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Über einen Zeitraum von nunmehr 60 Jahren haben Arthur und Corinne Cantrill einen filmischen Kosmos erschaffen, der in seinem vielgestaltigen experimentellen visuellen und tonalen Reichtum seinesgleichen sucht. Das Spektrum ihrer Arbeiten reicht von Dokumentar- zu Experimentalfilmen, von Multi-Screen-Installationen zu Performances und Sound Art. Von 1971 bis 2000 verantworteten sie selbst Redaktion und Layout der Cantrill Filmnotes, einem internationalen Journal über Experimentalfilm, Video und verwandte Künste. Ihr Werk widmet sich einer Vielzahl von Künstler*innen, sozialen Bewegungen, vor allem aber der australischen Landschaft. Der teils strukturelle Ansatz ihrer Filme weist über sich hinaus, da sie das Sensorische als Teil der filmischen Erfahrung betonen und Wege suchten, dies in ihren Werken aufscheinen und erfahrbar werden zu lassen.

Ihr intensives Interesse an der Beziehung zwischen Landschaft und filmischer Form führte alsbald zu einem tieferen Verständnis der australischen Landschaft als Teil des Erbes und Lebensraums der Indigenen. Diese dezidierte Würdigung setzt die politische Dimension der Filme ins Licht: „Uns liegt an einem fortgesetzten Dialog zwischen Inhalt und Form. Wir sehen in dieser Synthese zwischen Landschaft und Filmform auch eine Möglichkeit, unsere Auffassungen als Bürger*innen zur Erhaltung des Landes, der Wälder, Küsten und der Rechte Indigener zu artikulieren. Wir teilen ohne Einschränkung den Glauben der Indigenen, dass die Landschaft der Schauplatz des spirituellen Lebens des australischen Kontinents ist.“ (Arthur und Corinne Cantrill, 1982)

Das künstlerische Interesse an filmtechnischen Verfahrensweisen und filmtheoretischen wie filmhistorischen Reflexionen führte zur weitgehenden Erforschung der Zwei- und Dreifarbentechnik, und die so entstandenen Werke gehören zum Schönsten, was das Medium Film als sensorischen Erfahrungsraum erschaffen kann. Ihr Werk atmet einen Freigeist, der zugleich betört und nachdenklich stimmt.

Seit 1982 befinden sich Filme der Cantrills im Archiv des Arsenal. Weitere Werke wurden 2018 erworben. Das Arsenal zeigt die bislang umfassendste Werkschau in Europa – eine seltene Gelegenheit, das Werk der Cantrills zu entdecken.

SEVEN SISTERS (THE PLEIADES) (Australien 1980, 3.6., Einführung: Michelle Carey) Die Aufnahme eines traditionellen Liedes, das die Reise zweier Ahnenfrauen durch die Weite Zentralaustraliens erzählt, wird mit den Landschaftsaufnahmen beim Durchqueren ihrer Stammesgebiete verwoben. Die Cantrills betonen, dass es sich hier keinesfalls um einen ethnografischen Film handelt, sondern um die Aufzeichnung einer persönlichen Erfahrung. THE SECOND JOURNEY (TO ULURU) (Australien 1981) In einer behutsamen Annäherung aus der Ferne bis ins Herz des Monolithen entfaltet sich in flirrenden Lichtnuancen die Magie des heiligsten Ortes der Indigenen. Zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommene Detail- und Panoramaaufnahmen dieser über 500 Millionen Jahre alten Gesteinsformation vermitteln in der Komposition aus Stille und akustisch verfremdetem Vogelgezwitscher ein Gefühl der Überzeitlichkeit, in das gleichermaßen eine Ahnung von Verlust eingeschrieben ist. Der traumwandlerische Mondaufgang am Firmament scheint ma-lerisch abstrakt und ist doch real. Farbeintrübungen im Filmmaterial, entstanden durch fehlerhafte Entwicklung, wurden bewusst im Film belassen, um metaphorisch auf die sich abzeichnende Gefährdung des Lebensraumes durch Buschbrände und Tourismus zu verweisen.

