Die gezeigten Filme sind teilweise aus unserer eigenen Sammlung, gehörte es doch zur Politik des Arsenal, die eigens für das Festival deutsch untertitelten Kopien in den Verleih zu übernehmen und sie einem breiten Publikum auch außerhalb des Festivalkontextes zugänglich zu machen. Viele andere dieser höchst selten gezeigten Filme konnten wir in verschiedenen Archiven auf der ganzen Welt lokalisieren, wobei die Problematik der Überlieferung von Filmen jenseits des Mainstreams deutlich wird: Nicht wenige sind leider nur in schlechten Kopien verfügbar. Vier Filme können mangels auffindbarer Kopien oder aus rechtlichen Gründen zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht aufgeführt werden: No pincha (Tobias Engel, René Lefort, Gilbert Igel, Frankreich 1970), Argentina, mayo 1969 (Regiekollektiv Realizadores del Mayo, Argentinien 1969), Purple Pütt (Claudio Hofmann, BRD 1971) und Olimpia agli amici (Adriano Aprà, Italien 1970). LEAVE ME ALONE von Gerhard Theuring wird vom Harun Farocki Institut präsentiert.
LE COCHON (Das Schwein, Jean Eustache, Jean-Michel Barjol, F 1971, 4. & 12.3., Einführung: Peter Nau) wurde an einem Tag gefilmt und zeigt die traditionelle Schlachtung und Verarbeitung eines Schweins auf einem Bauernhof in den Cevennen. Der Film beginnt mit der Tötung des Tiers in der Morgendämmerung und endet mit bei Rotwein und Gesang feiernden Bauern bei Einbruch der Nacht. Dazwischen liegt die minutiös festgehaltene und mit kindlicher Neugierde aufgenommene Verwandlung eines Schweins in Wurst. Der unkommentierte Schwarzweißfilm ohne Dialog ist keine Anprangerung menschlicher Brutalität gegenüber Tieren, sondern der Versuch – ausgehend von der Idee: „Man soll in ein Ereignis nicht etwas anderes hineinlegen, einzig das, was es selbst sagt“ (Jean Eustache) – einen Dokumentarfilm zu drehen, der keine vordergründig moralische, soziologische oder politische Interpretationen provoziert.
THE MOON AND THE SLEDGEHAMMER (Philip Trevelyan, GB 1971, 4.3., Einführung: James Lattimer & 12.3.) Im Wald hinter der Hauptstraße liegt eine andere Welt. Hier wohnt die Familie Page, deren verschmitzter Vater das Publikum gleich zu Beginn des Films begrüßt. Man schaut ihm und seinen erwachsenen Kindern im Alltag zu, es spielt sich alles im dunklen Haus inmitten der Bäume und in den umliegenden Lichtungen ab. Der Vater schießt gerne und weiß über alles Bescheid, der eine Sohn interessiert sich für Dampfloks, der andere für Mechanik, die Töchter kümmern sich um Garten und Haushalt. Bei Gelegenheit sprechen alle mit der Kamera, es geht um die Zukunft des Benzins, familiäre Frustrationen, die Probleme Englands, darum, wie der Mond durch ein Teleskop aussieht. Oft schweift die Kamera auch ab, zeigt Werkzeuge, Blumen, Tiere, das Licht durch die Blätter, Öl- und Bluttropfen, während das Klavier vor dem Haus und die Orgel darin für Musik sorgen. Seit seiner Uraufführung beim ersten Forum erlangte dieses sanft-eigenwillige Familienporträt Kultstatus. Heute wirkt es wie eine Zeitkapsel, die die auch damals bereits bedrohte Mundart, Lebensweise und Natur Südenglands archiviert. (jl)
