IL SORPASSO (Dino Risi, Italien 1962, 3.5., mit einem einführenden Vortrag von Luigi Reitani: „Der Film als Spiegel der Gesellschaft“ & 9.5., Einführung: Uta Felten) Rom an Ferragosto, dem 15. August: Auf der Suche nach einem Telefon gelangt der 40-jährige Bruno (Vittorio Gassman) in die Wohnung des Jurastudenten Roberto (Jean-Louis Trintignant) und lädt ihn zu einer Spritztour in seinem Lancia Aurelia Sport ein. Die grundverschiedenen Charaktere und Temperamente der beiden Männer spiegeln sich im Fahrverhalten wider: Während der hyperaktive und extrovertierte Lebemann Bruno draufgängerisch überholt („il sorpasso“ bezeichnet den Überholvorgang), ängstigt sich der zögerliche und gehemmte Roberto auf dem Beifahrersitz. Die zweitägige Autofahrt entlang der tyrrhenischen Küste wird zur Initiationsreise. Die temporeiche, mitreißende Tragikomödie mit ihrem beschwingten, von der Twist-Mode inspirierten Soundtrack gilt als einer der Höhepunkte der Commedia all’italiana und als das Hauptwerk von Regisseur Dino Risi. Das erste moderne Roadmovie (mit dem amerikanischen Verleihtitel „The Easy Life“) war Inspirationsquelle u.a. für Dennis Hoppers Easy Rider.
I SOLITI IGNOTI (Diebe haben’s schwer, Mario Monicelli, Italien 1958, 4. & 11.5.) Eine Handvoll Kleinkriminelle aus einem Armenviertel am Stadtrand von Rom träumt vom großen Coup. Durch die dünne Wand einer Nachbarwohnung wollen sie den Geldschrank einer Pfandleihe ausrauben. Dabei geht so ziemlich alles schief, was schief gehen kann. I SOLITI IGNOTI, an der Schnittstelle zwischen den pittoresken Komödien des Neorealismo rosa und einer bissigeren, satirischen Form der Komik entstanden, gilt als erster Film der Commedia all’italiana und verbindet eine cartoonartige Typisierung der Charaktere mit neorealistischer Betonung der Schauplätze in den Elendsvierteln von Rom. Die Komik geht einher mit der Tragik des Bemühens, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Die brillante Besetzung vereint die Stars des Genres Vittorio Gassman und Marcello Mastroianni mit dem Komiker Totò und der damals noch unbekannten Claudia Cardinale.
IL VIGILE (Der Schutzmann, Luigi Zampa, Italien 1960, 4. & 17.5.) Otello Celletti (Alberto Sordi) ist ein Faulpelz, dessen Tätigkeit sich darauf beschränkt, allen ungefragt mitzuteilen, wie sie’s besser machen sollen, und vom örtlichen Bürgermeister (Vittorio De Sica) mit großer Hartnäckigkeit eine Anstellung als Motorradpolizist zu fordern, schließlich habe sein zehnjähriger Sohn den Sohn eines Stadtrats vor dem Ertrinken gerettet. Als Otello mithilfe des Priesters tatsächlich den gewünschten Posten bekommt und der Filmstar Sylva Koscina sich im Fernsehen bei ihm dafür bedankt, dass er bei einer Straßenkontrolle beide Augen zugedrückt hat, wird er wegen dieser Ungleichbehandlung vom Bürgermeister vermahnt. Otello nimmt ihn beim Wort, stellt ihm einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung aus, lässt sich das Warndreieck zeigen und verfolgt seinen Wagen bis zum Haus seiner Geliebten. Der Schutzmann wird zum Politikum und von den Monarchisten als Gegenkandidat zum Bürgermeister aufgestellt. Während Luigi Zampas grandiose Politsatire über Doppelmoral, Korruption, Macht und Uniformen („Die die Uniform am meisten wollen, sollten keine bekommen“) in Westdeutschland praktisch unbekannt geblieben ist, wurde der Film 2016 mit 56-jähriger Verspätung in Frankreich erfolgreich im Kino gestartet.