AT ULURU (Australien 1977, 6.6.) In einer filmischen Symphonie aus Licht und Farben transportiert AT ULURU die mythische und spirituelle Dimension dieses Monolithen, die uns mittels Corinne Cantrills poetischem Text auf diese Landschaft einstimmt. Der Film ist ebenso wie OCEAN AT POINT LOOKOUT von Stille getragen, um den überzeitlichen Charakter des Ortes hervorzuheben. Beide Filme sind Teil der Touching the Earth-Serie. Als Vorfilm zeigen wir AT ELTHAM – A METAPHOR ON DEATH (Australien 1974). In diesem experimentellen Landschaftsfilm von Corinne Cantrill ist die Stimmung verhalten und dunkel. Die Aufnahmen der Landschaft überlagern sich in Schichten, lassen von Zeit zu Zeit in der Tiefe des Bildes den Fluss aufscheinen. Natürliche Rhythmen im Wechsel von Tag und Nacht werden außer Kraft gesetzt. Ein lyrischer Raum aus Licht und Schatten eröffnet sich.

EARTH MESSAGE (Australien 1970, 6.6.) In einer sorgfältig komponierten Kamerachoreografie unterschiedlichster Aspekte der Flora und Fauna vermittelt sich die Schönheit des australischen Busches. Detail- und Panoramaaufnahmen und indigene Musik verschmelzen zu einer meditativen Anschauung der den Ort bestimmenden Energie und Harmonie.
OCEAN AT POINT LOOKOUT (Australien 1977) Ganz bewusst richtet sich der Blick der Kamera auf das Meer und nicht auf die sich am Strand abzeichnende Umweltzerstörung durch Sandminen. Die Konzentration auf die Stimmungen und Erscheinungsformen des Meeres legt den Fokus auf die Würdigung der Natur und ihrer Kräfte. Das Wogen der Wellen, Lichtreflexe, immer wieder der Horizont, gefilmt mit unterschiedlichsten Filmmaterialien. Ein visuelles Gedicht, dessen musikalische Struktur auf Stille beruht.

Einen zentralen Aspekt der Landschaftsfilme (8. 6.) bildet die Suche nach experimentellen Ausdrucksformen, um das Vergehen von Zeit und Licht und die sich darin abzeichnenden wechselnden Farbspektren und Lichtnuancen zu dokumentieren. In BOUDDI (Australien 1970) entfaltet sich eine Kalligrafie der wilden Küstenlandschaft von New South Wales in einem animierten Strom von Myriaden an Details, die das natürliche Wachstum in der Natur, den Sommer, die Intensität des Lichts preisen. WARRAH (Australien 1980) entstand zehn Jahre später ganz in der Nähe und erweiterte die experimentelle Landschaftsaufzeichnung nochmals mit Hilfe der Dreifarbentechnik. Wechselnde Farbnuancen beschwören eine formale Schönheit, die im Ruf der Vögel und den Geräuschen schwirrender Insekten ihren Widerhall findet. Ein nur schwer greifbares Naturphänomen, das schillernde Schimmern aufsteigender heißer Luft, vermittelt sich in HEAT SHIMMER (Australien 1978) durch die Dreifarbentechnik, die mittels der Farbspektren und Lichtbrechungen Licht in Bewegung sichtbar werden lässt. Ein flirrendes Farbspektrum führt zurück zur reinen Naturbetrachtung. In TWO WOMEN (Australien 1980) wird die persönliche Vermessung der Reise durch die mythische Landschaft der Stammesgebiete Zentralaustraliens von Aufnahmen der Songwomen der Areyonga Indigenous Community eingerahmt. Eine freie Annäherung im Rhythmus der Bilder und Gesänge. Gleich einem luziden Traum verschmelzen in WATERFALL (Australien 1984) die Bewegungen des Wassers zu einem metaphorischen Raum der stetigen Wandlung, der über das Reale hinausweist und die ungezähmte Kraft des in die Tiefe stürzenden Wasserstroms erfahrbar werden lässt. Einer der berühmtesten Filme der Cantrills, der in seiner brillanten Verschränkung von Form, Sujet und Apparatus eine einzigartige Seherfahrung bietet.

