PIROSMANI (Georgi Schengelaja, UdSSR 1969, 1. & 6.1.) Die poetisch verdichtete und in Fragmenten erzählte Lebensgeschichte des naiven Malers Niko Pirosmanaschwili (1862–1918), der unter dem Namen Pirosmani bekannt wurde. Der Einzelgänger aus einem kleinen Dorf versucht sich in verschiedenen Berufen und scheitert doch immer wieder, flieht vor seiner eigenen Hochzeit, beginnt als Gebrauchs- und Wandmaler zu arbeiten, lässt sich ausbeuten und erniedrigen. Die Struktur des Films entwickelt Schengelaja aus den Bildern Pirosmanis: Flächige Tableaus, die die Räume beinahe zweidimensional wirken lassen, lange Einstellungen und stilisierte Genrebilder geben die Ästhetik Pirosmanis wieder.
LE BAL (Ettore Scola, Italien/Frankreich/Algerien 1983, 2. & 8.1.) spielt sich an einem einzigen Ort, einem Pariser Tanzcafé, ab. Ohne diesen Raum jemals zu verlassen, wird er zum Schauplatz einer Reise durch verschiedene Zeiten des 20. Jahrhunderts, von den 30er Jahren bis zu den 80er Jahren der Gegenwart, zitiert dabei auch die französische Filmgeschichte samt ihrer ikonischen Stars. Während der Kellner das Café betritt, es für den Abend vorbereitet, Musik auflegt, tauchen erst nacheinander einzeln die Frauen, und dann die Männer auf, verteilen sich auf den Raum und an den Tischen. Im Verlauf des Films werden sie in unterschiedlichen Konstellationen aufeinandertreffen, tanzen, flirten, streiten und sich versöhnen, bevor zum Schluss alle wieder allein ihre Wege gehen. Gedreht mit dem Ensemble des Théâtre du Campagnol, vermittelt sich ein Bild Frankreichs im 20. Jahrhundert und von menschlichen Beziehungen, ganz ohne Dialog.
Sånger från andra våningen (Songs from the Second Floor, Roy Andersson, S/N/DK 2000 | 3. & 13.1.) Ein Panorama einzelner, absurder Episoden – ein Mann wird entlassen und hält sich an den Beinen seines Vorgesetzten fest, der Inhaber eines Möbelgeschäfts setzt dieses in Brand, um die Versicherungssumme zu kassieren und wird in der Folge von Geistern gejagt, ein Mädchen wird geopfert, um eine Katastrophe von der Welt fernzuhalten –, die zwischen Verzweiflung und Komik schwanken, von Stillstand, Resignation und Bedeutungslosigkeit erzählen. Andersson erschafft in seinen meisterhaft durchkomponierten Einstellungen von langen Fluren und traumähnlichen Räumen eine apokalyptische Vision mit einer klaustrophobischen Atmosphäre, in der Menschen mit leichenblassen Gesichtern in fahles, grau-gelb-grünes Licht getaucht sind.
GERTRUD (Carl Theodor Dreyer, Dänemark 1964, 4. & 17.1.) In langen, beobachtenden Einstellungen kadriert Dreyer sowohl die Räume als auch die in ihnen agierenden Personen und schreibt damit ihre Beziehungen fest. Reduziert, langsam und voller Bedacht fokussiert der dänische Regisseur das Großbürgertum in Dänemark um die Jahrhundertwende. Im Mittelpunkt steht Gertrud, die auf der Suche nach der bedingungslosen Liebe ihren Ehemann verlässt, sich von ihrem Jugendfreund und zuletzt von ihrem Liebhaber lossagt. Eine Geschichte der Emanzipation und der Einsamkeit.
EL ÁNGEL EXTERMINADOR (Der Würgeengel, Luis Buñuel, Mexiko 1962 | 5. & 10.1.) In einer großbürgerlichen Villa findet eine mondäne Party statt. Als die Gäste aufbrechen wollen, werden sie wie durch ein unsichtbares Band davor zurückgehalten, die Schwelle des Hauses zu überschreiten. Mehrere Tage hält dieser unerklärliche Zustand an und der herbeigerufenen Polizei gelingt es nicht, in das Gebäude einzudringen. Nervosität, Hysterie und Auflösungserscheinungen greifen um sich, die eben noch vornehmen Anwesenden scheinen nur mehr Opfer ihrer Triebe. Der Raum der eleganten Party, der zum Gefängnis geworden ist, verändert sich: Das luxuriöse Ambiente weicht der Unordnung, dem Chaos, dem Schmutz, der Anarchie.
