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Ein kleiner Junge, der einen Tag lang verzaubert der Sonne nachläuft; zwei Liebende, die eine Nacht lang ernüchtert nach einem Unterschlupf für ihre Liebe suchen; ein weites, träges Meer, an dessen Ufern vier Jugendliche die letzten unbeschwerten Tage ihres Lebens verbringen. Diese Ideen bilden die Grundlage für drei Filme, die ob ihrer Originalität, Modernität, der Menschlichkeit ihrer Gefühle und ihrer genuin persönlichen Filmsprache zu den künstlerischen Höhepunkten des Tauwetterkinos und der sowjetischen Filmgeschichte überhaupt gehören. Ihr Schöpfer, der sowjetisch-jüdische Filmemacher Michail Kalik, gehört zur gleichen Generation wie Andrej Tarkowskij und Sergej Paradschanow, galt neben ihnen und dem zuletzt in zahlreichen Retrospektiven gewürdigten Marlen Chuzijew Anfang der 60er Jahre international als eines der großen Talente des Sowjet-Kinos.

Kalik wurde 1927 als Sohn eines bekannten Theaterkünstlers in Moskau geboren. Als einer der ersten jüdischen Studenten überhaupt wurde Kalik Anfang der 50er Jahre an der staatlichen Filmhochschule WGIK aufgenommen. Kurz nach Beginn des Studiums, auf dem Höhepunkt von Stalins antijüdischer Politik, wurde er verhaftet und verbrachte mehrere Jahre in einem Gulag. Nach Stalins Tod kam er frei, konnte sein Studium wieder aufnehmen und drehte seine ersten Filme in der moldawischen SSR. Zu seinem engsten künstlerischen Partner wurde der Komponist Mikael Tariwerdijew, der für seine innovativen und experimentierfreudigen, aber zugleich eingängigen Filmmusiken noch heute berühmt ist. Als die Tauwetterperiode und ihr künstlerischer Freiraum endeten sowie neue antisemitische Repressalien in der Folge des Sechstagekrieges 1967 in der Sowjetunion einsetzten, emigrierte Kalik mitsamt seiner Familie 1971 nach Israel, wo er sich Moshe (die hebräische Form des Namens Moses) nennen ließ. In der UdSSR war es fortan verboten, über ihn zu schreiben, sein Name wurde sogar aus der Nennung der WGIK-Absolventen gestrichen. Zwischen 1971 bis zu seinem Tod 2017 drehte er nur drei weitere Filme, erlebte in seinen letzten Lebensjahren aber noch die Wiederaufführung seiner Werke in Russland. Unsere Retrospektive, welche die Gesamtheit seiner Kinoarbeiten in Filmkopien aus dem Gosfilmofond und der Jerusalem Cinematheque zusammenführt, präsentiert das Werk eines großen Filmkünstlers, dessen Wiederentdeckung überfällig ist.

TSCHELOWJEK IDET SA SOLNTSEM (Der Sonne nach, UdSSR/Moldawische SSR 1961, 18.1., Einführung: Anna Malgina & 25.1.) Laut Kalik selbst war dies der erste Film, in dem er (beeinflusst unter anderem von Lamorisse, Saint-Exupéry und Matisse) zu seiner persönlichen künstlerischen Sprache fand. Der sechsjährige Junge Sandu erfährt von einem gleichaltrigen Spielkameraden, dass er die Welt einmal umrunden kann, indem er der Sonne folgt, und dann von der anderen Seite an seinen Ausgangspunkt zurückkommen wird. Er setzt diese Idee in die Tat um und damit beginnt eine visuell verspielte, bisweilen experimentelle Odyssee durch das Reich der Sowjets, der Kindheitsträume und -hoffnungen, der Farben und Symbole. Musikalisch berauschend, immer in Bewegung, kopfüber wie gespiegelt, Groß und Klein durchmischend, gipfelt der Film in einer atemberaubenden Traumsequenz, die den Jungen in ein neues Lebensalter zu überführen scheint. „Dieser Film war einst das Manifest der sogenannten ‚Schestidesjatniki‘ [Sechziger]. Er spiegelte ihr Credo – den Glauben daran, dass der Mensch von Grund auf gut ist, ungeachtet des Bösen, das auf der Welt existiert und manchmal sogar herrscht.“ (Naum Kleiman) Der Film wurde international gefeiert, aber von den sowjetischen Kulturfunktionären angefeindet. Ihre Vorwürfe gipfelten in der Unterstellung: „Wenn der Mensch der Sonne folgt, dann heißt das, dass er in den Westen geht!“