SIERRA DE TERUEL / ESPOIR (André Malraux, Spanien/F 1939/45, 5. & 8.3.) „Ein lange nur in der ‚Zweitfassung‘ zugängliches Hauptwerk des spanischen wie des antifaschistischen Kinos: SIERRA DE TERUEL, Malraux’ einzige Regiearbeit, wurde großteils von der republikanischen Regierung finanziert und hatte eine abenteuerliche Entstehungsgeschichte: Die Urfassung wurde erst nach der Niederlage gegen die Franquisten 1939 fertiggestellt und auch noch privat vorgeführt, dann galt sie jahrzehntelang als verschollen – überlebt hatte nur eine Kopie in Frankreich, die (in bearbeiteter Version) als "Espoir" das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Für Dekaden war Malraux’ Film nur in dieser Form zu sehen, bis die Urfassung in der Library of Congress wiederendeckt und restauriert wurde. In dokumentarischem Stil wird der entschlossene Kampf gegen die Franco-Truppen anhand einer einzelnen Episode geschildert: Um die Übermacht aufzuhalten, soll ein Kommando eine Brücke sprengen und verbündet sich dabei mit dem Volk.“ (Christoph Huber)
LA VIE EST À NOUS (Das Leben gehört uns, Jean Renoir, Frankreich 1936, 6.3.) Ein Titel zu Beginn vermerkt: „Ein Film, gemeinschaftlich von einer Gruppe von Technikern, Künstlern und Arbeitern gedreht“. Bei diesem kollektiven Unterfangen übernahm Jean Renoir die Oberaufsicht, ein Ausdruck seines Engagements für die Volksfront. Der Film, eine Auftragsarbeit für die Kommunistische Partei aus Anlass des Wahlkampfs, zeigt die politischen Spannungen angesichts des Erstarkens des Faschismus in Europa sowie den großen Optimismus, der Frankreich 1936 erfasste. „Das rare Beispiel eines ehrlichen Propagandafilms. Er lebt vom betonten Unterschied zwischen fiktiven und dokumentarischen Bildern. Mehr als das ganze politische Fernsehen heute, lässt er dem Zuschauer die Möglichkeit, sein Maß an Ideologie zu erkennen und zu reflektieren.“ (Frieda Grafe, 1978)
YAN DIGA (Serge-Henri Moati, Niger/F 1968–70, 7.3.) Der erste in der Haussa-Sprache gedrehte Spielfilm erzählt von drei jungen Männern aus einem kleinen Dorf in Niger, die sich auf Wanderschaft nach Abidjan, der „goldenen Stadt am Meer“, Hauptstadt der Elfenbeinküste begeben. Die zahlreichen Etappen des langen Marschs durch die Steppe bilden die Stationen eines Entwicklungsprozesses. Die drei begegnen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, der abenteuerliche Weg wird zur Bildungsreise, zur bewusstseinserweiternden Wanderung, zum Lernprozess. „Die epische Selbstsicherheit, mit der hier Zeit und Raum angehalten werden (und nicht verkürzt), beunruhigt unsere dressierte Zeitempfindlichkeit, verlangt Geduld, um der Fremde nicht als Exotik (zu der sie von uns selbst gemacht wurde), sondern als das andere Leben standzuhalten.“ (Wolfram Schütte)
L’ÂGE D’OR (Das goldene Zeitalter, Luis Buñuel, F 1930, 8.3., Einführung: Erika Gregor & 13.3.) Buñuels zweiter Film ist eine Attacke auf Konventionen, die Kirche und den guten Geschmack des Bürgertums und spinnt mit einer Traumlogik Motive, Metaphern und Symbole zu einem dichten Netz. „L’ÂGE D’OR ist der einzige Film meiner Karriere, den ich in einem Zustand von Euphorie, Enthusiasmus und Zerstörungsrausch drehte, in dem ich die Vertreter der ,Ordnung‘ angreifen und ihre ,ewigen‘ Prinzipien lächerlich machen wollte; mit diesem Film wollte ich absichtlich einen Skandal herbeiführen. Die Begeisterung, von der ich damals besessen war, habe ich seither niemals wieder gefunden, ebenso wenig wie die Gelegenheit, mich noch einmal in so vollkommener Freiheit ausdrücken zu können.“ (Luis Buñuel)
