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Unknown Pleasures zeigt US-amerikanische Independent-Filme, die in Deutschland kaum im Kino zu sehen sind. Die Filme, die zum zehnjährigen Jubiläum ausgewählt wurden, zieht es immer wieder an die Peripherie, weg von den urbanen Zentren in die ländliche USA. Hier sind gesellschaftspolitische Diskussionen der vergangenen Jahre deutlich wahrnehmbar. Die Filme zeigen ein Land, in dem politische und wirtschaftliche Gefälle zunehmen, und das sich selbst immer stärker durch seine Gegensätze charakterisiert. Frederick Wisemans MONROVIA, INDIANA erzählt von einem dieser Gegensätze. Es ist ein ruhiges Porträt einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA, in der das Leben stark durch die Landwirtschaft bestimmt wird. Wiseman hört den Bewohnern genau zu, wie sie über das Wachstum der Stadt sprechen, über Feuerhydranten oder über Gott. Eindrücklich führt der Film vor Augen, wie wichtig die ländliche USA für das Selbstverständnis des gesamten Landes ist – und wie gerne dies vergessen wird.

Dass das Leben in der Stadt nicht immer freiwillig aufgegeben wird, zeigen gleich mehrere Filme, wie etwa Paul Schraders FIRST REFORMED oder THE MISEDUCATION OF CAMERON POST von Desiree Akhavan. Während Schrader uns einen zweifelnden Priester einer winzigen Gemeinde zeigt, der mit der Welt ringt und sich dabei immer mehr von ihr entfernt, folgt Akhavan einer Teenagerin in ein abgelegenes erzkatholisches Erziehungslager, wo ihre Homosexualität „geheilt“ werden soll.

Ein besonderer Höhepunkt des Programms ist die Deutschlandpremiere von A BREAD FACTORY von Patrick Wang in Anwesenheit des Regisseurs. Ausgehend vom Kampf um ein alternatives Kulturzentrum, folgt Wang in gleich zwei Filmen verschiedenen Figuren und stellt die Frage, was eine Gemeinschaft ausmacht. A BREAD FACTORY ist ein singuläres Ereignis, eine ausufernde Komödie, die durch ihre Ambition, ihren Humanismus und ihr Gefühl für die alltäglichen Momente, und wie diese uns prägen, begeistert.

Es gibt viele Filme, die den Grenzraum zwischen Mexiko und den USA thematisieren, einer der schönsten ist LONE STAR von John Sayles aus dem Jahr 1996. Wie Wang erzählt auch Sayles immer von Gemeinschaften und selten gelingt ihm dies so eindrücklich wie in LONE STAR. Hier schickt er seine Figuren durch die komplexe Geschichte der Region, wo sie auf gut gehütete Familiengeheimnisse stoßen.

Geradezu ortlos wirkt im Gegensatz dazu THE PAIN OF OTHERS von Penny Lane. Ausgehend von zahlreichen YouTube-Videos, in denen Frauen von einer seltsamen Krankheit sprechen, zeigt uns die Filmemacherin Menschen, die sich von der Medizin (aber auch der Gesellschaft) im Stich gelassen fühlen und im matten Licht der Computerbildschirme ein Refugium für sich entdeckt haben. THE PAIN OF OTHERS ist ein geisterhafter Film und das radikalste Werk des Programms.

DIANE (Kent Jones, USA 2018, 1. & 14.1.) Diane lebt alleine in Massachusetts. Sie kümmert sich um ihre Mitmenschen, allen voran um ihren Sohn, der zuerst den Drogen, später dann Gott verfällt. Ihre eigenen Bedürfnisse ordnet sie stets unter. In ihrer Einsamkeit ist sie besonders empfänglich für die kontinuierlichen Veränderungen des Lebens. Freunde werden krank und sterben, neue kommen hinzu. Nach mehreren Dokumentarfilmen überrascht Kent Jones mit seinem ersten Spielfilm. Ungemein aufmerksam begegnet DIANE seinen Figuren samt ihrem Umfeld. „Mary Kay Place in der Titelrolle bildet mit ihrer ruhigen, facettierten Darstellung das Zentrum – ein warm schlagendes Herz, schmerzend mitunter, weil es im Leben so viele Abschiede gibt. Aber auch so viel Liebe.“ (Alexandra Seitz)
Vorab zeigen wir am 1.1. POLLY ONE (Kevin Jerome Everson, USA 2017) – die Sonnenfinsternis vom August 2017 in Nordamerika mit einer 16-mm-Kamera gefilmt.