MAFIOSO (Alberto Lattuada, Italien 1962, 5. & 7.5.) Der soziale Aufstieg von Antonio Badalamenti (Alberto Sordi) ist bilderbuchartig verlaufen: Vor acht Jahren hat er das sizilianische Dorf Calamo in Richtung des industrialisierten Norden verlassen, wo er sich zum Inspektor in einer großen Werkshalle hochgearbeitet und eine Familie gegründet hat. Als er in seinen ersten Urlaub aufbricht, um seiner Frau und den zwei blonden Töchtern die Heimat zu zeigen, gibt ihm sein ebenfalls aus Calamo stammender Chef ein Präsent für den ehrenwerten Don Vincenzo (Ugo Attanasio) mit. Dieser erinnert den Überbringer, der früher als junger „picciotto“ kleine Aufträge für ihn übernommen hatte, an eine alte Bringschuld und vergewissert sich, ob „Nino“ noch immer so ein guter Schütze sei. Alberto Lattuadas im gleichen Jahr wie Francesco Rosis Salvatore Giuliano erschienener Film über die Cosa Nostra zeigt das Wirtschaftswunder als Entwicklung ohne Fortschritt: Weder entkommt Antonio seiner Herkunft, noch unterscheiden sich die Machtstrukturen an seinem Arbeitsplatz im wohlhabenden Norden wesentlich von denen im armen Süden, sein Firmenboss ist nur eine italoamerikanische Version von Don Vincenzo.
IL BOOM (Der Boom, Vittorio De Sica, Italien 1963, 6. & 17.5.) Vittorio De Sica spitzt in seinem Ausflug ins Genre der Commedia all’italiana die moralischen Verwerfungen des Boom, des italienischen Wirtschaftswunders der 60er Jahre, satirisch zu: Giovanni Alberti (Alberto Sordi) bemüht sich verzweifelt, trotz schlecht laufender Geschäfte seinen großspurigen Lebensstil beizubehalten. Als selbst die ungedeckten Schecks nicht mehr weiterhelfen und er vor der Pfändung steht, verlässt ihn auch seine Frau Silvia (Gianna Maria Canale), weil sie ihre Familien-ehre und Lebenshaltungsansprüche gefährdet sieht. Die Rettung und Tilgung aller Schulden stellt ihm die Gattin eines reichen Industriellen mit einem unmoralischen Angebot in Aussicht. Sie bietet Giovanni 50 Millionen Lire für ein Spenderauge für ihren sehbehinderten Mann: „Sie müssen nicht, wir leben ja nicht im Zeitalter der Sklaverei!“
IL MAGNIFICO CORNUTO (Cocü, Antonio Pietrangeli, Italien/F 1964, 8.5.) Andrea Artusi (Ugo Tognazzi), ein wohlhabender Hutfabrikant der besseren Gesellschaft Brescias, ist mit der attraktiven jungen Maria Grazia (Claudia Cardinale) verheiratet. Nach einem intimen Treffen mit der Frau eines Geschäftsfreundes im Hotel wird Andrea von der Vorstellung verfolgt, seine Frau könnte ihn ebenfalls mit einem Liebhaber hintergehen. Er überprüft den Kilometerstand ihres Wagens, ruft suspekt erscheinende Nummern aus ihrem Telefonbuch an, verdächtigt einen Winzer, weil Maria Grazia im Schlaf von Fässern spricht und entlässt seinen Diener, um ihn durch einen älteren Mann zu ersetzen. In der Reihe der tragisch-lächerlichen Männerfiguren in Antonio Pietrangelis Filmen trägt Andrea Artusi die wohl groteskesten Züge. Eine Commedia all’italiana über männlichen Stolz, Geschlechterrollen und Eifersucht, den „Luxus für Leute mit Geld und Zeit“.