FESTIVAL PANAFRICAIN D’ALGER (William Klein, F/Algerien 1969, 8.3.) Das Festival panafricain d’Alger war neben der FESTAC 1977 in Lagos die wichtigste Musik- und Kulturveranstaltung in der Geschichte des postkolonialen Afrikas im 20. Jahrhundert. Sieben Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft Frankreichs in Algerien sollte das Festival die panafrikanische Bewegung feiern, mit Musikauftritten, Konferenzen, Ausstellungen, Theateraufführungen und Filmprojektionen. 40 Tage lang dauerte diese einzigartige, sich auf die ganze Stadt Algier erstreckende Veranstaltung, bei der Künstler*innen wie Miriam Makeba, Archie Shepp und Nina Simone auftraten. Im Auftrag der algerischen Regierung und unter Koordination von William Klein dokumentierten eine Vielzahl von Filmschaffenden die vielen Facetten dieses Ereignisses. Das finale Arrangement korrespondiert mit dem immensen Inhaltsreichtum des Festivals, indem Klein eine assoziative essayistische Filmstruktur wählt und mit zahlreichen Medien arbeitet: Postern, Fotografien, Zeichnungen, diskursiven Redebeiträgen, Interviews und Archivaufnahmen.
GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND (Ula Stöckl, Edgar Reitz, BRD 1971, 9.3.) Stets in rotem Kleid und rot bestrumpft, sieht es sich alles neugierig an, fragt immer etwas zu viel und nimmt sich, was es begehrt: das Kübelkind (Kristine de Loup), eine anarchisch-außersoziale Kunstfigur, die unfreiwillig gegen die verengten gesellschaftlichen Verhältnisse kämpft – aus einer Plazenta gewachsen und in einer Krankenhausmülltonne entdeckt –, soll an Pflegeeltern vermittelt und in die Gesellschaft integriert werden, in die Schule und in die Kirche gehen. Ula Stöckl und Edgar Reitz drehten die Geschichten vom Kübelkind ausschließlich mit Freund*innen. Heraus kam eine Serie von 22 unterschiedlich langen 16-mm-Kurzfilmen, mit der sie sich radikal außerhalb des Systems Kino positionierten. Der erste Aufführungsort war ein Münchner Kabarett-Theater, welches nach der regulären Vorführung zum „Kneipenkino“ umfunktioniert wurde, wo sich die Gäste einzelne Kübelkind-Folgen anhand einer Menükarte bestellen konnten.
LA SALAMANDRE (Alain Tanner, Schweiz 1971, 9. & 19.3.) War es ein Unfall oder ein Mordversuch? Rosemonde (Bulle Ogier), eine junge Frau, die sich mit Jobs über Wasser hält, soll auf ihren Onkel geschossen haben. Sie selbst bestreitet diese Beschuldigung und behauptet, der Onkel habe sich beim Reinigen des Gewehrs selbst verletzt. Das Fernsehen beauftragt den Journalisten Pierre, den Fall zu einem Drehbuch zu verarbeiten. Sein Freund Paul, ein Schriftsteller, der gerade auf dem Bau arbeitet, soll ihn dabei unterstützen. Jeder macht sich auf seine Weise – mittels akribischer Investigation der eine, mit blühender Imagination der andere – an die Wahrheitsfindung. Doch beide scheitern, denn Rosemonde erweist sich als impulsiv, rebellisch und unfassbar. Sie agiert wie eine unerschrockene Anarchistin, läuft weg, wo es ihr nicht passt und lässt sich nicht vereinnahmen. „Die definitive Inkarnation des Freiheitsbegriffes nach 1968“. (Frédéric Bas)
BANANERA LIBERTAD (Peter von Gunten, CH 1971, 10.3.) Peter von Guntens Film, eine Pioniertat des „engagierten entwicklungspolitischen Films“ (Hans Helmut Prinzler), wurde in Paraguay, Peru und Guatemala gedreht. Er beleuchtet das Elend der verarmten und unterprivilegierten Bevölkerung in Lateinamerika, porträtiert das Leben und die Ausbeutung von Bauern, Bergwerkarbeitern und Arbeitern in Bananenplantagen. Gleichzeitig strebt er danach, den Zusammenhang zwischen dem Elend der Dritten Welt und dem Wohlstand der westlichen Industrienationen sichtbar zu machen, insbesondere anhand des titelgebenden Bananenhandels. Der Film erregte seinerzeit große -Aufmerksamkeit, lief über Jahre hinweg im Programm von Filmclubs wie auch politischen Organisationen und wurde allein in der Schweiz von über 200.000 Zuschauern gesehen.