THE PAIN OF OTHERS (Penny Lane, USA 2018, 2.1.) Morgellons ist eine mysteriöse Krankheit, deren Symptome direkt aus einem Horrorfilm stammen könnten: Die Betroffenen berichten von Insekten und Würmern, die unter ihrer Haut leben und haarähnliche Fasern absondern. Ärzte verwerfen diese Symptome als Wahnvorstellungen und bieten wenig Hilfe. Vor allem Frauen sind von dieser Krankheit betroffen. Penny Lanes neuer Found-Footage-Film besteht fast ausschließlich aus Bildmaterial, das die Regisseurin auf YouTube gefunden hat. In ihrer Not erzählen die Frauen darin von ihren Erfahrungen und versuchen darzulegen, dass sie nicht verrückt sind und die Krankheit sehr wohl existiert. THE PAIN OF OTHERS ist ein herausforderndes Werk, Horrorfilm und Zeugnis radikaler Selbsthilfe zugleich. Als Zuschauer wird man mit der grundlegenden Frage nach Empathie konfrontiert. Wie weit können wir uns in andere Personen einfühlen?

THE MISEDUCATION OF CAMERON POST (Desiree Akhavan, USA 2018, 2. & 16.1.) Die rebellische Teenagerin Cameron Post wird auf dem Abschlussball beim Sex mit der Ballkönigin erwischt. Eine Tat, die ihre erzkonservative Tante und Erziehungsberechtigte nicht akzeptieren kann. Cameron wird in ein streng katholisches Erziehungslager geschickt. Dort trifft sie auf zahlreiche weitere Teenager, deren Homosexualität ebenfalls durch viel Beten kuriert werden soll. Desiree Akhavans zweiter Film THE MISEDUCATION OF CAMERON POST und Gewinner des Sundance Grand Jury Prize ist eine ruhige Satire, die von einem beeindruckenden Schauspieler-Ensemble, angeführt von Chloë Grace Moretz, getragen wird. Die Handlung spielt 1993, wobei keinerlei Nostalgie für die 90er Jahre aufkommt. Gleichzeitig macht Akhavan deutlich, dass an diesem Film nichts historisch ist.

A BREAD FACTORY: FOR THE SAKE OF GOLD (Patrick Wang, USA 2018, 3.1., zu Gast: Patrick Wang & 15.1.) Seit 40 Jahren leiten Dorothea und Greta die Bread Factory, ein alternatives Kulturzentrum in einer fiktiven Kleinstadt nördlich von New York. Dort werden Theaterstücke und Opern inszeniert, Filme gezeigt und Lesungen organisiert. Doch plötzlich droht der Stadtrat, die -Förderung an zwei hippe Konzeptkünstler aus China zu vergeben. Man möchte zeitgemäß sein und für diese Künstler einen großen Kunsttempel bauen. Im ersten Teil von Patrick Wangs herausragendem Epos geht es um die beiden Frauen und den Kampf um ihr Lebenswerk. Anstatt einer klar strukturierten Erzählung entfacht Wang ein geradezu immersives Gewusel zahlreicher Figuren, die alle Teil der Brotfabrik sind. Der Humor, die Wärme, aber auch das -Verständnis von so komplexen Themen wie Gemeinschaft und Kultur (und was diese vor allem für Jugendliche bedeuten) sind hier sprichwörtlich grenzenlos. In einer Demokratie, so zeigt der Film, kommt es auf jeden einzelnen an, niemand ist eine Insel für sich.

A BREAD FACTORY: WALK WITH ME A WHILE (Patrick Wang, USA 2018, 4.1., zu Gast: Patrick Wang & 16.1.) Im zweiten Teil folgt Patrick Wang Dorothea und Greta, wie sie „Hekuba“, eine griechische Tragödie von Euripides, einstudieren. Draußen verändert sich währenddessen die Stadt und es wird seltsam: Die Startup-Szene trifft ein (und beginnt in Cafés zu tanzen), Touristen schauen sich die nicht-existierenden -Sehenswürdigkeiten an (inszeniert wie ein Musical) und vier Maklerinnen besingen ihre Immobilien. Hinzu kommt, dass die Chefredakteurin der lokalen Tageszeitung plötzlich verschwindet und ihre Arbeit kurzerhand von einer Gruppe Jugendlicher übernommen wird. Der Untertitel diesen zweiten Teils von A BREAD FACTORY könnte nicht passender sein: Walk with me a while. Selten ist man im Kino in den letzten Jahren einem Film so gerne gefolgt wie hier. A BREAD FACTORY ist ein einzigartiges Filmprojekt, dessen Humanismus niemand besser zusammenfasst als einer der Schauspieler während eines Q&As: „If you have a soul, you have questions to ask.“

FIRST REFORMED (Paul Schrader, USA 2017, 5. & 8.1.) Der Tod seines Sohnes traf den ehemaligen Militärpriester Ernst Toller schwer. Seitdem betreut er eine kleine Gemeinde in der Nähe von New York und versucht, seinen Glauben nicht zu verlieren. Dort laufen die Vorbereitungen für das 250-jährige Jubiläum der Kirche auf Hochtouren. Gleichzeitig trifft Toller auf Mary, deren Mann ein fanatischer Umweltaktivist ist und dessen düstere Überzeugungen den von Zweifeln geplagten Priester nur noch mehr aufrütteln. FIRST REFORMED ist einer der Höhepunkte im Werk von Paul Schrader und nach Taxi Driver (1976, Drehbuch von Paul Schrader), American Gigolo (1980) oder The Canyons (2013) ein weiterer Teil seiner „a man in a room“-Serie. Wie seine Vorgänger ist auch Toller unendlich wütend auf die Welt, seine direkten Mitmenschen und die gedankenlose Zerstörung der Natur.