IL MORALISTA (Der Moralist, Giorgio Bianchi, Italien 1959, 10.5.) Der Generalsekretär der Moralistenvereinigung O.I.M.P., Agostino (Alberto Sordi), ist für seine Rigidität bekannt und kämpft mit Vehemenz gegen den Verfall der Sitten. Er hält eindringliche Reden auf Moralistenkongressen, streitet für die Zensur von Plakaten und Filmen sowie für die Schließung von Nachtclubs. Für den Präsidenten der O.I.M.P. (Vittorio De Sica) ist er deswegen auch die erste Wahl als zukünftiger Ehemann für seine 29-jährige Tochter. Doch hinter Agostinos Saubermann-Fassade sind Energien am Werk, die mit den Grundsätzen der O.I.M.P. nicht vereinbar sind. In Giorgio Bianchis hinreißender Satire über Moralvorstellungen, Scheinheiligkeit und Korruption kommen die abgründigsten moralischen Bedrohungen interessanterweise aus Deutschland. „Ekelhaft“ rufen Agostino und zwei ältere Damen der Zeitschrift „Moralità publica“ kopfschüttelnd auf Deutsch beim Anblick knutschender Paare und einer Stripteasetänzerin (Christiane Nielsen), die von schwarzen Musikern in einer deutschen Bar begleitet wird.
IL COMMISSARIO (Der Kommissar, Luigi Comencini, Italien 1962, 10. & 25.5.) Dante Lombardozzi (Alberto Sordi), ein junger, ehrgeiziger und wichtigtuerischer Vizekommissar, sieht seine Chance auf eine Beförderung gekommen, als seine Vorgesetzten den Fall des überfahren aufgefundenen Professors und Abgeordneten Di Pietro angesichts der bevorstehenden Osterfeiertage schnell ad acta legen wollen. Lombardozzi, dessen korrekten Namen sein Chef sich demonstrativ nicht merken will, insistiert auf eine genauere Untersuchung. Er stößt auf widersprüchliche Zeugenaussagen, lässt eine zweite Autopsie anordnen und findet heraus, dass Di Pietro bereits tot war, als er überfahren wurde und die letzten Stunden seines Lebens mit einer Prostituierten verbracht hat. Das Bekanntwerden der Ermittlungsergebnisse ist jedoch nicht im Interesse des Umfelds des honorablen Professors und Lombardozzis Chef gibt seinem Kommissar keine Rückendeckung – in Zeiten rigider Moral könne man nun mal nicht alles ans Licht zerren. Luigi Comencinis dramatische Komödie mit einem überragenden Alberto Sordi als unsympathischem, aber fähigem Kommissar, der wegen der wirkmächtigen sozialen Mechanismen als Polizist scheitert, kam außerhalb Italiens nur in Ungarn ins Kino und wartet auf ihre Entdeckung als einer der herausragenden Filme seines Regisseurs.
DIVORZIO ALL’ITALIANA (Scheidung auf Italienisch, Pietro Germi, Italien 1962, 11.5.) Der sizilianische Baron Ferdinando Cefalù (Marcello Mastroianni) – genannt Fefè –, seit 15 Jahren verheiratet und seiner Frau Rosalia (Daniela Rocca) überdrüssig, begehrt seine 16-jährige Cousine Angela (Stefania Sandrelli). Als er erfährt, dass Angela seine Gefühle erwidert, sucht er nach einem Ausweg aus der Ehe – die Möglichkeit einer Scheidung gab es in der italienischen Rechtsordnung erst ab 1970. Inspiriert durch eine Zeitungsmeldung über ein mildes Gerichtsurteil nach § 587, „Verbrechen aus verletzter Ehre“, verfolgt Fefè den Plan, Rosalia in die Arme ihrer Jugendliebe zu treiben. Wenn er das Paar in flagranti erwischt, könnte er zur Rettung seiner Ehre Rosalia erschießen und nach einer überschaubaren Haftzeit Angela heiraten. Pietro Germis satirische Komödie über die italienische Ehe- und Strafgesetzgebung prägte den Begriff der Commedia all’italiana. Der Film wurde zum preisgekrönten Welterfolg und war der Beginn einer internationalen Karriere für die damals 15-jährige Stefania Sandrelli.