Die Auslotung des Potenzials experimenteller filmischer Verfahrensweisen ist Gegenstand eines weiteren Programms (10.6.). In 4000 FRAMES – AN EYE OPENER FILM (Australien 1970) beschleunigen sich die Bilder zu einem Sog. Abstrakte Spiralformen entstehen in VIDEO SELF-PORTRAIT (Australien 1971) durch Filter, Einfärbungen und Doppelbelichtungen. PRINTER LIGHT PLAY (Australien 1978) ist eine Studie zu den technischen Voraussetzungen von Farbe im Film, die den geheimnisumwobenen Vorgang im Filmlabor entmystifiziert. In EXPERIMENTS IN THREE-COLOuR SEPARATION (Australien 1980) werden die klassischen Theorien und Prinzipien des Verfahrens in Film und Fotografie ausführlich reflektiert und entfaltet. NOTES ON THE PASSAGE OF TIME (Australien 1979), eine in Pearl Beach aufgenommene Studie der Dreifarbentechnik, verschränkt drei Zeitabschnitte miteinander, die Zeitstufen der Farbtrennungen, der Wechsel der Jahreszeiten als auch das Verstreichen des Tages. Durch die ephemere Wiedergabe der gleichen Szene evozieren die beweglichen Motive den Eindruck von Vergänglichkeit, während unbewegliche Bildelemente Beständigkeit vermitteln. Im Zusammenspiel der beiden Bildmotive wird das Vergehen der Zeit sicht- und spürbar.

IN THIS LIFE’S BODY (Australien 1984, 14.6.) In einer der eigenwilligsten Rück- und Hinwendungen auf das eigene Leben werden das fotografische Bild und Gedanken zur Anwesenheit des Todes im Leben zum Movens der Erzählung selbst und weisen so über das Individuelle hinaus. Der Film besteht gänzlich aus Fotografien, die Corinnes Leben von der Geburt bis ins Jahr 1984 aufscheinen lassen. Unterschiedlichste Genres der Fotografie sind in dem Film vertreten – Studioporträts, Familienfotos, Straßenfotos, Bilder aus Filmen und Selbstporträts. Die sich hierbei entfaltende Geschichte speist sich aus der Existenz und dem Überleben einzelner Fotografien und verweist so auch auf die Leerstellen, die in jede Biografie eingeschrieben sind. Wenn wir beim Betrachten der Fotografien Corinne Cantrills Erinnerungsstrom lauschen, der mit bestechender Intensität das Wesen der Erinnerung und das dem fotografischen Bild und dem Leben eingeschriebene Moment der Vergänglichkeit erfasst, folgen wir fasziniert dem ereignisreichen Leben einer eigensinnigen Frau und werden in tieferen Schichten der Wahrnehmung auf uns selbst zurückgeworfen. Ein in seiner minimalistischen Form eindrückliches Werk, das berührt.

HARRY HOOTON (Australien 1970, 15.6., Einführung: Michelle Carey) Eine Hommage an den Dichter und Anarchisten Harry Hooton, eine Schlüsselfigur der linksintellektuellen Bewegung Sydney Push. Ein visuell wilder Essayfilm, der nur insofern dokumentarischen Charakter hat, als der Soundtrack auf Tonaufnahmen beruht, die der im Sterben liegende Dichter 1961 aufnahm und auf denen er seine Gedichte und sozialen Theorien verlas. In der Verschränkung des dokumentarischen Soundtracks mit dynamischen, oftmals abstrakten Montagesequenzen gelang es den Filmemachern, Harry Hootons philosophische Ideen, seine Vorstellungen von Anarcho-Technologie auf Film zu übertragen, der als Energiefeld von Licht und Farbe, Bewegung, Montage und Ton verstanden wird. HARRY HOOTON genießt in Australien Kultstatus. Als Vorfilm zeigen wir EIKON (Australien1969), eine visuelle Harmonie zeitloser Elemente, die in einem Triptychon der Schauspielerin Sharman Mellick ineinanderfließen.

SKIN OF YOUR EYE (Australien 1973, 23.6.) In einem chronologischen Zeitstrom, aufgenommen von 1971–73, entsteht in einer Serie von Filmessays ein lebendiges Bild Melbournes und seiner Gegenkultur. Der Film ist in fast exakt der Reihenfolge seiner Aufnahmen strukturiert und legt somit die Evolution des Films von sehr bunten frühen Sequenzen zu karger, monochromer Bildsprache gegen Ende des Films offen. Aus den Menschenansammlungen treten immer wieder einzelne Individuen in den Vordergrund. Ein Spiel der Gegensätze entfaltet sich, das durch das stetige Vergehen der Zeit hinterfragt wird.