DO SWIDANJA, MALTSCHIKI (Auf Wiedersehen, Jungs, UdSSR 1964 | 19.1., Vortrag: Anna Malgina & 25.1., Einführung: Adelheid Heftberger) In seinem darauffolgenden Film wechselte Kalik radikal sein künstlerisches Register: vom geradezu ekstatischen Gestus bei TSCHELOWJEK IDET SA SOLNTSEM zu einem introspektiven, leisen Rückblick in die späten 30er Jahre, die er ästhetisch wie auch musikalisch kongenial rekonstruiert. DO SWIDANJA, MALTSCHIKI spielt in einer Kleinstadt am Meer. Drei Jungen vertreiben sich dort ihre Zeit in den Hinterhöfen, an der Promenade und am Strand. Einer von ihnen, Wolodja, ist in die junge Inna verliebt. Bald werden alle drei zur Militärausbildung aufbrechen, in den Kinowochenschauen sehen sie bereits Aufnahmen von der Bewaffnung des nationalsozialistischen Deutschlands. Kalik strukturiert den Film durch die als Zwischentitel wiedergegebenen Erinnerungen eines Erwachsenen, deren existenzielle Melancholie einzigartig im sowjetischen Kino ist: „Vor mir lag, dachte ich, nichts als Freude.“

LJUBIT ... (Lieben ..., UdSSR/Moldawische SSR 1968, 19. & 26.1., Einführung: Ekaterina Mostovaia) war Kaliks letzter Kinofilm vor seiner Emigration aus der UdSSR und das letzte Aufbäumen des Tauwetterkinos, bevor die Breschnjew’sche Restauration auch im Kino begann. Er wagte eine leidenschaftliche, traumverlorene, auch musikalisch betörende Ode an die Liebe in ihren paradiesischen und bitteren Erscheinungsformen. In vier auf Kurzgeschichten (zum Teil bekannter Autoren wie etwa des Moldawiers Ion Druță) beruhenden Episoden erzählt er von Paaren, die zueinanderfinden oder auseinandergehen, dargestellt von berühmten sowjetischen Schauspielern wie Andrej Mironow, Alissa Freindlich und Marianna Wertinskaja, deren modernes Spiel an die Schauspielführung bei Antonioni oder Bergman erinnert. Zwischen diese inszenierten Passagen montiert Kalik dokumentarische Aufnahmen von Sowjetbürgern (gedreht von Inna Tumanjan), die offen und unverstellt darüber sprechen, was die Liebe für sie bedeutet. Dies wiederum wird gerahmt von eingeblendeten Zitaten aus dem biblischen Hohelied der Liebe. Das Ausnahmewerk wurde von den Behörden zensiert und von Kalik erst Anfang der 90er Jahre rekonstruiert. Wir zeigen die Erstaufführungsfassung und führen im Anschluss die zensierten Szenen vor.

I WOSWRASCHAJETSJA WETER ... (Die Rückkehr des Windes, UdSSR/USA 1991, 20. & 30.1.) Kaliks letzter Spielfilm erfindet gleichsam eine neue filmische Form: Er gestaltet seine eigene Autobiografie als virtuose Collage aus inszenierten Spielszenen, Archivmaterial und Zitaten seiner eigenen Filme. Als „Memoiren“ bezeichnet, beginnt der Film mit der aus subjektiver Kameraperspektive gefilmten ersten Rückreise der „Filmfigur“ Kalik in seine Heimat nach 18 Jahren Aufenthalt in Israel. Im Kreise seiner Freunde angekommen, erinnert er sich an sein Leben, sein buntes und künstlerisch interessiertes Elternhaus, die ersten Kinovorführungen, den Beginn des Zweiten Weltkrieges, die Evakuation nach Kasachstan und die dortigen Dreharbeiten zu Eisensteins Iwan Grosny. Der zentrale Teil des Films schildert Kaliks Jahre im sibirischen Gulag – eine Erinnerung, die fortan weder den Film noch ihn je verlässt. Ohne Bitternis, aber sich unnachgiebig erinnernd, entwirft er eine kulturelle wie gesellschaftliche Chronik der zentralen Jahrzehnte der Geschichte der Sowjetunion und seinen Lebensweg als Sand in ihrem Getriebe. Als Vorfilm zeigen wir NEOTPRAWLENNOE PISMO W MOSKWU (Der nicht abgeschickte Brief nach Moskau, Israel 1977), ein filmischer Brief an einen jüdischen Freund aus Moskauer Tagen, der starb, bevor er Kalik nach Israel folgen konnte.

ATAMAN KODR (Michail Kalik, Boris Ryzarew, Olga Ulizkaja, UdSSR/Moldawische SSR 1958, 22. & 28.1.) Noch als Student an der WGIK, in der Klasse von Sergej Jutkewitsch, drehte Kalik seinen ersten Langfilm im Studio der „Moldowa-Film“. In Co-Regie mit seinem Kommilitonen Boris Ryzarew (später ein bekannter Regisseur von Märchenfilmen) und Olga Ulizkaja, die zeit ihres Lebens in verschiedenen künstlerischen Funktionen für „Moldowa-Film“ tätig war, inszenierte er ATAMAN KODR, der im Moldau der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist und die Geschichte eines Knechts erzählt, der sich gegen seinen Herren auflehnt. Er initiiert einen Gaiduken-Aufstand, der zu einer Befreiungsbewegung wird. Noch konventionell in der Erzählhaltung, wissen die Filmemacher Elemente der moldawischen Folklore, malerische Landschaften und bisweilen auch Anleihen beim gothic horror zu einem rasanten Historienfilm zu formen.