ALFREDO, ALFREDO (Pietro Germi, Italien/F 1972, 12. & 30.5.) Zehn Jahre nach DIVORZIO ALL’ITALIANA mussten keine Mordpläne mehr geschmiedet werden, um sich vom Ehepartner trennen zu können. Im Dezember 1970 wurde das italienische Scheidungsgesetz verabschiedet. Pietro Germis letzter Film beginnt vor dem Scheidungsrichter – eine Möglichkeit, für die das Ehepaar Alfredo (Dustin Hoffman) und Maria Rosa (Stefania Sandrelli) jahrelang gekämpft hatte. In Rückblicken schildert Alfredo die Beziehung des schüchternen Bankangestellten und der temperamentvollen Apothekenverkäuferin, deren romantische und stürmische Art ihn zunehmend erschöpft. Bei der Aufzählung der Höhepunkte in Pietro Germis Werk wird sein komischster Film unverständlicherweise meist übergangen. ALFREDO, ALFREDO ist ein bislang weitgehend unentdeckt gebliebener Schatz der italienischen Filmgeschichte.
UNA VITA DIFFICILE (Ein schweres Leben, Dino Risi, Italien 1961, 13. & 23.5.) Das in Deutschland nicht verliehene erste Meisterwerk Dino Risis skizziert die politische und moralische Entwicklung Italiens vom letzten Kriegsjahr über die Anfänge der Republik bis zur neuen Wohlstandsgesellschaft der anbrechenden 60er Jahre: 1943 entgeht der in der Resistenza kämpfende Silvio (Alberto Sordi) seiner Hinrichtung dank der zufällig anwesenden Elena (Lea Massari), die den schussbereiten deutschen Soldaten mit einem Bügeleisen erschlägt. Nach dem Krieg heiraten Silvio und Elena und suchen ihren Platz im sich rasch wandelnden Land. Als armer Reporter einer kommunistischen Arbeiterzeitung versucht Silvio mit wechselndem Erfolg, einerseits seine Integrität zu behaupten und andererseits seiner Familie ein würdiges und sicheres Zuhause zu bieten. Zum Unverständnis der schwangeren Elena schlägt er die Millionen aus, die ihm ein Industrieller als Gegenleistung anbietet, wenn er seinen Namen aus einem skandalträchtigen Artikel heraushält, während ihm der Wohlstand eines „flexibleren“ Kollegen durch die zunehmende Größe seiner Autos vor Augen geführt wird.
SEDOTTA E ABBANDONATA (Verführung auf Italienisch, Pietro Germi, Italien/F 1964, 14.5.) Während der Rest der Familie an einem heißen sizilianischen Sommertag Mittagsschlaf hält, verführt der Student Peppino (Aldo Puglisi) die jüngere Schwester seiner Verlobten Matilde, die 16-jährige Agnese (Stefania Sandrelli). Die von ihren misstrauischen Eltern angeordnete gynäkologische Untersuchung lässt keinen Zweifel daran, dass Agnese ein Kind erwartet. Um die Ehre zu retten drängt das Familienoberhaupt Don Vincenzo Ascalone (Saro Urzì) Peppino zur Heirat – doch der weigert sich, eine Frau zu ehelichen, die nicht mehr unberührt ist, gemäß der Logik seines Vaters: „Der Mann hat das Recht zu fragen, die Frau die Pflicht, sich zu verweigern.“ Die furiose Komödie ist eine Variation der Kritik an überkommenen Sitten und der Gesetzgebung aus DIVORZIO ALL’ITALIANA: Gemäß Artikel 544 konnte die Verführung oder Vergewaltigung einer Minderjährigen legalisiert werden, wenn das Opfer eine sogenannte „Wiedergutmachungsehe“ mit dem Täter einging.
