„Kunst ist eine Möglichkeit der Selbstverteidigung, um das Leben nicht vorbeiziehen zu lassen, ohne sich dazu geäußert zu haben“, sagte Widerberg einst. In Malmö als Kind einer Arbeiterfamilie geboren, musste er sich den Weg zur Kunst hart erarbeiten. Schon in frühen Jahren wurde er als Schriftsteller und Filmkritiker bekannt und plädierte in seinen Artikeln, analog zu seinen zeitgenössischen Kollegen in Frankreich oder Deutschland, für ein neues, zeitgemäßes Kino. Dem Anfang der 60er Jahre weltweit gefeierten Ingmar Bergman warf Widerberg öffentlich vor – bei aller Bewunderung für dessen Werk als solches –, Filme ohne Interesse für soziale Verhältnisse zu drehen, und er publizierte eine ganze Essaysammlung über mögliche neue Visionen für das schwedische Kino. Kurz darauf bekam er als filmischer Autodidakt die Chance, seine ersten eigenen Regiearbeiten zu realisieren. Mit BARNVAGNEN (1963) leitete Widerberg maßgeblich eine schwedische Nouvelle Vague ein, zusammen mit Gleichgesinnten wie Jan Troell, Roy Andersson und Vilgot Sjöman, wandte sich aber bald schon anderen Genres und Formen zu. In den Jahren 1967 bis 1976 war fast jeder seiner Filme ein internationaler Erfolg, ab Ende der 70er Jahre dagegen konnte er – wegen einer sich verändernden Kinolandschaft sowie auch aufgrund seines schwierigen, impulsiven Charakters – nur noch wenige Kinofilme realisieren und arbeitete viel fürs Fernsehen.
Die Retrospektive präsentiert erstmals in Berlin die Gesamtheit seiner Kinospielfilme, zwei Kurzfilme, einen äußerst selten gezeigten Kollektiv-Dokumentarfilm, an dem Widerberg als einer von 13 Regisseuren arbeitete, sowie (20 Jahre nach ihrer Erstaufführung im Forum der Berlinale) eine Dokumentation von Stefan Jarl über das Schaffen Bo Widerbergs.
ELVIRA MADIGAN (Schweden 1967, 12.4., Einführung: Christoph Huber & 28.4.) Eine der schönsten Elegien an die Liebe, die das Kino hervorgebracht hat, noch heute Widerbergs berühmtester Film, der sogar dem 2. Satz aus Wolfgang Amadeus Mozarts 21. Klavierkonzert seinen Namen aufgeprägt hat: Der verheiratete schwedische Gardeleutnant Sixten Sparre liebt die dänische Seiltänzerin Elvira Madigan, Hedvig mit bürgerlichem Namen. Aus Liebe zu ihr verlässt er seine Frau und desertiert aus dem Militär, weshalb sie nach Dänemark fliehen müssen. Dieser Ausbruch beginnt gleichsam als Hochzeitsreise, verheißt Liebesrausch und Freiheit. Zunehmend holt die Wirklichkeit sie ein: Ihr weniges Geld schwindet dahin und stets droht die Gefahr, erkannt und an die Behörden verraten zu werden. Widerbergs Interpretation der in Schweden allseits bekannten Geschichte einer bedingungslosen Liebe, der ein vorrevolutionärer Gestus innewohnt, traf den Nerv eines weltweiten Publikums. Mit seiner realistisch-modernen Farbgebung in der Inszenierung eines historischen Stoffes sowie dem konsequenten Einsatz von natürlichem Licht war sie auch formal wegbereitend.
BARNVAGNEN (Kinderwagen, Schweden 1963, 13. & 24.4., Einführung: Friederike Horstmann) Die 18-jährige Britt arbeitet in einer Textilfabrik, wohnt noch bei ihren Eltern und streift lebenshungrig durch die Straßen ihrer Heimatstadt. Nach einer flüchtigen Affäre mit einem Musiker wird sie schwanger. Er zieht sich aus der Verantwortung zurück, sie entscheidet sich, das Kind zu bekommen und diesen Moment für den Ausbruch aus ihrem bisherigen Leben zu nutzen. Gleichzeitig begegnet sie Björn, einem von Selbstzweifeln, Auflehnung und dem Hunger nach Wissen getriebenen Gymnasiasten. In seinem ersten abendfüllenden Spielfilm setzte Widerberg seine zentralen Forderungen an das schwedische Kino um: echte, lebensnahe Charaktere, Interesse für den sozialen Raum, visuelle Frische, eine verspielte Erzählweise. Bei allem konzeptuellen Willen zur Umgestaltung strahlt der Film noch heute eine überwältigende Lebendigkeit aus, nicht zuletzt dank der Fotografie des späteren Regisseurs Jan Troell. Als Vorfilm zeigen wir POJKEN OCH DRAKEN (Der Junge mit dem Drachen, Schweden 1962), Widerbergs Filmdebüt, ein ebenfalls von Jan Troell fotografiertes, berührendes Porträt eines Tages im Leben eines Jungen.