Ein Programm am 11.3. zeigt zwei halblange Filme aus Italien, die sich mit den Bedingungen des Lebens und Arbeitens auf dem Land befassen: D NON DIVERSI GIORNI SI PENSA SPLENDESSERO ALLE PRIME ORIGINI DEL NASCENTE MONDO o CHE AVESSERO TEMPERATURE DIVERSA (D Nicht anders können die Tage geglänzt, nicht weniger Wärme gespendet haben als am Anfang, am Geburtsfest der Welt, Guido Lombardi, Anna Lajolo, Italien 1970, 11.3.) verbindet traumhafte Bilder mit der Realität des Landlebens und Gedanken zur Entfremdung im Kapitalismus. „D nimmt seinen Ursprung bei der gegenseitigen Durchdringung der Irrealität und der Realität: Dies ist die Basis einer weiteren zukünftigen Realität, die der Film sucht und ausführt als Sprache der Phantasie und des politischen Stellenwerts. Die Schauplätze, Orte und Objekte einer langen stummen Gewalt sind die Dörfer des östlichen Liguriens, wo ‚die Welt der Bäume und Tiere‘ im Aussterben ist, um der ‚Autobahn‘ Platz zu machen. Die Fragmente des ersten und zweiten Buches der ‚Georgica‘ des Vergil, die der alte Bauer spricht, sind ein soziales und philologisches Sediment, von dem die kritische Beschreibung der Gegenwart ihren Ausgang nimmt im Kontrast zu der Beschreibung einer ausgewogenen Welt, wie es die Vergils war.“ (Guido Lombardi)
LA MEMORIA DI KUNZ OVVERO UN VIAGGIO NEL SOTTOSVILUPPO DELLE FELICE INTUIZIONI (Die Erinnerung an Kunz oder eine Reise in die Unterentwicklung glücklicher Intuitionen, Ivo Barnabò Micheli, Italien 1970, 11.3.) Der dokumentarische Spielfilm, zum größten Teil mit Laiendarstellern besetzt, erzählt eindringlich von einer Südtiroler Bergbauernfamilie. Ein Besuch in der Stadt beim Sohn und Bruder Kunz, der in einer Nervenheilanstalt lebt, wird zur Reflexion über Bedingungen und Möglichkeiten des Erinnerns, des Gegensatzes von ländlichem und städtischem Leben und der Beziehung zwischen deutsch- und italienischsprachiger Bevölkerung.
LA BATAILLE DES DIX MILLIONS (Die Schlacht der zehn Millionen, Chris Marker, F/Kuba 1970, 14.3.) Mit der „Schlacht“ ist die „zafra“, die Zuckerrohrernte auf Kuba, gemeint. Fidel Castro hatte 1970 ein Produktionssoll von zehn Millionen Tonnen Zucker festgesetzt: eine enorme Menge – bis dahin lag der Rekord bei sieben Millionen – aber unentbehrlich für einen wirtschaftlichen Aufschwung Kubas im Hinblick auf die Devisenerlöse des Zuckers im Ausland. LA BATAILLE DES DIX MILLIONS ist ein Kompilationsfilm, der von Chris Marker aus Wochenschauen des kubanischen Filminstituts ICAIC zusammengestellt wurde. Höhepunkt ist die selbstkritische Rede Fidel Castros am 26.7.1970, in der er das Scheitern der Kampagne einräumt – und, wie bei seinen Reden üblich, ständig die Position der Mikrofone vor sich verstellt.