C’ERAVAMO TANTO AMATI (Wir haben uns so geliebt, Ettore Scola, Italien/F 1974, 15.5., mit einem einführenden Vortrag von Lorenzo Filipponio: „Die Geburt einer neuen Sprache aus dem Geist der Filmkomödie“ & 31.5.) Ettore Scolas in Deutschland nicht verliehenes melancholisches Meisterstück erzählt in einer Verbindung aus Wehmut und Komik über drei Jahrzehnte die Geschichte der italienischen Linken nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Utopie und Anpassung anhand der Lebenswege dreier Männer und der zwischen ihnen stehenden Frau: Bei der Resistenza werden Antonio (Nino Manfredi), Gianni (Vittorio Gassman) und Nicola (Stefano Satta Flores) 1944 im Kampf gegen Wehrmacht und Faschisten beste Freunde. Nach Kriegsende träumen sie von der Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft. Das lukrative Angebot eines halbseidenen Bauunternehmers, seine Interessen als Anwalt zu vertreten, wird die erste Bewährungsprobe für Giannis Idealismus; seine Liebe zu Antonios Freundin Luciana (Stefania Sandrelli) belastet zudem die Freundschaft mit Antonio. 30 Jahre nach ihrem gemeinsamen Kampf in der Resistenza müssen sie sich desillusioniert eingestehen: „Wir wollten die Welt ändern, aber die Welt hat uns verändert.“
IL MAESTRO DI VIGEVANO (Der Lehrer aus Vigevano, Elio Petri, Italien 1963, 16. & 22.5.) Antonio Mombelli (Alberto Sordi) arbeitet als schlecht bezahlter Volksschullehrer in Vigevano, einem Zentrum der Schuhproduktion in der Lombardei. In der Schule wie zu Hause wird er mit wenig Respekt behandelt. Während seine Frau Ada (Claire Bloom) auch vom wirtschaftlichen Erfolg der örtlichen Industrie profitieren möchte, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können, mangelt es Antonio am unternehmerischen Geist. Er sorgt sich um seine Rolle als Ernährer und Oberhaupt der Familie und fügt sich widerstrebend den Plänen Adas, die bescheidenen Ersparnisse als Startkapital für eine eigene Schuhproduktion zu verwenden. Elio Petris bittere Tragikomödie ist ein außerhalb Italiens wenig gezeigter Film über Respekt und Beschämung, Würde und den Preis des Wohlstands.
LA VISITA (Der Besuch, Antonio Pietrangeli, Italien/F 1963, 18. & 25.5.) Die 36-jährige Pina (Sandra Milo) und der knapp zehn Jahre ältere Adolfo (François Périer) haben sich über eine Anzeige kennengelernt. Zum ersten Treffen besucht der römische Buchhändler die Angestellte in der norditalienischen Kleinstadt San Benedetto Po. Schnell zeigt sich, dass die beiden denkbar schlecht harmonieren. Während Pina mehrere Haustiere hält und sich ein abwechslungsreicheres Leben in Rom erträumt, macht Adolfo keinen Hehl daraus, dass er Haustiere nicht ausstehen kann. Das Leben in einer kleinen Stadt stellt er sich reizvoll vor – versäumt aber keine Gelegenheit, alle Leute, die ihm begegnen, spüren zu lassen, wie provinziell er sie findet und bekommt vom geistig minderbemittelten und eifersüchtigen Cucaracha (Mario -Adorf) dafür eine Ladung Spucke ins Gesicht. Trotz der komödiantischen Zuspitzungen ist Pietrangelis Nachsicht und Mitgefühl mit seinen Figuren bestimmend für LA VISITA, einem Film über Einsamkeit und die Liebe als Projektion.