DER LETZTE MANN (Friedrich Wilhelm Murnau, D 1924 | 11. & 15.1., am Klavier: Eunice Martins) schildert die Geschichte vom Abstieg des in die Jahre gekommenen Portiers (Emil Jannings) des Luxushotels Atlantic. Mit einer prächtigen Uniform bewehrt, empfängt er voller Stolz vor der Drehtür des Hotels die Gäste. Aufgrund seines Alters und seiner zunehmenden Schwäche wird er zum Toilettenmann degradiert und in den Keller verbannt. Die „entfesselte Kamera“ von Karl Freund bewegt sich mühelos durch die Räume des Hotels, von den glänzenden Fassaden und prächtigen Eingangshallen bis zum schäbigen Interieur der Kellerräume. Ein Film von besonderer visueller, poetischer Kraft am Übergang vom Expressionismus zu Neuer Sachlichkeit, zwischen Studioproduktion und dynamischer Großstadtwelt.
TYSTNADEN (Das Schweigen, Ingmar Bergman, Schweden 1963, 12. & 16.1.) Zwei ungleiche und einander entfremdete Schwestern, die jüngere Anna und die ältere Ester, kommen gemeinsam mit Annas Sohn Johan in eine fremde Stadt, deren Bewohner eine ihnen unbekannte Sprache sprechen. Dort steigen sie in einem Hotel ab, wo jede für sich einen Ausweg aus der sie lähmenden Isolation und Kommunikationslosigkeit sucht. Während Anna sich sexuellen Abenteuern hingibt, schließt sich Ester im Hotelzimmer ein. Das labyrinthische und fast leere Hotel, ein alter Prachtbau mit breiten Fluren, die von Johan erkundet werden, unterstreicht in seiner Künstlichkeit die Atmosphäre von existenzieller Entfremdung und suggestiver Bedrohung.
SPACE IS THE PLACE (John Coney, USA 1974 | 14. & 18.1.) Das Weltall als Raum der Utopie, in dem Afroamerikaner frei von Unterdrückung und Ausbeutung leben können, wird in Sun Ras afrofuturistischem Science-Fiction-Musikfilm SPACE IS THE PLACE zur Realität. Nach Erkundungsreisen in Raum und Zeit kehrt der Jazz-Avantgardist auf die Erde zurück, um dank des intergalaktischen Mediums der Musik Gleichgesinnte auf einen fremden Planeten zu transportieren. „Sein Arkestra – der Name ist eine Zusammensetzung aus Orchester und Arche – bildet das Gegenteil zum Sklavenschiff, es ist das klanggewordene Rettungsboot seiner Mitmenschen. Ein Zufluchtsort für all jene, die einst aus der Geschichte ausradiert wurden oder werden sollten. Sun Ra eilt zu Hilfe, mit dem Arkestra geht’s sogar outer space, denn Space Is The Place. Space funktioniert bei Ra im doppelten Sinne: Da ist das ferne Weltall als Sehnsuchtsort für Freiheitsliebende und da ist der Raum, den man als einen sicheren, frei von Rassismus und Segregation imaginiert.“ (spex)
NATIONAL GALLERY (Frederick Wiseman, F/USA/GB 2014, 19. & 30.1.) Seit 1966 porträtiert Frederick Wiseman öffentliche und private Institutionen – vorrangig amerikanische, seit einigen Jahren vermehrt auch europäische – und die durch sie geprägten Räume. Mit der National Gallery in London wendet er sich den Räumen eines Museums zu, das eine der berühmtesten Kunstsammlungen der Welt beherbergt, und erkundet das Ausstellen, Präsentieren und Sehen von Bildern aus unterschiedlichsten Perspektiven und mit einem wie immer geduldigen Blick. Neben der Arbeit hinter den Kulissen, dem Verwalten von Budgets, Diskutieren über Werbemaßnahmen und Restaurieren von Gemälden steht das Gemälde und das Sehen selbst im Fokus – wer betrachtet hier wen?