MÉXICO, LA REVOLUCIÓN CONGELADA (Mexico, the Frozen Revolution, Raymundo Gleyzer, Argentinien/USA 1970, 14.3.) ist eine Bestandaufnahme der Mexikanischen Revolution 1910–1919, die für die Lebensbedingungen der armen und bäuerlichen Bevölkerung kaum eine Verbes-serung brachte. Die genaue politische Analyse einer Revolution, die in einer Partei „institutionalisiert“ wurde, verbindet sich mit Archivaufnahmen unter anderem von Emiliano Zapata und Pancho Villa sowie Interviews mit ihren Weggefährten. Einblendungen in die blutige Repression der Studentendemonstration kurz vor den Olympischen Spielen 1968 (400 Tote) bilden die erschütternde Bestätigung für Mexikos „eingefrorene Revolution“. Der Film lief nach der Aufführung im Forum auch bei den Festivals von Cannes und Locarno, wo er mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde.
ICH LIEBE DICH, ICH TÖTE DICH (Uwe Brandner, BRD 1971, 15.3.) Der 2018 verstorbene Uwe Brandner war (Film-)Musiker, Schriftsteller, Kulturschaffender, Mitgründer des Filmverlags der Autoren und ein eigenständiger Filmemacher, der eine Wiederentdeckung verdient hat. Seine Regiekarriere währte nur von 1969 bis 1977 und weist einen einzigen originären Kinofilm auf: ICH LIEBE DICH, ICH TÖTE DICH, den Brandner als „eine Bildergeschichte aus der Heimat“ beschrieben hat. Ein junger Lehrer kommt in ein abgelegenes Dorf im bayerischen Altmühltal. Dort haben reiche Herren am Rande der Wildnis ein Jagdrevier für sich geschaffen. Die Freundschaft mit dem örtlichen Jagdaufseher entwickelt sich zu einem Liebesverhältnis, welches das Ende des fragilen Idylls einläutet.
UMANO NON UMANO (Human Not Human, Mario Schifano, Italien 1969, 17.3.) Als Maler und Collagenkünstler schon in jungen Jahren berühmt geworden und zu einem Hauptvertreter der italienischen Postmoderne avanciert, war Mario Schifano Zeit seines Lebens auch Filmemacher. Seine ab 1964 entstandenen Werke waren – wie die fast aller italienischen Avantgarderegisseure der Zeit – maßgeblich vom US-amerikanischen Experimentalfilm beeinflusst. Ende der 60er Jahre realisierte er eine aus drei Langfilmen bestehende Filmtrilogie im Geiste der Pop-Art, deren Mittelteil, UMANO NON UMANO, immer noch einen legendären Ruf genießt: eine pulsierende, vollkommen unvorhersehbare und im besten Sinne eklektische Collage aus einem schillernden Rom, wo Schifano eine ähnlich zentrale Figur war wie zeitgleich Andy Warhol in New York. Mick Jagger und Anita Pallenberg treten auf, demonstrierende Studenten, Alberto Moravia und Adriano Aprà reflektieren über kunstphilosophische Fragen, Dichter und Weggefährten wie Carmelo Bene erfüllen die Leinwand mit ihrer Präsenz.