IO LA CONOSCEVO BENE (Ich habe sie gut gekannt, Antonio Pietrangeli, Italien/F/BRD 1965, 18. & 28.5.) Die 19-jährige Adriana (Stefania Sandrelli) träumt davon, eine berühmte Schauspielerin zu werden, verlässt den elterlichen Bauernhof in der Toskana und geht nach Rom. Durch ihr attraktives Aussehen und ihre offene, naive Art knüpft sie schnell Kontakte und wechselt Männer, Frisuren, Kleidung und Hüte in rasendem Tempo. Antonio Pietrangelis Opus magnum ist weniger das Porträt einer scheinbar einfach zu durchschauenden jungen Frau als eine protofeministische Studie über ausbeuterische Beziehungsverhältnisse und ein stimmungsvolles Zeitbild der 60er Jahre, vermittelt nicht zuletzt durch diverse Tanzveranstaltungen, Modenschauen, Kinobesuche, Partys und einer Vielzahl populärer Songs der Zeit, die in Verbindung mit Piero Piccionis Filmmusik einen fantastischen Soundtrack bilden.
TUTTI A CASA (Der Weg zurück, Luigi Comencini, Italien/F 1960, 21.5., Einführung: Gerhard Midding) Die Handlung des tragikomischen Films umfasst die ersten drei Wochen nach dem durch General Badoglio am 8. September 1943 verkündeten Waffenstillstand zwischen den italienischen Streitkräften und den Alliierten. Leutnant Alberto Innocenzi (Alberto Sordi) ist an der Mittelmeerküste zur Wachablösung unterwegs, als sein Zug von den bis dato verbündeten deutschen Truppen angegriffen wird. Im allgemeinen Chaos im Land entledigt sich der stolze Offizier seiner Uniform und schlägt sich mit einem Zivilisten (Serge Reggiani) aus Neapel durch die unklar verlaufenden Linien. Sie begegnen anderen versprengten Soldaten, einem auf einem Bauernhof versteckten US-Offizier, Faschisten, einer jungen Jüdin auf der Flucht, Partisanen, SS-Einheiten und Zivilisten, die in Güterwaggons zur Zwangsarbeit nach Deutschland transportiert werden. Gerade zuhause angekommen, ergreift Alberto desillusioniert erneut die Flucht, weil sein Vater ihn für die faschistischen Einheiten rekrutieren will. Der Film endet mit dem Aufstand der neapolitanischen Bevölkerung gegen die deutsche Besatzung am 28. September 1943.
PANE E CIOCCOLATA (Brot und Schokolade, Franco Brusati, Italien 1974, 24.5.) Nino Garofalo (Nino Manfredi) arbeitet seit drei Jahren als Kellner in der Schweiz. Doch das Saisonnierstatut erlaubt ihm noch immer nicht, Frau und Kind aus Italien nachkommen zu lassen. Als er wegen öffentlichen Urinierens seinen Job und damit die Aufenthaltserlaubnis verliert, traut er sich aus Beschämung nicht zurück zu seiner Familie. Die Liaison mit einer griechischen Exilantin (Anna Karina) aus der Nachbarschaft ist von kurzer Dauer, weil sie sich eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung für sich und ihren Sohn lieber durch die Heirat mit einem Schweizer Polizisten sichert. Nach einem Abstieg zu den Clandestini, illegalen Einwanderern, die in einem ehemaligen Hühnerstall leben, unternimmt Nino einen letzten Anlauf, doch noch erfolgreich in der Schweiz anzukommen und färbt sich die Haare blond. Franco Brusatis satirischer Erfolgsfilm spielt humorvoll mit Länderklischees und zeigt die Situation der Arbeitsmigranten zwischen Einsamkeit, Nostalgie, Anpassungsdruck und der Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen.