Den Fokus eines weiteren Programms bildet die Durchdringung der dem Sujet innewohnenden Energie, verstärkt durch dezidiert experimentelle Soundcollagen. (26.6.). ROBERT KLIPPEL – JUNK SCULPTURE #3 (Australien 1964) Eine visuelle Umkreisung im Zusammenspiel von Licht und Musik (Larry Sitsky) ermöglicht ein Eintauchen in die skulpturale Arbeit Robert Klippels.
DREAM (Australien 1966) basiert auf einer Serie von Kaltnadelradierungen des australischen Künstlers Charles Lloyd zum Thema gesellschaftliche Aggression. Arthur Cantrills Tonkomposition ist ein Mix aus Percussion, verfremdetem Klavierspiel und Sound-Effekten. In einem animierten Bilderstrom und wilden Klangexplosionen wird in BLAST (Australien 1971) der historische Hintergrund des Manifests des Vortizismus, einer Kunstrichtung, die im frühen 20. Jahrhundert in England entstand, erfahrbar. MOVING STATICS (Australien 1969) sucht die abstrakte kinetische Kunst des holländischen Pantomimen Will Spoor auf die Leinwand zu übertragen. In NOTES ON BERLIN, THE DIVIDED CITY (Australien 1986) verweisen die Musikstücke, Klänge und Radiofetzen aus beiden Teilen der geteilten Stadt auf die sich in Schichten überlagernden Zeiträume und Ideologien.

Ein Programm widmet sich dem Farbenrausch, der im Zusammenspiel von Licht und Schatten und experimenteller Klangkunst einen sublimen Erinnerungsraum heraufbeschwört (30.6.). GARDEN OF CHROMATIC DISTURBANCE (Australien 1998), CITY OF CHROMATIC DISSOLUTION (Australien 1999) und THE ROOM OF CHROMATIC MYSTERY (Australien 2006) zählen zu den letzten mit der Dreifarbentechnik entstandenen Farbstudien der Cantrills, in denen vor allem durch Arthur Cantrills experimentellen Soundtrack aus verfremdeten Naturgeräuschen, elektronischen Klangteppichen und konkreter Musik jeder Eindruck einer naturalistischen Darstellung in die Ferne gerückt wird, während gleichzeitig Vergangenes heraufbeschworen wird und das eigentlich Unsichtbare zum Bild wird.
In RAINBOW DIARY (Australien 1984) und MYSELF WHEN FOURTEEN (Australien 1989), die unter der Mitwirkung von Ivor Cantrill, Sohn der Cantrills, Autist und Maler, entstanden, beginnen die Farben, untermalt von der Musik Chris Knowles’, zu tanzen. MYSELF WHEN FOURTEEN erzeugt einen hypnotischen Sog durch die im Rotoskopie-Verfahren animierten Zeichnungen. THE ROOM OF CHROMATIC MYSTERY (2006) ist der letzte Film der Cantrills. Gefilmt in ihrem Haus in Brunswick scheinen sich nicht nur Pflanzen, Dinge und Lichtspiegelungen in schillernden Farbspektren in ihrer Schönheit preiszugeben, sondern auch die Spuren eines Lebens-Raumes voller Stimmen, Töne und Gespräche hallen leise im atmosphärischen Klangraum nach. Das Vergehen der Zeit und die Schönheit des Augenblicks überlappen sich und werden zum Echo der Erinnerung. (ara)

THE SECOND JOURNEY (TO ULURU) sowie einige Beispiele ihrer filmischen Experimente mit der Dreifarbentechnik werden vom 30.5.–3.6. in der Betonhalle im silent green zu sehen sein, wo sie mit drei Arbeiten von Mareike Bernien und Kerstin Schroedinger in Verbindung gebracht werden, die sich mit den ideologischen Implikationen von Farbe befassen. Ein Projekt von Film Feld Forschung im Rahmen von „Archive außer sich“.

Mit Dank an ACMI, Melbourne, und DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt/Main.

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Arsenal on Location wird gefördert vom Hauptstadtkulturfonds