VOTO MÁS FUSIL (Stimmzettel und Gewehr, Helvio Soto, Chile 1970, 18.3., Einführung: Cristina Nord) Der Film, nach dem Wahlsieg Salvador Allendes 1970 entstanden, reflektiert die historische Entwicklung der chilenischen Linken von 1935 bis 1970. Beschrieben wird das Bewusstsein eines Sozialisten in den letzten Tagen vor den Wahlen am 4. November 1970 und wie politische Ereignisse darin registriert und verarbeitet werden: Erinnerungen an die „Brigade Lenin“ (1937), vor allem aber die Konspirationen der Rechten zum Zusammenbruch der Wirtschaft und damit der Regierung sowie die Ermordung von General Schneider, des Oberkommandierenden der chilenischen Armee, am 24. Oktober 1970.
LA BANDERA QUE LEVANTAMOS (Die Fahne, die wir erheben, Mario Jacob, Eduardo Terra, Uruguay 1971, 18.3.) Aus verschiedenen politischen Bereichen formierte sich im Wahljahr 1971 eine Linkskoalition in Uruguay. Im März fand eine Massenkundgebung statt, an der 100.000 Personen teilnahmen und auf der sich der Präsidentschaftskandidat der Linken, Liber Seregni, vorstellte. Die Regisseure nutzten dieses Ereignis und die Rede von Liber Seregni als Ausgangsmaterial, um die soziale und politische Wirklichkeit Uruguays zu analysieren.
LETTERA APERTA A UN GIORNALE DELLA SERA (Offener Brief an eine Abendzeitung, Francesco Maselli, Italien 1970, 20.3.) Eine Gruppe intellektueller Marxisten beantwortet den Appell einer Abendzeitung mit einem offenen Brief, in dem sie vorschlagen, an der Spitze einer Delegation in den Krieg nach Vietnam zu ziehen. Der Brief soll provozieren, keiner der Unterzeichner glaubt im Ernst daran, dass er veröffentlicht wird. Als aus ganz Europa aber Zustimmung und Interesse bekundet werden und sogar die vietnamesische Partei, die zuvor sowjetische und chinesische Freiwillige abgelehnt hatte, den Vorschlag akzeptiert, bekommt die Gruppe ein Problem. Die Diskussionen um die richtige Verhaltensweise gipfeln in Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten.
SCHESTAJA TSCHASTJ MIRA (Ein Sechstel der Erde, Dsiga Wertow, UdSSR 1926, 21.3., Einführung: Ulrich Gregor, am Klavier: Eunice Martins) „Der Film sollte eine Hymne an die Heimat sein. Seine visuelle Struktur wies viele Ähnlichkeiten auf mit den Gedichten der von Wertow bevorzugten Autoren: Whitman und Majakowski. Er umfasste sechs Teile. Der erste zeigte die kapitalistische Welt: sich vergnügende Bourgeois, ausgebeutete Arbeiter. Der zweite beschrieb das Leben der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten der UdSSR. Der dritte führte den Reichtum, Besitz der Arbeiter und Bauern vor, von Moskau bis zur chinesischen Grenze, von Matotschkin-Char bis Buchara. Repräsentanten der verschiedenen Berufe wurden dem Zuschauer vorgestellt. Der Film sprach von der Jagd, der Viehzucht, der Landwirtschaft, der Industrie, von Produkten, die für den Export bestimmt waren. Mit diesen letzteren speziell befasste sich der vierte Teil. Der fünfte beschäftigte sich mit dem staatlichen Handel, der für die Völker, die hinter der sozialistischen Entwicklung zurückgeblieben waren, von Interesse war. (…) Der sechste und letzte Teil zeigte das Verschwinden der alten Formen des Lebens und der Ökonomie.“ (N.P. Abramov, Forumsblatt 1971)
Ein Programm aus vier kurzen Filmen am 22.3. widmet sich Widerstandsbewegungen und Arbeiterkämpfen in Chile und dem Protest gegen den Vietnamkrieg in den USA. NUTUAYIN MAPU, RECUPEREMOS NUESTRA TIERRA (Wir holen unser Land zurück, Carlos Flores, Guillermo Cahn, Chile 1971, 22.3.) Ein Film über die indigenen Mapuche in Chile und ihren Kampf um das Land, das ihnen von den spanischen Eroberern gestohlen wurde, bestehend aus Liedern, suggestiven Bildern des Widerstands und Anklagen an die ungerechte Justiz.