LONE STAR (John Sayles, USA 1996, 5. & 9.1.) John Sayles ist einer der wichtigsten Independent-Filmemacher und LONE STAR aus dem Jahr 1996 ist sein unbestrittenes Meisterwerk (und einer der schönsten Filme der 90er Jahre überhaupt). In einer kleinen Stadt in Texas entdeckt der Sheriff Sam Deeds einen Schädel. Untersuchungen ergeben, dass es sich hierbei um die Überreste des früheren Sheriffs der Stadt handelt. Sam beginnt zu ermitteln und dringt dabei tief in die Geschichte des Ortes ein. 1996 schrieb Roger Ebert: „In LONE STAR geht es nicht einfach nur um die Aufklärung des Mordes und um die Liebesgeschichte. Es ist vor allem ein Film, der zeigt, wie Menschen heute versuchen, in Amerika zusammenzuleben.“ Mehr als 20 Jahre später und angesichts der angespannten Lage an der amerikanisch-mexikanischen Grenze hat sich daran nichts geändert.

DREAM OF A CITY (Manfred Kirchheimer, USA 2018) & DISTANT CONSTELLATION (Shevaun Mizrahi USA/Türkei/NL 2017, 6. & 10.1.) Seit über 60 Jahren porträtiert Manfred Kirchheimer New York. Sein neuester Film, der mittellange DREAM OF A CITY, ist eine schwelgerische Stadtsymphonie, die aus Bildern besteht, die er und Walter Hess Ende der 50er Jahre drehten und die vom Wandel der Stadt erzählen. Auch DISTANT CONSTELLATION spricht vom Wandel. Vor einem Altersheim in Istanbul werden Hochhäuser gebaut, der Lärm der Baustellen dröhnt durch die Straßen. Im Heim herrscht dagegen eine beschauliche Ruhe. Hier leben unterschiedlichste Menschen: ein Möchtegern-Casanova (der der Filmemacherin auch gleich einen Heiratsantrag macht), ein Historiker, Schelme und Künstler. Es ist ein wahrlich vielsprachiges Werk. Neben Türkisch wird auch Englisch, Französisch, Armenisch, Griechisch und Kurdisch gesprochen, wir sehen Menschen, die Minoritäten angehören. In erster Linie sind sie jedoch alle Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Wenn etwa eine Frau von Massakern und gesellschaftlicher Ausgrenzung erzählt, so ist Shevaun Mizrahis DISTANT CONSTELLATION nicht nur ein verträumtes (und zuweilen sehr humorvolles) Porträt dieses Ortes, sondern ein überaus politischer Film.

MONROVIA, INDIANA (Frederick Wiseman, USA 2018, 7. & 11.1.) Die große Konstante im umfangreichen Werk von Frederick Wiseman sind seine Chroniken unterschiedlichster (amerikanischer) Institutionen, wie zuletzt EX LIBRIS: NEW YORK PUBLIC LIBRARY (2017). Genauso wichtig sind jedoch die Filme, die sich Orten und Gemeinschaften widmen. Sein neuester Film MONROVIA, INDIANA gehört zu diesem Strang und knüpft an frühere Arbeiten wie Belfast, Maine (1999) oder In Jackson Heights (2016) an. Hier zeigt uns Wiseman das Leben in der Kleinstadt Monrovia im Mittleren Westen. Es ist ein trügerisch ruhiger Film, der jedoch ein komplexes und vielschichtiges Bild der ländlichen USA vermittelt. Donald Trump wird dabei mit keinem Wort erwähnt und trotzdem schwingt seine Präsidentschaft immer mit. Vor allem jedoch zeigt der Film, wie immens groß die Bedeutung der ländlichen USA für das Selbstverständnis des Landes ist.

DAWSON CITY: FROZEN TIME (Bill Morrison, USA 2017, 21.1., zu Gast: Bill Morrison) Die Geschichte des Films am Ende der Welt: Dawson City liegt weit im Nordwesten Kanadas und war zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Zentrum eines gigantischen Goldrausches. Tausende von Goldgräbern zog es dorthin. Bald eröffnete auch ein Kino. Da die Stadt am absoluten Ende der Verwertungskette stand, wurden die Nitrokopien selten zurückgeschickt und blieben liegen. Viele wurden im Fluss entsorgt, andere vergraben und vergessen. 1978 wurde dieser Schatz wiederentdeckt, und Bill Morrison erzählt in seinem neuesten Film nicht nur von diesen Filmen, sondern auch von der bizarren Geschichte der Stadt und seiner Einwohner. DAWSON CITY: FROZEN TIME erinnert uns, wie viele Filme verloren gingen (und wie viel es noch zu entdecken gibt) und dass der Blick von der Peripherie genauso spannend ist wie der aus dem Zentrum heraus. (hb)

Unknown Pleasures #10 wurde von Hannes Brühwiler kuratiert. Weitere Informationen unter www.unknownpleasures.de.

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