MANNEN PÅ TAKET (Der Mann auf dem Dach, Schweden 1976, 13.4., Einführung: Christoph Huber & 26.4.) Nach dem Mord an einem Polizeikommissar nimmt Kommissar Beck die Ermittlungen auf und stellt bald fest, dass der Verstorbene für seine brutalen Ermittlungsmethoden berüchtigt, aber aufgrund der Solidarität unter seinen Kollegen nie belangt worden war. Mit seiner Verfilmung eines Romans des berühmten schwedischen Autorenduos Sjöwall/Wahlöö beschritt Widerberg neue Wege: Sein erster Genrefilm übt zunächst bittere Gesellschaftskritik mit den Mitteln des Ermittlungskriminalfilms, bevor unversehens eine der aufwendigsten, atemlosesten Actionsequenzen des europäischen Kinos beginnt. Widerbergs Film war stilbildend für alle späteren sog. Schwedenkrimis und sein letzter weltweiter Kinoerfolg.
FIMPEN (Fimpen, der Knirps, Schweden 1974, 14.4., Einführung: Christoph Draxtra) Auch im Bereich des Kinder- und Sportfilms hat Widerberg ein zentrales Werk geschaffen: FIMPEN ist auf inhaltlicher Ebene von Anfang bis Ende ein modernes Märchen, fantastisch, voller absurder Einfälle und eine unmögliche Handlung konsequent realistisch denkend; in visueller Hinsicht gehört er zum naturalistischen Teil von Widerbergs Œuvre, verwendet eine lebhafte Handkamera, die in den ausgiebig zelebrierten Sportszenen hautnah am Spielgeschehen bleibt. Ein Talentbeobachter entdeckt den sechsjährigen Johan (dessen schwedischer Spitzname „Zigarettenstummel“ bedeutet) beim Fußballspielen. Bald steigt er, an der Seite einiger der besten (realen) schwedischen Fußballer der Zeit, zum wertvollen Spieler in der Nationalmannschaft auf.
LIV TILL VARJE PRIS (Leben um jeden Preis, Stefan Jarl, Schweden 1998, 14.4.) Ein Jahr nach dem frühen Tod Widerbergs veröffentlichte der Filmemacher Stefan Jarl eine Dokumentation über seinen Freund und Regiekollegen. Ihm gelang eine unkonventionelle Annäherung an dessen Schaffen, allem voran anhand nicht veröffentlichter Notizen und Szenen aus unvollendeten Filmprojekten. Eine entscheidende Rolle im Film spielt Thommy Berggren, Widerbergs Stammschauspieler zwischen 1963 und 1971, und sein Verhältnis zum Werk seines ehemaligen Mentors. Als der Film 1999 im Forum der Berlinale aufgeführt wurde, schrieb Jarl: „Für jemanden aus der Arbeiterschicht wie mich war es nicht leicht, einen Helden zu finden. Bo wurde mein Mentor. Er machte Filme über die Wirklichkeit. In seiner Welt gab es keinen Gott, nur normale Menschen. Für ihn hatte der Film etwas mit dem Leben zu tun und das Leben mit Film.“
KÄRLEK 65 (Liebe 65, Schweden 1965, 15.4.) Was Federico Fellini erst nach siebeneinhalb Werken anging, unternimmt Widerberg schon in seinem dritten Langfilm: den Versuch einer schonungslos-ehrlichen Selbstbefragung als Künstler und die filmische Aufarbeitung einer Sinnkrise. Die Hauptfigur Keve, Regisseur, Ehemann, Vater und Liebhaber zugleich, wird während der Vorbereitungen zu seinem nächsten Film von einer Krise erschüttert und stürzt sich in eine Liebesaffäre mit der Frau eines Bekannten. Widerberg schuf ein Kompendium der filmästhetischen und gesellschaftspolitischen Debatten der Entstehungszeit, artikuliert kühne Gedanken über die Liebe und das Verhältnis zwischen Kunst und Leben.