TOKYO MONOGATARI (Die Reise nach Tokio, Yasujiro Ozu, Japan 1953, 20. & 23.1.) Ein altes Ehepaar aus einer kleinen Provinzstadt fährt zum ersten Mal in seinem Leben für einige Tage nach Tokio, um die dort lebenden erwachsenen Kinder zu besuchen. Dort müssen sie jedoch feststellen, dass für sie kein Platz ist: Die Eltern sind ein Störfaktor in den engen Wohnungen und den Anforderungen der modernen Arbeitswelt, sie werden hin- und hergeschoben und kommen an keinem Ort zur Ruhe. Hauptsächlich in Innenräumen gefilmt, vermitteln Schiebetüren, Fenster, Gitter und Durchgänge einen Eindruck von Enge und eingeschränkter Bewegungsfreiheit. Unter Zurückweisung dramatischer Höhepunkte und aufs Wesentliche reduziert, erzählt Ozu von der Flüchtigkeit des Lebens.
PERRET IN FRANKREICH UND ALGERIEN (Heinz Emigholz, D 2012, 21. & 27.1.) Als „Drama der Raumkonstruktion“ beschreibt Rainer Gansera diese Begegnung mit 30 Bauwerken und Ensembles der französischen Architekten und Bauingenieure Auguste und Gustave Perret. Parallel zur Ausführung zahlreicher Bauprojekte in Frankreich bauten die Perrets unter den Bedingungen des Kolonialismus in Nordafrika. Der Film zeichnet diese Zweiteilung chronologisch nach.
WAVELENGTH (USA 1967, 22. & 24.1.) und BACK AND FORTH (USA 1969, 22. & 24.1.), die beiden halblangen Filme des kanadischen Filmemachers, Künstlers und Komponisten Michael Snow sind Meilensteine des amerikanischen Avantgardefilms und Tiefenbohrungen in Sachen Raum, Bewegung und Wahrnehmung. Während in WAVELENGTH ein hypnotisierender Zoom auf die Fensterwand einer Wohnung und das Bild einer bewegten Meeresoberfläche mit einem ansteigenden und lauter werdenden Sinuston (sowie anderen Geräuschen) verschränkt werden, bewegt sich die Kamera in BACK AND FORTH in abwechselnd schnell und langsamen Horizontal- und Vertikal-Schwenks durch einen Klassenraum. Snows Versuch der Gestaltung eines „reinen Film-Raums und einer reinen Film-Zeit“ (MS) in WAVELENGTH trifft auf eine Studie der vermeintlichen Dreidimensionalität eines Raums in BACK AND FORTH.
A TORINÓI LÓ (Das Turiner Pferd, Béla Tarr, Ágnes Hranitzky, Ungarn 2011, 25. & 31.1.) Unaufhörlicher, tosender Wind, ein trostloses Holzhaus, kärgste Landschaft, ein Kutscher, seine Tochter und ein Pferd. Fünf Tage lang gleicht ein Tag dem anderen, wiederholt sich ein so mühevoll-beschwerliches wie minimales Tagwerk, einzig unterbrochen vom Besuch eines Nachbarn, der Düsteres berichtet, oder von Vorbeiziehenden, die um Wasser bitten. Dann, peu à peu, versiegt der Brunnen, erlischt das Licht, versagt das Pferd seinen Dienst. Rätselhaft, rigoros, hoch konzentriert (und höchste Konzentration erfordernd) kehrt Tarrs „filmischer Monolith“ (H.P. Koll) in knapp 30 Einstellungen (Kamera: Fred Kelemen) die Schöpfungsgeschichte um. Am Ende steht keine Auf-, geschweige denn Erlösung, nur eine finale Dunkelheit und eine existentielle Kinoerfahrung.
AWAARA (Der Vagabund, Raj Kapoor, Indien 1951, 26.1.) Ein junger Vagabund wird vor Gericht wegen versuchten Mordes angeklagt. Während der Richter in ihm nur den Abkömmling einer Verbrecherfamilie sieht, der aufgrund seiner Herkunft zum Kriminellen bestimmt ist, weist die Verteidigerin nach, dass er durch das Verhalten von Mitmenschen und damit auch durch die Schuld jener, die sich über das Verbrechen erhaben fühlen, auf Irrwege geraten ist. Hinter der scheinbaren Leichtfüßigkeit der mit komödiantischer Hand inszenierten Gaunerballade verbergen sich ein sozialkritisches Engagement und ein wacher Sinn für Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Zum genau gezeichneten sozialen Raum gesellt sich in Musikeinlagen eine prächtige künstliche Welt, in der die grausame Realität aufgehoben wird. (mg/al)