Ein Spezialprogramm zeigt die Regiearbeiten von Elaine May. Zwischen 1971 und 1987 inszenierte sie vier Filme – A NEW LEAF (USA 1971), THE HEARTBREAK KID (USA 1972), MIKEY AND NICKY (USA 1976) und ISHTAR (USA 1987) –, Arbeiten, die zu den schönsten (New) Hollywood-Produktionen dieser Jahre gehören und die in ihrer Lust an Regelverstößen und dem Aufbrechen und der Demontage von Rollenklischees geradezu perfekt zu den restlichen Filmen passen. May begann ihre Karriere zusammen mit Mike Nichols als Comedy-Duo am Broadway. Es folgten anschließend diverse Filme, in denen sie als Schauspielerin zu sehen war. 1971 inszenierte sie mit der Komödie A NEW LEAF ihren ersten Film und war damit seit Ida Lupino (!) die erste Frau, die von einem Studio einen umfassenden Regievertrag erhielt. Ihre Karriere verlief jedoch alles andere als geradlinig und als Frau in Hollywood sah sie sich stets mit sexistischen Vorurteilen konfrontiert. 1987 folgte mit ISHTAR ihr letzter Film als Spielfilmregisseurin. Ihr erzwungenes Ende als Regisseurin ist nicht nur ein großer Verlust für das Kino, sondern vor allem ein Skandal. Momentan soll Elaine May an einem neuen Film arbeiten.
GIVE ME LIBERTY (Kirill Mikhanovsky, USA 2019, 1. & 11.1.) Vic arbeit als Krankentransportfahrer in Milwaukee. Eines Tages geht alles schief: Nicht nur sitzt plötzlich seine halbe russische Verwandtschaft in seinem kleinen Bus, die gerne zu einer Beerdigung gefahren werden möchte, sondern es brechen auch Unruhen in der Stadt aus. Während er sich einen Weg durch diese angespannte Situation bahnt, verspätet er sich immer mehr und seine Fahrgäste werden zunehmend nervöser. Kirill Mikhanovsky wurde in Moskau geboren und zog als Jugendlicher mit seinen Eltern in die USA. In GIVE ME LIBERTY verarbeitet er seine eigenen Erfahrungen als Fahrer. Es ist eine Komödie, die sowohl Zuschauer*innen wie Protagonist*innen atemlos zurücklässt: Selten wurde das alltägliche kleine und große Chaos so virtuos gefilmt wie hier.
SWARM SEASON (Sarah J. Christman, USA 2019, 2. & 6.1.) Die zehnjährige Manu züchtet zusammen mit ihrer Mutter Bienen, ihr Vater kämpft gegen den Bau eines neuen Teleskops und nicht weit davon entfernt trainieren NASA-Wissenschaftler*innen für das Leben auf dem Mars. Und über allem erstreckt sich der klare Sternenhimmel Hawaiis. Sarah J. Christmans essayistischer Debütfilm verknüpft die abstrakte Dimension des Universums mit dem nicht minder rätselhaften Reich der Bienen – das Ausufernde trifft auf das Intime. In einer betörenden Bild- und Toncollage nähert sich Christman nicht nur unendlichen Weiten, sondern nimmt eine historische Perspektive ein, in der die Zeit und die daraus entstehenden Veränderungen zu entscheidenden Fragen werden.
SORRY TO BOTHER YOU (Boots Riley, USA 2018, 2. & 7.1.) Oakland in Kalifornien, irgendwann in einer alternativen Realität: Cassius Green sucht Arbeit und findet einen Job in einem Callcenter. Der Anfang dort gestaltet sich für den jungen Afroamerikaner schwierig, doch als er beginnt eine „weiße“ Stimme zu imitieren, läuft der Verkauf plötzlich gut. Während er immer erfolgreicher wird, organisieren seine Freunde Proteste gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und Unterdrückung. „Weder biedert sich dieser handgemachte Film an, noch gibt er sich distanziert, sondern er zeigt den Mittelfinger. Und auch wenn die Geste etwas nervt, so ist sie doch auch ehrlich: Schließlich bedeutet Satire, sich nie entschuldigen zu müssen.“ (Adam Nayman)
HAM ON RYE (Tyler Taormina, USA 2019, 3.1.) Schülerinnen und Schüler ziehen ihre schönsten Kleider an, sie sind nervös. Man sagt, dies sei ihr wichtigster Tag. Und so brechen sie auf, gehen durch die Straßen der Stadt und scheinen auf einen Punkt zuzusteuern. Im örtlichen Feinkostladen treffen sie sich schließlich, man isst noch etwas, trinkt und dann beginnt ein bizarrer, als Musical inszenierter Initiationsritus. Einige verschwinden anschließend aus der Vorstadt, andere sind verdammt zu bleiben. Tyler Taorminas nur auf den ersten Blick verträumtes Regiedebüt HAM ON RYE erscheint zuweilen wie aus einer Parallelwelt, die sich jedoch in ihrer weirdness sehr vertraut anfühlt.