KVARTERET KORPEN (Das Rabenviertel, Schweden 1963, 16. & 26.4.) Widerbergs zweiter Film denkt den Sozialrealismus seines Debütspielfilms BARNVAGNEN weiter, diesmal nüchterner, direkter erzählt, und noch unverkennbarer autobiografisch geprägt: Der junge Anders lebt im titelgebenden „Rabenviertel“, einem von Arbeitern und kinderreichen Familien bewohnten Elendsviertel in Malmö. Besonders sein arbeitsloser Vater, der trinkt oder auf der Couch rumliegt und jede Lebenshoffnung verloren hat, hält ihn zurück auf seinem Weg in die Freiheit, die er sich von einem Dasein als Schriftsteller erträumt. Der Film etablierte Widerberg als zentrale Stimme des jungen schwedischen Kinos und wird noch heute zu einem der besten schwedischen Filme aller Zeiten gezählt. Wir zeigen den Film in einer zeitgenössischen 35-mm-Filmkopie sowie in einer kürzlich vom schwedischen Filminstitut durchgeführten 4K-Digitalisierung.
HEJA ROLAND! (Hallo Roland, Schweden 1966, 17.4.) Widerbergs einziger Film, der weitestgehend als Komödie, jedenfalls als humorvolle (und erschreckend aktuell wirkende) Satire angelegt ist. Auf einem eigenen Roman beruhend, erzählt er von dem in den Tag hineinlebenden jungen Werbetexter Roland. Eines Tages wird er mit einer Marktumfrage beauftragt und entdeckt im Zuge ihrer Durchführung, wie mächtige Konzerne seine Generation zum bewusstlosen Konsumieren verleiten wollen. Widerbergs letzter Schwarzweißfilm bedeutete seinen Abschied von der Nouvelle-Vague-Ästhetik und beschloss die erste Phase seiner Filmkarriere.
DEN VITA SPORTEN (Der weiße Sport, Gruppe 13 [= Bo Widerberg, Roy Andersson, Kalle Boman u.a.], Schweden 1968, 18.4., Einführung: Natalie Lettenewitsch) Am 3. Mai 1968 sollte die schwedische Tennisnationalmannschaft im Davispokal zum Match gegen Rhodesien antreten, das damals wegen seiner Politik der Rassentrennung berüchtigt und von den meisten westlichen Ländern geächtet war. Die überwiegend von Studenten initiierten heftigen Proteste führten letztlich zur Absage des Spiels. Die eigens gegründete „Gruppe 13“, der sich auch Widerberg anschloss, filmte die Anführer der Bewegung bei der Vorbereitung und bei der Anreise zum Austragungsort, dokumentierte mit fünf Kameras den Protest selbst und untersuchte schließlich auch durch Befragung von Anhängern sowie Gegnern der Aktion ihre Nachwirkung. Es entstand eine brillante, differenzierte und trotzdem engagierte Studie über die Mechanik und Dynamik eines Protestes, der von einem gesellschaftlichen Umdenken kündet.
ÅDALEN 31 (Schweden 1969, 19.4., Videoeinführung: Olivier Assayas & 27.4.) Im Jahr 1931 begaben sich Arbeiter im nordschwedischen Ådalen in den Streik. Es kam zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen ihnen und der Armee, der als „Die Schüsse von Ådalen“ in die schwedische Geschichte einging und auf lange Sicht hinweg die Vorstellung von einer friedlichen Gesellschaft prägte. Dieses wegweisende Ereignis erzählt Widerberg aus der Sicht des jungen Arbeitersohnes Kjell, der sich die in die Industriellentochter Anna verliebt. Widerbergs einziger im CinemaScope-Format gedrehter Film (fotografiert von seinem damaligen Stammkameramann Jörgen Persson, dessen Bilder frühlingshaft flirren) zeichnet im Wechsel zwischen privater und gesellschaftlicher Geschichte das Bild von einem Widerstand, der vollkommen gegenwärtig wirkt und dafür große Verehrung von u.a. Olivier Assayas genießt.
JOE HILL (Schweden/USA 1971, 19. & 25.4.) Joe Hill war ein in Schweden geborener und als junger Mann in die USA ausgewanderter Liedermacher, Wanderarbeiter und Gewerkschaftsaktivist. Sein bewegtes Leben, Schaffen und sein staatlich befohlener Tod sind Gegenstand von Widerbergs einzigem in den USA gedrehten Film, der wie eine Ballade gestaltet ist – virtuos verknappt und konzentriert er viele Jahre im Leben Hills auf bewegte Episoden und prägende Begegnungen, die ein ernüchterndes Bild vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten zeichnen. In diesem Film wie auch in seinem ganzen Werk suchte Widerberg in der Schauspielführung nach der Wahrheit des Ausdrucks und seine letzte Zusammenarbeit mit Thommy Berggren enthält einige der berührendsten Momente seines Œuvres. Aufgrund von Unstimmigkeiten mit den Produzenten existieren zwei Fassungen, die wir beide zeigen, wobei die schwedische (derzeit leider nur als DCP verfügbar) die von Widerberg Gewünschte ist. Im Gegensatz zur US-Fassung wird in ihr u.a. auf die Verwendung des Lieds „I Dreamed I Saw Joe Hill Last Night“ in der Ver-sion von Joan Baez verzichtet.
