressler holte in diesem Film nach seinem Erfolg mit Die Halbstarken erneut Horst Buchholz vor die Kamera, um den selbstbewussten Fabrikarbeiter und Frauenheld Mecky zu spielen, der sich plötzlich ernsthaft verliebt. Zusammen mit Autor Will Tremper gelang es dem Regisseur, eine neorealistisch anmutende Großstadtballade zu erzählen, die das Lebensgefühl junger Menschen in den 50er Jahren einfängt.
Die israelisch-deutsche Koproduktion SHTIKAT HAARCHION – GEHEIMSACHE GHETTOFILM (Jael Hersonski, Israel/D 2010, 27.10.) beleuchtet einen weiteren Schnittstellenaspekt von Film und Fernsehen: Der Umgang mit historischem Archivmaterial in Fernsehdokumentationen wird seit Jahren unter ethischen Aspekten viel diskutiert. SHTIKAT HAARCHION – GEHEIMSACHE GHETTOFILM thematisiert die Problematik der Dekontextualisierung von historischen Aufnahmen, indem die Geschichte einiger Rollen Filmmaterial aus dem Warschauer Ghetto rekonstruiert wird. Die Filmemacherin Jael Hersonski stellt dabei Fragen nach der Authentizität und damit der „Unschuld“ dokumentarischen Materials, ebenso wie nach einem verantwortungsvollen Umgang mit demselben.
„Film:ReStored“ bietet auch in diesem Jahr über einen Gast aus der FIAF (Fédération Internationale des Archives du Film) einen Blick von außen auf die in den Vorträgen und Gesprächen thematisierten Zusammenhänge in Deutschland. Kieron Webb vom British Film Institute, London, wird über die Erfahrungen und Strategien bei der Archivierung und Überlieferung von Film- und Fernsehgeschichte in Großbritannien berichten. In diesem Zusammenhang präsentiert er die 4K-Restaurierung von Terence Davies’ autobiografischem „Musikfilm“ DISTANT VOICES, STILL LIVES (GB 1988, 27.10.). In assoziativ montierten Szenen schildert der Filmemacher Kindheit und Jugend in einer von Gewalt, Angst und Resignation gezeichneten Arbeiterfamilie. Lieder aus Pubs und Schlager der 40er und 50er Jahre strukturieren das u.a. in Cannes und Locarno ausgezeichnete Werk. (ah)
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