SANTA MARÍA DE IQUIQUE (Claudio Sapiaín, Chile 1969, 22.3.) 1907 traten Minenarbeiter der Salpeterwerke in Iquique in einen Streik, um gegen die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen zu protestieren. Die chilenische Armee schlug den Streik brutal nieder und erschoss 3.600 Menschen. Die Rekonstruktion und Erinnerung an das Massaker versammelt Materialien zu den Vorkommnissen, Augenzeugenberichte und Volkslieder.
WINTER SOLDIER 71 (Ken Hamblin, USA 1971, 22.3.) ist ein beobachtender Dokumentarfilm über eine öffentliche Anhörung von ehemaligen Soldaten des Vietnamkriegs, die von Gräueltaten der amerikanischen Truppen und Verbrechen an der vietnamesischen Zivilbevölkerung berichten.
THE SCHIZOPHRENIA OF WORKING FOR WAR (Leonard M. Henny, USA 1971, 22.3.) zeigt das Dilemma von Ingenieuren, die an der Entwicklung von Waffen und Kriegsmaterial beteiligt sind, obwohl sie sich als Kriegsgegner verstehen.
JAMES OU PAS (James oder nicht, Michel Soutter, Schweiz 1970, 25. & 29.3.) „Die Geschichte von JAMES OU PAS lässt sich nicht nacherzählen, ihre einzelnen Szenen stehen in lockerem skurrilem Zusammenhang, der Film ist eine eigenwillige Kriminalfarce und doch wieder nicht, denn zwei Schüsse und ein toter Mann und der Auftritt zweier merkwürdiger Kriminalbeamter bilden nur die Basis, das Gerüst des Films. Wichtiger sind hier die Typen: Eva, die an den Wochenenden aus Zürich an den Genfer See gereist kommt, um dort den vermögenden, doch sehr isolierten James mit einem Mindestmaß an zwischenmenschlichen Kontakten zu versorgen, und Hector, ein kauziger Taxifahrer, der sich freut, wenn sein Beruf den Leuten irgendeinen Nutzen bringt, und dann gern einmal die Taxiuhr abschaltet. Die ulkigen, manchmal melancholischen Dialoge, die fein auskalkulierten Einstellungsfolgen und ein paar sehr schöne Autofahrten zur Musik von Chopin machen JAMES OU PAS zu einem sanften, unaufdringlichen, sehr intelligenten Film.“ (Arndt F. Schirmer)
TROPICI (Tropen, Gianni Amico, Italien 1968, 26. & 31.3.) „TROPICI erzählt zunächst einfach die Geschichte einer jungen Familie aus dem brasilianischen Nordosten, die ihr Haus verlässt, weil sie keine Arbeit mehr finden kann. Sie nehmen das wenige mit, das sie besitzen, und ziehen unter großen Mühen und Entbehrungen durch den kargen, trostlosen Busch. Sie wollen zur südlichen Küste, nach Recife und später nach São Paulo, um dort Arbeit zu finden. (…) So wirkt TROPICI unmittelbarer und brisanter, als ein Film mit erklärten sozialkritischen Intentionen es vermöchte. Man sieht, was ist, und das genügt, weil hier die Wahrheit durch die Beschränkung auf ihr Bild, dessen Bedeutung deutlich ist und doch nicht ablösbar, zu ihrem eigentlichen Recht kommt: Wahrheit zu sein und nicht mehr.“ (Siegfried Schober, Forumsblatt 1971) „Die Absicht des Films ist, ein umfassendes und tatsächliches Bild des Lebens, der ökonomischen Bedingungen und der politischen Situation eines Landes der Dritten Welt zu geben.“ (Amico)