JUNOST NASCHICH OTZOW (Die Jugend unserer Väter, Michail Kalik, Boris Ryzarew, UdSSR 1958, 23.& 28.1.) Der WGIK-Diplomfilm von Kalik und Ryzarew adaptiert einen Roman des sowjetischen Schriftstellers Alexander Fadejew, der während der Stalinzeit zu großer Bekanntheit gelangte. Das biografische Buch wie auch der Film beschreiben den Kampf von Partisanen und Rotarmisten gegen japanische Truppen im Fernen Osten Russlands während des Russischen Bürgerkriegs im Jahr 1919. Einerseits ein klassischer Partisanenfilm, zeichnet er sich zugleich dadurch aus, dass über den Großteil des Films hinweg kein Kampfgeschehen stattfindet, sondern die revolutionären Truppen bei der Rast, bei Gesprächen, bei all-täglichen und entsprechend nicht-heroischen Tätigkeiten gezeigt werden. In der Figur eines älteren Kämpfers findet Kalik eine Identifikationsfigur. Mittels einiger akustischer Rückblenden erinnert er sich an die Zeit mit seinem Sohn, die Kalik später in I WOSWRASCHAJETSJA WETER … zu Dialogen zwischen sich und seinem Vater verwandelt.

KOLYBELNAJA (Wiegenlied, UdSSR/Moldawische SSR 1960, 24.1., Einführung: Ana-Felicia Scutelnicu & 26.1.) Für seine erste eigene Regiearbeit kehrte Kalik in die moldawische SSR zurück. Sein Film wirkt einerseits zeit- und ortlos, zeugt aber von einer intensiven Auseinandersetzung mit moldawischer Landschaft und Kultur, die im leitmotivischen Einsatz des titelgebenden Wiegenlieds gipfelt, das auf Rumänisch gesungen wird. Der berührende Film erzählt die Geschichte des Piloten Losew, der in den Bombardements faschistischer Truppen auf seine Heimatstadt zu Beginn des Zweiten Weltkriegs seine Frau verlor und auch seine neugeborene Tochter gestorben wähnt. Durch einen Zufall erfährt er, dass das Mädchen überlebt hat und begibt sich auf eine lange Suche nach ihr, die inzwischen unter dem Namen Aurica lebt und deren Kindheit in Rückblenden erinnert wird. Georges Sadoul, der KOLYBELNAJA bei den Filmfestspielen in Venedig sah, schrieb, Kalik habe „Talent und Temperament“ und sei ein Name, den man sich einprägen müsse.

SHLOSHA V’ACHAT (Drei und eins, Israel 1974, 24. & 29.1.) Kalik traf Ende 1971 mit seiner Familie in Israel ein. Man empfing ihn dort als berühmten Regisseur, er bekam zahlreiche Filmangebote und entschied sich nach langer Überlegung für einen russischen Stoff: die Erzählung „Malwa“ von Maxim Gorki, die er als Allegorie auf den Staat Israel bearbeitete und kurz vor dem Jom-Kippur-Krieg 1973 ansiedelte. Die Hauptfigur, sowohl bei Gorki als auch bei Kalik, ist ein Familienvater, der vor Jahren Frau und Kind verlassen hat. An der Meeresküste beginnt er mit seiner jungen Geliebten ein neues Leben, bis sein Sohn ihn findet, was neue Dynamiken erzeugt. Der in schillernden Kostümen und Farben, nach dem Zeitgeist der 70er Jahre inszenierte Film fiel beim israelischen Publikum wie auch bei der Kritik durch und beendete Kaliks dortige Karriere, zumal er auch weiterhin keine künstlerischen Kompromisse eingehen wollte. Ein faszinierendes Zeugnis des Versuchs eines Exilkinos, wie es etwa auch im Fall des 1968 aus Polen emigrierten jüdischen Regisseurs Aleksander Ford zum Scheitern verurteilt war. (gv)

Das Programm wird von einer Diskussionsveranstaltung über Michail Kalik als herausragenden Vertreter des Tauwetter-, aber auch des Exilkinos begleitet. Es diskutieren Anna Malgina, Erika und Ulrich Gregor, Barbara Wurm und Christoph Huber.
Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum, Dank an Jurij Meden und Christoph Huber. Mit freundlicher Unterstützung der Botschaft des Staates Israel in Berlin, Dank an Angela Paul.

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