HER SMELL (Alex Ross Perry, USA 2018, 4. & 12.1.) Becky Something ist Sängerin und treibende Kraft der 90er-Jahre-Punkband „Something She“. Sie ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und eigentlich kann es nun nur noch abwärts gehen. Als ihre Exzesse während einer Tour zum Absturz führen, sieht sie sich mit der Vergangenheit konfrontiert und versucht ihre Band wieder zum Erfolg zu führen. Elisabeth Moss als Becky in ihrer dritten Zusammenarbeit mit Alex Ross Perry ist das Zentrum dieses wilden Films und ihre Performance eine Tour de Force wie man sie schon lange nicht mehr im Kino gesehen hat. „Moss entfernt jede Spur ihres Charmes und enthüllt so ihr Charisma in rohestem Zustand, verwickelt den Regisseur und das Publikum damit in einen Voyeurismus, der sich fast heilig anfühlen kann.“ (A.O. Scott)
THE HOTTEST AUGUST (Brett Story, USA/Kanada 2019, 7. & 15.1.) August 2017 in New York. Die Hitze drückt auf die Stadt, der neue Präsident sorgt für eine angespannte Atmosphäre und im Fernsehen laufen Nachrichten über Waldbrände und Hurrikanes. Einen Monat lang erforscht die kanadische Filmemacherin Brett Story die Stadt und deren Vororte und befragt Menschen nach der erhofften Zukunft. THE HOTTEST AUGUST ist ein Frontbericht über eine Gesellschaft am Rande der gefühlten Katastrophe, die durch Anspannung zu zerreißen droht und in der die Frage des Überlebens plötzlich an Bedeutung gewinnt. „In allen meinen Projekten beschäftigt mich die Frage: Was sind die Fantasien, von denen wir nicht lassen können? Und an was glauben wir, nicht nur individuell, sondern im Kollektiv?“ (Brett Story)
EN EL SÉPTIMO DÍA (Jim McKay, USA 2018, 10.1.) José lebt illegal in New York und arbeitet als Essensauslieferer. In seiner Freizeit spielt er mit seinen mexikanischen Freunden leidenschaftlich Fußball. Ausgerechnet am Tag eines wichtigen Spiels zwingt ihn sein Chef zu arbeiten. In seiner rechtlosen Lage sucht er verzweifelt nach einem Ausweg. EN EL SÉPTIMO DÍA ist der lang-ersehnte neue Film von Jim McKay, der in den 90er Jahren mit einer Reihe von Filmen für Aufsehen sorgte und in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche Episoden für Serien wie The Wire, The Americans, Better Call Saul und Mr. Robot inszenierte.
A NEW LEAF (Elaine May, USA 1971, 5. & 11.1.) Henry Graham (Walter Matthau) hat sein gesamtes Erbe verbraten und benötigt nun dringend Geld. Sein Plan: eine reiche Witwe (gespielt von Elaine May) heiraten und sie dann ermorden. Elaine Mays Debüt A NEW LEAF ist ein „vernichtendes feministisches Psychodrama, das im Gewand einer freundlichen schwarzen Komödie daherkommt“ (J. Hoberman). Die Regisseurin musste von Beginn an mit zahlreichen Schwierigkeiten kämpfen: einem schwierigen Star, sexistischen Vorurteilen und einem neuen Studiomanagement, das ihr den Film während der Postproduktion wegnahm.
THE HEARTBREAK KID (Elaine May, USA 1972, 15. & 16.1.) Im Gegensatz zu A NEW LEAF verlief Elaine Mays zweiter Spielfilm, die Auftragsproduktion THE HEARTBREAK KID, unkompliziert. Der jüdische Sportartikelhändler Lenny Cantrow (Charles Grodin) heiratet Lila Kolodny (gespielt von Elaine Mays Tochter Jeannie Berlin) und voller Vorfreude brechen sie in die Flitterwochen auf. Doch kaum am Strand angekommen, lässt er sie links liegen und flirtet mit einer anderen Frau (Cybill Shepherd). THE HEARTBREAK KID ist wahrscheinlich der unbekannteste Film von May, der durchaus als Antwort auf The Graduate, den Film ihres früheren Broadway-Partners Mike Nichols, gelesen werden kann. Was als Komödie beginnt, entwickelt sich unter der Regie von May in eine präzise Analyse der Charakterzüge ihrer Protagonist*innen.
MIKEY AND NICKY (Elaine May, USA 1976, 3. & 16.1.) Im Vergleich mit ihren ersten beiden Filmen ist MIKEY AND NICKY viel düsterer. Der von John Cassavetes gespielte Nicky ist ein Gangster, der Geld von seinem Boss gestohlen hat und nun seinen Jugendfreund Mikey (Peter Falk) um Hilfe bittet. „Mays zentrales Thema ist die Unterwürfigkeit von Frauen und die Dummheit der Männer. Was MIKEY AND NICKY einzigartig unter den buddy movies macht, ist, dass hier die Männerfreundschaft durch die Augen ihrer Opfer gezeigt wird.“ (J. Hoberman) Das Studio wusste nicht, was sie mit diesem Meisterwerk anfangen sollten und warnte das Publikum vorsorglich vor den beiden Protagonisten: „Don’t expect to like them.“
ISHTAR (Elaine May, USA 1987, 4. & 10.1.) Elaine Mays vierter und bisher letzter Spielfilm wird immer noch als ausgesprochener Kassenflop rezipiert, wobei ganz übersehen wird, dass es einer der schönsten Hollywood-Filme der 80er Jahre ist. Zwei gänzlich untalentierte Musiker – gespielt von Warren Beatty und Dustin Hoffman – singen sich durch die Welt und landen schließlich in Nordafrika, wo sie Bekanntschaft mit der CIA und den Dummheiten der amerikanischen Außenpolitik machen. Im Rückblick stellte Elaine May fest: „If all of the people who hate ISHTAR had seen it, I would be a rich woman.“ (hb)
Unknown Pleasures #11 wurde von Hannes Brühwiler kuratiert. Weitere Informationen unter www.unknownpleasures.de.