NA BOCA DA NOITE (Im Abgrund der Nacht, Walter Lima Jr., Brasilien 1971, 27.3.) Der Film beginnt emblematisch mit Aufnahmen einiger Gemälde von René Magritte: Der kleine Mann mit Melone, dutzendfach im Bild gestapelt und in anonymer Rückenansicht. Eine gesichtslose Kälte, die auch die Innenräume einer Bank in einer brasilianischen Großstadt prägt. Der Bankangestellte Victor Hugo hat dort schon viele Jahre seines Lebens ereignislos verbracht und will seinem öden Dasein nun ein Ende setzen: Er bleibt abends unter einem Vorwand im Büro zurück, um den Safe der Bank auszurauben, stellt aber fest, dass auch ein Putzmann sich noch im Gebäude befindet. Zwischen den beiden entbrennt ein sozialer Zweikampf, der als intensives dialogisches Kammerspiel inszeniert wird. Walter Lima Jr., ehemals Assistent von Glauber Rocha, bevor er 1965 als Regisseur debütierte, hatte 1969 einen Silbernen Bären für Brasil Ano 2000 erhalten, einen Film, der nach dem Ende des Dritten Weltkriegs spielt. Die Verlassenheit der zwei Hauptfiguren von NA BOCA DA NOITE kommt einem apokalyptischen Zustand erschreckend nahe. Wir zeigen dieses seit vielen Jahren nicht mehr wiederaufgeführte Werk in einer 16-mm-Kopie, dem Originalformat des Films, aus dem Archiv des Museums für Moderne Kunst in Rio de Janeiro.
WECHMA (Spuren, Hamid Benani, Marokko 1970, 28.3.) Mit acht Jahren wird der Waisenjunge Messaoud von einem kinderlosen Bauern adoptiert. Der Ziehvater diszipliniert das sanfte Kind mit extremer Strenge, gegen die der traumatisierte Heranwachsende zunehmend rebelliert. Als junger Mann lässt sich Messaoud mit gewalttätigen Taugenichtsen ein und führt ein Leben am Abgrund. „Der vor allem im zweiten Teil experimentelle Spielfilm, der konventionelle Erzählstrukturen aufbricht und Naturalismus jäh mit freudianischer Symbolik und nachgerade fantastischen Sequenzen konterkariert, markiert eine Zäsur im marokkanischen Kino.“ (Christoph Terhechte)
LE WAZZOU POLYGAME (The Polygamist’s Moral, Oumarou Ganda, Niger/F 1971, 28.3.) Der nigrische Regisseur Oumarou Ganda, der durch Jean Rouch zum Kino kam, ist eine der zentralen Figuren des afrikanischen Kinos der späten 60er und 70er Jahre. Neben seinem Erstlingswerk Cabascabo ist LE WAZZOU POLYGAME sein wohl bekanntester Film, den wir in einer sehr seltenen 16-mm-Kopie zeigen können. Der mutige Film prangert eine für ein muslimisches Land selbstverständliche Tradition an: die Vielehe, die oftmals mit Zwangsverheiratung einhergeht. Aus Mekka zurückgekehrt, verliebt sich der gläubige Muslim El Hadji in Satou, eine Freundin seiner Tochter. Obwohl sie bereits einem anderen Mann namens Garba versprochen war, findet die Hochzeit statt, doch die beiden Frauen El Hadjis wollen sich nicht mit der Jüngeren abfinden. „Was LE WAZZOU POLYGAME anbelangt, so war ich selbst Zeuge des von mir geschilderten Geschehens. Dabei ist mir bewusst geworden, dass die Polygamie ein zentrales Problem ist, und dass man dieses Problem aufgreifen muss, auch wenn manche Leute dagegen sind. Damit man dieses Problem sieht und vielleicht einen Frontalangriff unternehmen kann.” (Oumarou Ganda)