VICTORIA (Schweden/BRD 1979, 20.4., Einführung: Gary Vanisian) Die Verfilmung einer Erzählung von Knut Hamsun handelt von der unmöglichen Liebe zwischen dem Müllerssohn Johannes und Victoria, der Tochter eines Herrenhofbesitzers. In Koproduktion mit dem ZDF entstanden, verfilmte Widerberg die Vorlage detailgetreu, doch mit einer eigenen Akzentsetzung. Die Übersetzung der Dialoge in die englische Sprache – aus produktionstechnischen Gründen – befördert die Künstlichkeit des Films, die sich auch als ironische Distanz zum romantischen Stoff lesen lässt. VICTORIA weist zahlreiche Ähnlichkeiten zu ELVIRA MADIGAN auf, bleibt aber zurückhaltender, in sich ruhender, herbstlicher. Die schlechte Rezeption des Films war einer der Gründe dafür, dass Widerberg in seinen letzten 18 Lebensjahren nur noch Produktionsmöglichkeiten für drei Spielfilme bekam.
MANNEN FRÅN MALLORCA (Der Mann aus Mallorca, Schweden 1984, 20. & 27.4.) An einem Vorweihnachtstag überfällt ein Unbekannter ein Postamt und erbeutet eine große Geldsumme. Kurz vor der Aufklärung des Falls durch zwei Kriminalbeamte machen unerwartete Verwicklungen aus der Angelegenheit eine politisch brisante Angelegenheit. Widerberg wählte für seinen zweiten Vorstoß in den Kriminalfilm, der auf einem Roman des bekannten schwedischen Autors Leif G. W. Persson beruht, eine dokumentarisch-nüchterne Erzählweise, die – viel mehr als noch MANNEN PÅ TAKET – auf die Unterwanderung der Erwartungen an das Genre setzt und die alltägliche Tristesse der Ermittlungsarbeit zur Geltung bringt. Nicht zuletzt mittels eines frappierend lakonischen und darin radikalen Filmendes zeichnet er ein niederschmetterndes Bild der gesellschaftlichen Zustände Schwedens.
LUST OCH FÄGRING STOR (Schön ist die Jugendzeit, Schweden/Dänemark 1995, 21.4.) Widerbergs erster Spielfilm nach fast zehn Jahren und sein letzter: nur ein Jahr nach seiner Uraufführung im Wettbewerb der Berlinale, wo er einen Silbernen Bären als Spezialpreis der Jury erhielt, starb er an Krebs. Er führt hier zentrale Themen aus seinen früheren Filmen zu einer sinnlichen Ode auf das Erwachsenwerden zusammen. Wie schon KVARTERET KORPEN drehte er den Film nach einem autobiografischen Drehbuch und siedelte die Handlung im Malmö des Jahres 1943 an. Während in der Welt draußen ein grausamer Krieg wütet, beginnt der 15-jährige Schüler Stig (von Widerbergs Sohn gespielt) eine Affäre mit seiner 20 Jahre älteren Englischlehrerin Viola. Sie sehnt sich nach der Lust und der großen Schönheit (so der Originaltitel), die sie in ihrer Ehe nicht findet.
ORMENS VÄG PÅ HÄLLEBERGET (Der Weg der Schlange auf dem Felsen, Schweden 1986, 23.4.) Die Verfilmung eines bekannten Romans von Torgny Lindgren erzählt von der Unterdrückung der ländlichen Bevölkerung im nördlichen Schweden des 19. Jahrhunderts. Weil ihre Familie die Mietschulden nicht bezahlen kann, gerät eine junge Frau in die sexuelle Abhängigkeit des alten Hausbesitzers. Als dieser nach Jahren stirbt, vererbt er das „Leibrecht“ auf seinen Sohn weiter. Wie schon in ÅDALEN 31 und JOE HILL interessieren Widerberg an geschichtlichen Stoffen die nicht hinreichend aufgearbeiteten Verfehlungen, wobei er jegliche Betroffenheit vermeidet und vor allem interessiert ist an einer konzisen Adaptation des Romans und seines markanten schwarzen Humors. Als Vorfilm zeigen wir EN MOR MED TVÅ BARN VÄNTANDES SITT TREDJE (Eine Mutter von zwei Kindern erwartet ihr drittes, Schweden 1970), ein faszinierendes Dokument, in dem die Schauspielerin Vanessa Redgrave darüber spricht, wie sie ihre Rollen als Mutter und Künstlerin vereint. (gv)
Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Schwedischen Botschaft Berlin.