BELLO, ONESTO, EMIGRATO AUSTRALIA, SPOSEREBBE COMPAESANA ILLIBATA (A Girl in Australia, Luigi Zampa, Italien/Australien 1971, 24. & 30.5.) „Gut aussehender, ehrlicher Australienauswanderer sucht unberührte Landsfrau zwecks Heirat“: Amedeo Battipaglia (Alberto Sordi) lebt seit 20 Jahren in Australien, findet dort allerdings keine (passende) Frau fürs Leben. Die Australierinnen sind ihm zu unabhängig und emanzipiert, außerdem wünscht er sich eine Jungfrau – nicht ahnend, dass sich seit seiner Auswanderung auch in Italien die Sitten geändert haben. Weil die wenigen in Frage kommenden Italienerinnen im Land sich lieber einen jüngeren oder wohlhabenderen Partner suchen, schaltet Amedeo eine Anzeige in Italien – um die Erfolgschancen zu erhöhen, mit dem Foto eines attraktiven Freundes. Auch Carmela (Claudia Cardinale) ist nicht ehrlich in ihrem Antwortbrief, in dem sie sich als Schafhirtin aus Kalabrien vorstellt, die derzeit als Fabrikarbeiterin in Rom ihren Lebensunterhalt verdient. Tatsächlich versucht die römische Prostituierte mit dem von Amedeo bezahlten Flugticket außer Landes zu gelangen, um ihrem Zuhälter zu entkommen. Luigi Zampas selten gezeigte Satire themati- siert mittels einer romantisch-komödiantischen Handlung die Situation der 500.000 nach Aus-tralien ausgewanderten Italiener, die sich in vielen Fällen als Minenarbeiter ihre Gesundheit ruinierten und ihre Freizeit isoliert in italienischen Clubs verbrachten.
IN NOME DEL POPOLO ITALIANO (Im Namen des italienischen Volkes / Abend ohne Alibi, Dino Risi, Italien 1971, 27. & 31.5.) Untersuchungsrichter Mariano Bonifazi (Ugo Tognazzi) versteht sich als unbestechlicher und bescheidener Diener des Rechtsstaats, der rechtswidrig erstellte Bauten abreißen lässt und mit dem Mofa zum Dienst fährt. Der Maserati fahrende Plastikfabrikant und Baulöwe Lorenzo Santenocito (Vittorio Gassman) hingegen nimmt es mit den Gesetzen nicht so genau, wenn sie dem eigenen Vorteil im Weg stehen. Als Bonifazis Ermittlungen zum Tod eines Escort-Girls zu Santenocito führen, kommt es zum Machtkampf zwischen den beiden Männern. Mit IN NOME DEL POPOLO ITALIANO drehte Dino Risi eine grimmige Commedia all’italiana im Gewand eines Politthrillers um Korruption, Integrität, Recht und Gerechtigkeit. Die Bilder der Umweltverschmutzung, an Fabrikabfällen verendenden Möwen und des allgegenwärtigen Plastikmülls am Strand sind fast 50 Jahre später aktueller denn je.
MORDI E FUGGI (Dirty Weekend, Dino Risi, Italien/F 1973, 29.5.) Giulio Borsi (Marcello Mastroianni), ein reaktionärer Pharma-Industrieller, wird auf dem Weg ins Wochenende zusammen mit seiner jungen Geliebten (Carole André) an einer Tankstelle von drei anarchistischen Bankräuber*innen als Geisel genommen. Von der Polizei und der Presse verfolgt und zu Medienstars aufgebaut, flieht das Trio mit den Geiseln in eine abgelegene Villa, wo kurzzeitig eine Aufweichung der Klassengegensätze möglich scheint, bevor es zum Showdown zwischen Staatsmacht und den linksextremistischen Outlaws kommt. Dino Risis finstere Politsatire, lose basierend auf einer wahren Begebenheit, verweist bereits auf die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Brigate Rosse und den Staatsorganen der folgenden Jahre und nimmt hellsichtig die zweifelhafte Rolle von zunehmend sensationslüsternen und blutdurstigen Medien vorweg. Streckenweise wirkt der Film in dieser Hinsicht wie ein Modell für das Geiseldrama von Gladbeck 1988. Wir zeigen eine rare zeitgenössische Kopie mit Farbveränderungen. (hjf)
Mit freundlicher Unterstützung des Istituto Italiano di Cultura di Berlino.